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Archiv "Ein Jahr danach betrachtet: Das geschah in Tschernobyl - Ursachen, Wirkungen, Folgen" (14.05.1987)

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(1)

DEUTSCHES 4

ÄRZTEBLATT

W

ie „funktioniert"

ein Kernkraftwerk?

Einige Stichworte:

Der Brennstoff, der sich in Brennstäben befindet, besteht aus Uranoxyd (UO2). Ist das Kernkraftwerk, der Reaktor, in Betrieb, so wird Uran gespalten. Aus einem Urankern ent- stehen dabei zwei bis drei meist ra- dioaktive Spaltprodukte, Neutronen und Energie. Die Energie wird im Brennstoff und im Wasser absor- biert und erwärmt diese. Die Neu- tronen verursachen weitere Uran- kern-Spaltungen; der Reaktor wird so geregelt, daß eine sich selbst er- haltende Kettenreaktion abläuft, der Reaktor wird auf der gewollten Leistung betrieben.

In einem Siedewasser-Reaktor wird durch die durch die Kernspal- tungen erzeugte Wärme das die Brennstäbe umgebende Wasser zum Sieden gebracht. Der Dampf wird zur Turbine geleitet, die den Gene- rator antreibt. Nach der Turbine wird der Dampf kondensiert, das ab- gekühlte Wasser wird zu den Brenn- stäben zurückgepumpt.

Was ist nun das Gefährliche in einem Kernkraftwerk? Es sind die großen Mengen radioaktiver Spalt- produkte, die bei der Energieerzeu- gung entstehen. Diese Spaltproduk- te sind in den Brennstäben einge- schlossen. Höchstens kleine, für die Betriebsmannschaft und die Umwelt ungefährliche Mengen können im bestimmungsgemäßen Betrieb des Reaktors die Brennstäbe über Risse in den Brennstab-Hüllrohren verlas- sen.

Wie kann es nun zu einem Re- aktorunfall kommen? Ein Unfall liegt dann vor, wenn die radioakti- ven Spaltprodukte nicht mehr in den Brennstäben zurückgehalten wer- den, wenn diese also zerstört wer- den. Eine Zerstörung findet durch Überhitzung der Brennstäbe statt.

Eine Überhitzung der Brennstäbe kann auftreten, wenn sie nicht genü- gend gekühlt werden, wenn also zu den Brennstäben zu wenig oder kein Wasser gelangt. Eine Kühlung der Brennstäbe ist dabei nicht nur wäh- rend des Reaktorbetriebes notwen- dig, sondern auch während längerer Zeit nach dem Abstellen des Reak-

tors. Nach dem Abstellen des Reak- tors ist zwar die Kettenreaktion, die Uranspaltung, unterbrochen, aber die radioaktiven Spaltprodukte in den Brennstäben erzeugen durch ih- ren Zerfall, durch ihre Radioaktivi- tät soviel Wärme, daß es ohne Küh- lung zum Schmelzen der Brennstäbe kommt. Im amerikanischen Kern- kraftwerk Three Mile Island führte das eben beschriebene Szenario zum Schmelzen der Brennstäbe.

Eine Überhitzung der Brennstä- be kann aber auch auftreten, wenn

Ein Jahr danach betrachtet

Das geschah in

Tschernobyl

Ursachen, Wirkungen, Folgen Wolfgang Jeschki*)

111.1111111111111111Lmailliall

zu viele Uranspaltungen stattfinden.

Ursache dafür kann ein Fehler in der Reaktorregelung sein. Im Extrem- fall kann es bei bestimmten Reak- tortypen zu einer Leistungsexkur- sion kommen, die die Ursache für die Zerstörung der Brennstäbe ist.

So eine Leistungsexkursion führte zur Katastrophe von Tschernobyl.

Vier Kernkraftwerke am Unglücksort

Die Kernkraftwerke Tscherno- byl liegen in der Ukraine, rund 700 km südwestlich von Moskau und et- wa 100 km nördlich von Kiew. Am Standort selbst waren vier Kern-

*) Der Autor ist Physiker, Sektionschef der Hauptabteilung für Sicherheit der Kernanlagen in der Schweiz

kraftwerke in Betrieb. Jeweils zwei Kernkraftwerke sind in einem Ge- bäude untergebracht und haben ei- nige Systeme, die für den Betrieb nötig sind, gemeinsam. In einer Ent- fernung von 1,5 km von den vier Kernkraftwerken waren zwei weite- re im Bau.

Der Block 4, in dem sich der Unfall ereignete, erzeugte eine elek- trische Leistung von 1000 MW. Der Reaktor mit der Kurzbezeichnung RMBK-1000 ist ein graphitmode- rierter Druckröhrenreaktor. In den Druckrohren, in denen sich die Brennstäbe befinden, wird das Kühlwasser zum Sieden gebracht und dann auf die Turbinen geleitet.

Außerhalb der Sowjetunion sind sol- che Reaktoren nicht in Betrieb.

Zur Zeit des Unfalls, in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986, waren 176 Personen in den vier laufenden Kernkraftwerksblök- ken beschäftigt. Weitere 268 Perso- nen arbeiteten an den 1,5 km ent- fernten, sich im Bau befindenden Blöcken 5 und 6.

Die Umgebung des Standortes ist relativ flach. Charakteristisch sind die Flüsse Pripyat, Dniepr und das Kiew-Reservoir; Felder und Wald wechseln sich ab. In einem Umkreis mit einem Radius von 3 km um den Kraftwerkstandort sind kei- ne Wohnsiedlungen zugelassen. Die nächste Stadt, 3 km vom Standort entfernt, ist Pripyat mit 49 000 Ein- wohnern; in einer Entfernung von

15 km befindet sich die Stadt Tscher- nobyl mit 12 000 Einwohnern. In ei- nem Gebiet mit einem Radius von 30 km lebten 135 000 Personen .. . Am 25. April 1986 waren alle 4 Blöcke des Kernkraftwerkes Tscher- nobyl in Betrieb. Der Block 4 sollte am 26. April abgestellt werden, um routinemäßig Überprüfungen und Reparaturen durchzuführen. Vor der Abstellung sollte das Verhalten der Turbinen und Generatoren un- ter bestimmten Betriebsbedingun- gen experimentell untersucht wer- den. Dieses Experiment wurde schon ein Jahr vorher durchgeführt, ohne aber brauchbare Resultate ge- liefert zu haben. Die Experimenta- toren und die Mannschaft, die für den Reaktorbetrieb verantwortlich war, standen scheinbar unter Druck, Dt. Ärztebl. 84 , Heft 20, 14. Mai 1987 (67) A-1407

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diesmal das Experiment mit der Tur- bo-Generatorgruppe erfolgreich zu beenden.

Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, daß dann, wenn et- was unbedingt gelingen muß, Schwierigkeiten auftreten, die dieses Gelingen verhindern wollen. So war es auch in Tschernobyl. Bei der Vor- bereitung des Experimentes wurde die Reaktorleistung weiter abge- senkt als vorgesehen war. Obwohl ein Reaktorbetrieb bei einer niedri- gen Reaktorleistung bei den RBMK-Reaktoren nicht erlaubt ist, wurde das Experiment trotzdem durchgeführt. Dazu war die Verlet- zung von administrativen Vorschrif- ten notwendig, aber auch die fahr- lässige und unverantwortliche Au- ßerbetriebsetzung von Sicherheitssy- stemen, die den Reaktor rechtzeitig abgeschaltet hätten. Der Reaktor gelangte so in einen instabilen, nicht mehr kontrollierbaren Zustand.

Am 26. April um 1.23 Uhr stieg die Reaktorleistung innerhalb von vier Sekunden um das 100fache der normalen Leistung an. Die Lei- stungsexkursion verursachte in den Brennstäben eine ungeheure Anzahl

von Uranspaltungen und damit eine enorme Wärmeentwicklung. Die Brennstäbe wurden durch diese plötzliche Wärmeentwicklung aus- einandergerissen, sie explodierten förmlich. Diese erste Explosion hob die 1000 Tonnen schwere Betonplat- te, mit der der Reaktor bedeckt war, ab. Dadurch wurden alle Druckroh- re, die das Kühlwasser führten, ab- gerissen. Zusammen mit der ersten Explosion zerstörte eine zweite das Reaktorgebäude, heiße brennende Teile - Uran, Graphit, Strukturma- terialien - wurden herausgeschleu- dert, fielen auf die Dächer der Ge- bäude der Kraftwerksblöcke 3 und 4 und auf das Kraftwerksareal. Dä- cher und Gebäude der Kraftwerk- blöcke 3 und 4 gerieten an mehr als 30 Stellen in Brand. Der Block 3, ebenso die Blöcke 1 und 2, waren noch in Betrieb.

Für das Personal des Blockes 4, welches sicher unter Schockwirkung stand, bestand die Aufgabe, sich klar zu werden, was überhaupt pas- siert war und welche Maßnahmen zur Eindämmung der Katastrophe getroffen werden konnten. Durch die Explosionen selbst wurden 2

Personen direkt betroffen. Einer wurde im zusammenstürzenden Re- aktorgebäude begraben und konnte nicht gefunden werden, ein anderer erlitt so schwere Verbrennungen, daß er in den frühen Morgenstunden starb. Das Personal versuchte, vom Kommandoraum aus Wasser in den zerstörten Reaktorkern zu pumpen, um ein weiteres Schmelzen des Brennstoffes zu verhindern. Perso- nal der anderen Blöcke und die aus den Städten Pripyat und Tscherno- byl herbeigeeilten Werkfeuerweh- ren begannen, das Feuer zu be- kämpfen.

Alle Beteiligten waren sich der Höhe der Strahlenfelder, der Dosis- leistungen und der Luftverschmut- zung durch radioaktive Teilchen (Luftkontamination) bewußt. Ande- rerseits war ebenso klar, daß ein Übergreifen des Feuers auf den Kraftwerkblock 3 zu einer zweiten Katastrophe führen würde. Wie am Anfang gesagt, müssen die Brenn- stäbe auch nach Abstellung des Re- aktors gekühlt werden. Fällt die Kühlung aus, was bei einem Über- greifen des Brandes auf den Block 3 der Fall gewesen wäre, dann wären die Brennstäbe geschmolzen, wäre der Reaktor zerstört worden und wären zusätzliche große Mengen an radioaktiven Stoffen in die Umwelt ausgetreten.

Um diese zweite Katastrophe abzuwenden, wurden die Brandher- de unter Einsatz des Lebens der Feuerwehrmänner bekämpft. Der Einsatz hatte Erfolg; um fünf Uhr morgens waren die Brände gelöscht, außer den brennenden Graphitblök- ken im zerstörten Reaktor des Blok- kes 4. Von den aus Pripyat und Tschernobyl herbeigeholten Helfern wurde sofort, das heißt etwa eine halbe Stunde nach dem Unfallereig- nis, das Betriebspersonal des Blok- kes 4 aus der Anlage geholt und me- dizinisch betreut. Nachdem das Feu- er, welches vor allem den Reaktor- block 3 bedroht hatte, gelöscht war, mußten Wege gefunden werden, um die Freisetzung radioaktiver Stoffe aus dem zerstörten Reaktor zu been- den und um die am Kraftwerkareal herumliegenden, stark radioaktiven Bruchstücke von Brennstäben, von Graphitblöcken und anderen Mate-

V

ielbeachtet war das einwöchige Seminar über Katastrophen- medizin während des 35. Internationalen Fortbildungskon- gresses in Davos (März 1987). Ausgehend von der Definition

„Katastrophenmedizin ist die Lehre über die Massenversor- gung von Verwundeten und Kranken mit beschränkten personellen, technischen und finanziellen Mitteln und dem Zwang zur Selektion"

wurde während des Davoser Ärzte-Fortbildungskongresses an Hand konkreter Beispiele aufgezeigt, daß Katastrophenmedizin nicht mit den Mitteln der Individual- und/oder Notfallmedizin beherrschbar ist.

Hier gelten besondere und nicht jedem geläufige Gesetzmäßigkeiten.

Der Leiter des Seminars, Prof. Dr. med. Rolf Lanz, Chirurg, Chefarzt des Regionalspitals in Herisau/Schweiz, seit langen Jahren nicht nur in der universitären Ausbildung, sondern auch im „ Post-graduate-Trai- ning" auf dem Gebiet der Notfall- und Katastrophenmedizin tätig, un- terstrich Relevanz und Aktualität der Katastrophenmedizin: Weltweit ereignet sich nach den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchschnittlich eine Großkatastrophe pro Woche. 1986 wurde die Weltbevölkerung von 215 Großschäden und Katastrophen heimge- sucht. In Europa wurden 1986 mehr als 400 Terroranschläge verübt (mit mehr als 1000 Schwerverletzten und Toten). Die Trendanalyse ist weiterhin steigend - sowohl was die Menschenopfer als auch die Sachschäden betrifft. Wolfgang Jeschki, Würenlingen/Schweiz, der ebenfalls in Davos referierte, zeigte am Beispiel Tschernobyl die In- terdependenzen von Katastrophenereignis und notwendigen notfall- und katastrophenmedizinischen Maßnahmen auf. ❑

A-1408 (68) Dt. Ärztebl. 84, Heft 20, 14. Mai 1987

(3)

Größe SI-Einheit Größendefinition

Anzahl radioaktiver Kernumwandlungen pro Zeiteinheit

Gesamte absorbierte Strahlungsenergie in der Masseneinheit

Einheiten- I Umrechnung zeichen

Ci 1 Ci = 3,7 101° Bq

1 rd = 10 -2 Gy

Rad rd

Coulomb pro Kilo- gramm

Einheitenzeichen: C/kg

Gray pro Sekunde (bzw. Gray pro Stunde) Einheitenzeichen: Gy/s (bzw. Gy/h)

Sievert pro Sekunde (bzw. Sievert pro Stunde)

Einheitenzeichen: Sv/s (bzw. Sv/h)

Ampere pro Kilo- gramm

Einheitenzeichen: A/kg

Elektrische Ladung der in einer luftgefüllten Ionisa- tionskammer erzeugten Ionen, dividiert durch die Masse der darin enthalte- nen Luft

Energiedosis pro Zeit- einheit

Äquivalentdosis pro Zeiteinheit

Röntgen

Rad pro rd/s Sekunde rd/h (bzw. Rad

pro Stunde) Rem pro Sekunde (bzw. rem pro Stunde)

1 rd/s = 10 -2 Gy/s 1 rd/h = 10 -2 Gy/h

1 rem/s = 10 -2 Sv/s 1 rem/h = 10 -2 Sv/h

1 R/s = 0,93 A/kg 1 R/h = 2,58 • 10 -4

A/kg Ionendosis

Energie- dosisleistung

Äquivalentdosis Sievert

Einheitenzeichen: Sv 1 Sv = 1 J/kg

Energiedosis multipliziert Rem mit dem dimensionslosen

Bewertungsfaktor der vorliegenden Strahlenart

alte Einheit Curie

Energiedosis Gray

Einheitenzeichen: Gy 1 Gy = 1 J/kg

rein 1 rem = 10 -2 Sv

R 1 R = 2,58 • 10-4 C/kg

Äquivalent- dosisleistung

Ionen- dosisleistung

rem/s rem/h

R/s R/h Ionendosis pro Zeit-

einheit

Röntgen pro Sekunde (bzw. Rönt- gen pro Stunde) Becquerel

Einheitenzeichen: Bq 1 Bq = 1 s -1

Aktivität

Kernreaktoren: Die wichtigsten relevanten Meßgrößen und technische Einheiten

1

Quelle: Medizinische Maßnahmen bei Kernkraftwerks-Unfällen; Veröffentlichungen der Strahlenschutzkommission (beim Bundes- umweltministerium), Band 4, Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart, 1986

rialien einzusammeln. Alle diese Ar- beiten konnten unter Einhaltung der Strahlenschutzbestimmungen durch- geführt werden. Die Dosen für das Personal, die diese Arbeiten durch- führten, waren also im allgemeinen kleiner als 50 mSv (5 rem), für einige Personen kleiner als 250 mSv (25 rem).

Um die Freisetzung radioaktiver Stoffe zu beenden, wurden aus Hub- schraubern etwa 5000 Tonnen ver- schiedener Materialien (Borcarbid, Blei, Sand) abgeworfen. Ferner wur- de der zerstörte Reaktorkern mit Stickstoff gekühlt. Nach zehn Tagen, am 6. Mai, konnte so die Freisetzung radioaktiver Stoffe an die Umwelt weitgehend beendet werden.

Notfallmaßnahmen

In den ersten Stunden nach dem Unfallereignis galt das Augenmerk dem zerstörten Reaktor und der Brandbekämpfung. Es wurde bald klar, daß auch enorme Auswirkun- gen in der Umgebung, für die Bevöl- kerung zu befürchten waren. Es wurde aber auch offenbar, daß die bestehenden, vorbereiteten Kata- strophenpläne nicht für eine Kata- strophe mit einem solchen Ausmaß ausgelegt waren.

Deshalb wurden am 26. April die Behörden in Moskau alarmiert, die sofort eine Gruppe mit Fachleu- ten der verschiedensten Gebiete und mit hohen Funktionären an den Un-

fallort entsandten. Die Bevölkerung in einem Gebiet mit einem Radius von 30 km wurde am Morgen des 26.

April informiert. Sie wurde aufge- fordert, im Hause zu bleiben, Fen- ster und Türen zu schließen. Schulen und Kindergärten blieben geschlos- sen.

Eine große Gefährdung bei ei- nem solchen Reaktorunfall stellt das Radioisotop Iod-131 dar. Gelangt es durch Einatmen in den Körper, so reichert es sich in der Schilddrüse an und kann zu einer sehr hohen Strah- lenbelastung

der Schilddrüse führen.

Deshalb wurden Freiwillige am 26.

April aufgefordert, für die Bevölke- rung Jodtabletten zu verteilen. Das inaktive Jod „blockiert" die Schild- Dt. Ärztebl. 84 , Heft 20, 14. Mai 1987 (71) A-1411

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drüse, so daß sie weniger radioakti- ves Jod aufnimmt.

...,.. Die Notfallplanung in der Sowjetunon sieht vor, die Bevölke- rung aus einem Gebiet zu evakuie- ren, wenn die zu erwartenden Perso- nendosen 0,25 Sievert (25 rem) bzw.

0,75 Sievert (75 rem) überschreiten.

Bei Dosen unterhalb 0,25 Sievert wird zumeist eine Evakuierung als nicht gerechtfertigt angesehen. Bei Dosen überhalb 0,75 Sievert muß evakuiert werden.

Zwischen 0,25 und 0,75 Sievert entscheidet die Katastrophenleitung über einen Evakuierungsentscheid, unter Berücksichtigung von äußeren Umständen (etwa: W etterbedingun- gen). Diese Richtwerte für die Durchführung einer Evakuierung entsprechen den international übli- chen Werten.

Die am 26. April 1986 gemesse- nen Dosisleistungen, zusammen mit einer starken Verstrahlung der Fel- der, Wälder, Häuser, Gewässer, die zu einer erhöhten Aufnahme radio- aktiver Stoffe in den Körper führen würde, ließen vermuten, daß in ei- nem Gebiet mit einem Radius von 30 km die Planungswerte für eine Evakuierung überschritten werden.

So wurden folgende externe Dosen für die Bevölkerung abgeschätzt, wenn diese ein Jahr lang in dem 30-km-Gebiet geblieben wäre, unter Berücksichtigung des Schutzfaktors von Gebäuden (jeweils Abstand von Kernkraftwerk/Dosen): 3-7 km I 0,25-3 Sievert (25-300 rem); 10-15 km I 0,04-2,5 Sievert (4-250 rem);

25-30 km I 4 m Sievert- 0,4 Sievert (0,4-40 rem).

Die Evakuierung begann am Vormittag des 27. April. Innerhalb von zwei Stunden wurden die 49 000 Einwohner der Stadt Pripyat mit rund 1000 Autobussen evakuiert.

Nach und nach wurden alle 135 000 Personen aus der 30-km-Zone eva- kuiert.

Berücksichtigt man die Größe der Reaktorkatastrophe, so müssen die Maßnahmen, die zum Schutz der Bevölkerung ergriffen wurden, als sehr erfolgreich bezeichnet werden. Einige Aspekte des Reaktorun- falls in Tschernobyl, die für die Be- herrschung der Katastrophensitua- tion von großer Bedeutung waren;

...,.. Das Ausmaß der Zerstörung im Kernkraftwerkblock 4 war so groß, daß keine Maßnahmen mehr möglich waren, um den Reaktor wieder unter Kontrolle zu bringen.

...,.. Ein zweiter Reaktorblock wurde durch den Unfall im Block 4 bedroht. Es bestand die Gefahr, daß auch die Brennstäbe im Block 3 schmolzen. Große finanzielle Werte standen auf dem Spiel, aber auch ei- ne nicht abschätzbare weitere Ver- strahlung der Umwelt. Die zusätz- liche Bedrohung wurde als so groß eingeschätzt, daß für deren Abwehr bewußt Menschenleben eingesetzt wurden.

...,.. Nachdem der Reaktorblock 3 gerettet war, wurde mit einem rie- sigen Aufwand die Freisetzung ra- dioaktiver Stoffe aus dem zerstörten Reaktor unterbunden. Dabei konn- te der Schutz der Personen nach den Grundsätzen des Strahlenschutzes durchgeführt werden.

...,.. Obwohl die Bevölkerung, zumindest in den Städten Pripyat und Tschernoyl, schon kurz nach dem Unfallereignis davon Kenntnis haben mußte (Explosionsknall, Feu- erschein, Aufgebot der Feuerwehr und von Werkpersonal), kam es of- fensichtlich zu keinen Panikreaktio- nen.

Die Bevölkerung befolgte die Aufforderung, in den Häusern zu bleiben. Jodtabletten konnten von Haus zu Haus verteilt werden, die Evakuierung konnte rasch und of- fenbar reibungslos erfolgen.

Strahlendosen für das Personal

und die Bevölkerung

Das Kraftwerk- und Notfallper- sonal erhielt zum Teil sehr hohe Do- sen. Hauptsächlich wurden die Do- sen durch eine externe Gamma- strahlung des ganzen Körpers verur- sacht.

Aber auch hohe Hautdosen durch Betastrahlung und interne Dosen durch Inhalation von Radio- nukliden traten auf.

203 Personen erhielten Dosen zwischen 0,8 und 16 Gy (80 und 1600 rad). 48 Personen erhielten zusätz- A-1412 (72) Dt. Ärztebl. 84, Heft 20, 14. Mai 1987

lieh sehr hohe Hautdosen durch Be- tastrahlung. Über die Anzahl Perso- nen, die Dosen unterhalb 0,8 Gy (80 rad), aber überhalb 0,5 Gy (50 rad) erhielten, wurde keine Angabe ge- macht.

Die Dosen, die die evakuierte Bevölkerung erhalten hat, wurden berechnet aufgrund der gemessenen Ortsdosisleistung, der Aufenthalts- zeit, der Auswertung der Dosisme- ter, die das Notfallpersonal bei der Verteilung der Jodtabletten und der Durchführung der Evakuierung ge- tragen hat; ferner wurden Schilddrü- sen- und Ganzkörpermessungen durchgeführt. Folgende Dosen wur- den angegeben:

...,.. Ganzkörperdosen durch die radioaktive Wolke und die Ablage- rungen am Boden: 0,3-0,4 Sievert (30-40 rem); ein Großteil der Bevöl- kerung erhielt Dosen

<

0,25 Sievert (< 25 rem).

...,.. Schilddrüsendosen: Erwach- sene: 0,3 Sievert (30 rem); Kinder:

0,25-2,5 Sievert (20-250 rem). ...,.. Kollektivdosis für die eva- kuierte Bevölkerung: 1,6 · 104 man- Sievert (1,6 · 106 man-rem).

Literatur

1. The accident at the Chernobyl Nuclear Po- wer Plant and its consequences. USSR State Committee on the Utilization of Atomic Energy. (Working Document for the Post Accident Review Meeting, IAEA, Vienna, 25. bis 29. August 1986)

2. Summary Report and the Post-Accident Re- view Meeting on the Chernobyl Accident (IAEA Safety Series No. 75-INSAG-1, 1986)

3. Der Unfall Chernobyl: Ein Überblick über Ursachen und Auswirkungen (Hauptabtei- lung für die Sicherheit der Kernanlagen, Wü- renlingen/Schweiz; HSK-AN-1816, Novem- ber 1986)

4. Der Reaktorunfall; Schriftenreihe der Baye- rischen Landesärztekammer, Band 53 (1980) 5. F. E. Stieve: Medizinische Versorgung von Strahlenschäden bei Unfällen an kerntechni- schen Anlagen (Katastrophenmedizin 1981, Schriftenreihe der Bayerischen Landesärzte- kammer, Band 58).

6. Medizinische Maßnahmen bei Kernkraft- werks-Unfällen; Veröffentlichungen der Strahlenschutzkommission, Band 4 (Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart, 1986)

Anschrift des Verfassers:

Wolfgang Jeschki

Sektionschef der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK)

CH-5303 Würenlingen/Schweiz

Referenzen

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