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Archiv "Auch für psychisch Kranke: Patientnahe und gemeindenahe Versorgung" (05.03.1987)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Auch für psychisch _<ranke:

Patientnahe und

gemeindenahe Versorgung

E

inen Arzt am Wohnort aufzusu- chen, den Spezialisten in der nächstgelegenen Stadt zu finden, gilt für Kranke zumindestens hier- zulande als Selbstverständlichkeit.

Für seelisch Kranke trifft das aber keineswegs überall zu. Viele psychisch Kranke wohnen fern- ab vom praktizierenden Psychiater oder psychia- trischen Krankenhaus. Genauer muß umgekehrt formuliert werden: Praxis und Krankenhaus für Psychiatrie liegen in vielen Regionen nicht so patientnahe, wie es wünschenswert und auch möglich wäre.

Weite Wege zu einer ärztlichen Behandlung sind nicht nur lästig und aufwendig (Zeit und Geld für Patienten und Angehörige), sondern auch der Therapie abträglich. Das wurde für die psychiatrische Behandlung besonders deutlich, als von den 50er Jahren an neue Therapien ent- deckt und eingeführt wurden. Diese Möglich- keiten optimal zu nutzen, setzt eine patientnahe beziehungsweise gemeindenahe Versorgung voraus.

Bis dahin war die psychiatrische Versorgung weithin gemeindefern (abgelegene psychiatri- sche Krankenhäuser, niedergelassene Psychiater nur in größeren Orten). Diese Verhältnisse wa- ren nicht rein zufällig entstanden. Die stationäre Behandlung in abgelegenen Krankenhäusern geschah keineswegs nur in der Absicht, die Kranken auszugrenzen. Dahinter stand eine the-

rapeutische Überlegung: Die Krankheit würde besser ausheilen, wenn der Betroffene in einer fremden Umgebung bliebe.

Dieses Prinzip, das vorn Beginn des 19.

Jahrhunderts an zur Errichtung abgelegener psychiatrischer Krankenhäuser führte, war nie unumstritten und erweist sich in heutiger Sicht als Irrtum. Zwar hat sich herausgestellt, daß ein Zuviel an mitmenschlicher Nähe manchen Pa- tienten (insbesondere den schizophrenen Kran- ken) emotional überfordern und ungünstig auf seine Krankheit wirken kann. Die Konsequenz ist allerdings nicht Isolierung, sondern individu- elles Beraten und Führen des Kranken und sei- ner Angehörigen. Die soziale Kompetenz soll soweit wie möglich unter den gegebenen Le- bensbedingungen und so selten wie möglich un- ter Ho spitalisierungsverhältniss en verbessert werden. Ausgrenzung und Isolierung sind auch heute noch die häufigen und größeren Benach- teiligungen für den psychotisch Kranken.

Gemeindenahe Versorgung heißt: Der Pa- tient soll an seinem Wohnort fachliche Hilfe fin- den. Wo das realisiert wurde, zeigte sich alsbald, daß die bisherigen Behandlungsformen (Kran- kenhaus und Praxis) zwar Hauptträger der Be- handlung blieben, aber ergänzungsbedürftig wurden.

Gemeindenahe psychiatrische Versorgung führt sozusagen zwangsläufig zu einem breit ge- fächerten Behandlungsangebot. Der Grund liegt vor allem darin, daß es viele Patienten gibt, die zwar relativ schwer psychisch krank sind, aber doch nicht oder zumindest nicht auf Dauer der stationären Behandlung bedürfen. Sie können in ihrer Familie oder in einem Übergangshaus oder einer Wohngruppe leben, wenn sie intensiver betreut werden, als es durch ambulante Arztbe- suche allein möglich ist.

Daher wird das psychiatrische Angebot er- gänzt durch teilstationäre und komplementäre Dienste: Tagesklinik und Tagesstätte dienen der Behandlung und Betreuung. Werkstätten und andere Arbeitsmöglichkeiten sollen die beruf- liche Rehabilitation fördern. Übergangs- und Wohnheime helfen zur sozialen Eingliederung.

Patientenclubs und psychosoziale Zentren bie- ten Möglichkeiten der Kontaktfindung und Frei- zeitgestaltung. Mit dieser Zielrichtung hat der Deutsche Bundestag mit Zustimmung aller Fraktionen Ende 1985 ein „Gesetz zur Verbes- serung der ambulanten und teilstationären Ver- sorgung psychisch Kranker" beschlossen.

Wo solche Einrichtungen bestehen, können die möglichen Hilfen der medikamentösen, Psy- cho- und Soziotherapie weit effektiver einge- setzt werden als unter den herkömmlichen Ver-

Dt. Ärztebl. 84, Heft 10, 5. März 1987 (43) A-565

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sorgungsbedingungen. Das kommt besonders Patienten zugute, deren Psychosen zu einem chronischen oder wellenförmigen Verlauf nei- gen. Die Zeiten der Gesundheit oder des relati- ven Wohlbefindens werden länger, die Kran- kenhauseinweisungen seltener, die stationären Verweilzeiten kürzer. Die stationäre Behand- lung psychisch Kranker steht heute nicht mehr so im Vordergrund wie früher. Wenn man ande- re Versorgungsmöglichkeiten nutzt, braucht man weniger Krankenhausbetten. Vor 15 Jah- ren rechnete man noch mit 4 psychiatrischen Betten auf 1000 Einwohner, heute nur noch mit 1,0 bis 1,2.

Diese Verbesserung der psychiatrischen Be- handlung kann insbesondere dann erreicht wer- den, wenn neben den genannten ambulanten, teilstationären und komplementären Diensten auch die stationäre Behandlung am Ort angebo- ten wird. Deshalb wurden psychiatrische Abtei- lungen an Allgemeinkrankenhäusern eingerich- tet. Sie können einer Fehlentwicklung vorbeu- gen: Viele psychisch Kranke werden sonst in fachfremden Abteilungen behandelt.

Allerdings war bei der Einrichtung solcher Abteilungen oft weniger der psychiatrische Be- handlungsbedarf als die Auslastung des Kran- kenhauses bestimmend. Wäre letzteres der Leit- gedanke, dann wäre die Motivation nicht we- sentlich anders als bei der psychiatrischen Nut- zung von Klostergebäuden zu Beginn des vori- gen Jahrhunderts. Bedarfsgerecht muß die Be- messung der Bettenzahl in psychiatrischen Ab- teilungen auch deshalb sein, weil ein Überange- bot dazu führen kann, daß doch wieder psy- chisch Kranke hospitalisiert werden, die ambu- lant behandelt und betreut werden können.

Zudem ist bei gemeindenahen psychiatri- schen Krankenhausabteilungen darauf zu ach- ten, daß sie eine gewisse Größe (etwa 80-400 Betten zuzüglich Tagesklinik) aufweisen, um ei- ne differenzierte Unterbringung und Behand- lung durchführen zu können. Dazu gehört auch eine Station für Schwerstkranke und psychiatri- sche Intensivbehandlung.

Die psychiatrische Abteilung braucht keine große apparative Ausstattung, die Kosten für technische Diagnostik und für medikamentöse Behandlung sind vergleichsweise gering. Not- wendig ist aber eine sehr gute pefsonelle Beset- zung, ohne die eine humane und erfolgreiche psychiatrische Behandlung nicht möglich ist.

Einige Schwerpunkte der heutigen gemein- denahen psychiatrischen Behandlung sollen kurz angesprochen werden: In einer Zeit der Arbeitslosigkeit gelingt die berufliche Wieder- eingliederung der schwer psychisch Kranken auf

dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur selten. Um so mehr kommt es auf Beschäftigungs- und Ar- beitsmöglichkeiten außerhalb des eigentlichen Arbeitsmarktes an. In der Arbeitstherapie der Klinik oder Tagesklinik und in eigens geschaffe- nen Werkstätten kann sich mancher psychisch Kranke sinnvoll beschäftigen und überdies eine finanzielle Absicherung finden. Hierzu gehört ein breites Angebot, das neben handwerklichen Arbeiten zum Beispiel auch Büro- und Schreib- dienste sowie Organisationsaufgaben umfaßt Patientengruppen und Patientenclubs gibt es schon seit längerer Zeit. Die heutige Tendenz geht dahin, die Selbsthilfe dieser Gruppen zu akzentuieren. Angehörige, die durch eine schwere psychische Krankheit eines Familien- mitgliedes in der Regel stark in Mitleidenschaft gezogen sind, werden individuell und öfter noch in Gruppen beraten.

Viele dieser Tätigkeiten haben eine ausge- sprochen präventive Zielrichtung. Rezidive und Wiederaufnahmen ins Krankenhaus, familiäre und soziale Komplikationen können zu einem guten Teil vermieden werden, wenn eine verläß- liche Beziehung zwischen Patient und Arzt so- wie Betreuern entsteht und eine kontinuierliche Behandlung über lange Zeit hin gewährleistet ist.

Gemeindenahe Psychiatrie ist letztlich die Zusammenfassung und Intensivierung der Be- handlungsmöglichkeiten. Angemerkt sei, daß unter dem Begriff Gemeindepsychiatrie etwas anderes verstanden wird, nämlich gewisse ge- sundheits- und sozialpolitische Vorstellungen, die in diesem Zusammenhang nicht interessie- ren und für die Verbesserung der psychiatri- schen Behandlung unerheblich sind. Gemeinde- nähe der Versorgung ist eine nützliche Organi- sationsform, ein Mittel zum Zweck: Die Thera- pie soll dem Patienten nahegebracht werden.

Professor Dr. med.

Rainer Tölle

Klinik für Psychiatrie Albert-Schweitzer-Straße 11 4400 Münster

A-566 (44) Dt. Ärztebl. 84, Heft 10, 5. März 1987

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