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Archiv "Vier Jahre nach Tschernobyl – noch immer sind die Folgen nicht abschätzbar" (17.05.1990)

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Dimitri Grodzinsky

und Edmund Lengfelder

1111 . 11 111111. 11g

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Der nachfolgende Bericht enthält Daten und Informationen, über die Prof. Grodzinsky Mitte Februar 1990 anläßlich wis- senschaftlicher Arbeitsgespräche am Strahlenbiologischen Institut der Universität München berichtet hat. Grodzinsky ist seit den ersten Tagen nach dem Reaktorunfall in Tscherno- byl mit Untersuchungen über Auswirkungen und Folgen die- ser Katastrophe befaßt.

Vier Jahre

nach Tschernobyl

noch immer sind die Folgen nicht abschätzbar

ach dem Reaktorunfall wurde zunächst eine Fläche mit einem Radi- us von 30 km um den Unglücksreaktor eva- kuiert und zur Sperrzone erklärt. Am Rande dieser Sperrzone wurde eine Lager-Stadt errichtet, wo die Ret- tungs- und Aufräumungsmannschaf- ten untergebracht wurden. Die Fest- legung des Radius auf 30 km war eine völlig willkürliche Maßnahme und, von der Situation der Strahlenbela- stung her gesehen, logisch nicht be- gründbar. Auch außerhalb dieser Zo- ne von 60 km Durchmesser gibt es, be- sonders im Westen und im Norden, weite Gebiete mit vergleichbarer Be- lastung. Nach den vorliegenden Infor- mationen sind zirka 600 000 Soldaten zur Dekontamination, zum Abtragen von Landflächen, für Aufräumarbei- ten und für Evakuierungsmaßnahmen eingesetzt gewesen. Für die Soldaten war der Dosisrichtwert für die zumut- bare Strahlenbelastung mit 0,25 Sv (25 rem) Ganzkörperbelastung ange- setzt. Bei Überschreitung dieser Do- sis sollten die belasteten Soldaten aus dem Gebiet abgezogen und durch neue Kräfte ersetzt werden.

Allerdings war die Ermittlung der durch die Soldaten akkumulier- ten Strahlendosen sehr ungenau. Die Bestimmung der Strahlendosis er- folgte bei den Soldaten durch stich-

punktartige Kontrollen im jeweiligen Operationsgebiet und der daraus ab- geleiteten, für zulässig erklärten Aufenthaltsdauer, nicht jedoch durch die Erfassung einer individuel- len Personendosis. Die hierfür erfor- derlichen Dosimeterausrüstungen standen nicht zur Verfügung. Diese stichprobenartige Erfassung der Do- sis kann allenfalls als eine grobe Ab- schätzung mit großer Fehlerbreite gewertet werden. Die Soldaten wa- ren größtenteils junge Rekruten, zu denen später wegen des hohen Be- darfs an Arbeitskräften noch Reser- visten zugezogen wurden. Die große Zahl der eingesetzten Soldaten läßt den Schluß zu, daß diese Kräfte von Standorten aus einem sehr weiten Umkreis, auch aus vielen hundert km entfernten Standorten zusammenge- zogen worden waren. Es dürfte da- her schwierig sein, diese Soldaten langfristig zu beobachten, um auch bei diesen das Auftreten von Spät- schäden (Krebs und Leukämie) zu erfassen.

Entsprechend den gegenwärti- gen Erkenntnissen ist die Fläche der Department of Biophysics and Radio- biology, Academy of Sciences, Kiew;

Strahlenbiologisches Institut (komm.

Leiter: Prof. Dr. med. Dr. rer. nat.

Ulrich Hagen) der Ludwigs-Maximilians- Universität München

hochbelasteten Gebiete in der Repu- blik Weißrußland wesentlich größer als die in der Republik Ukraine.

Nach der anfänglichen Evakuierung der Bevölkerung aus dem zur Sperr- zone erklärten Gebiet sind in der Zwischenzeit zirka 200 000 bis 300 000 Personen umgesiedelt wor- den. Als Kriterium für die Evakuie- rung beziehungsweise die Umsied- lung war von den sowjetischen Be- hörden eine durch den Reaktorun- fall bedingte Lebenszeitfolgedosis von 0,35 Sv (35 rem) festgesetzt wor- den. Die externe Gammadosis ist durch einfach durchführbare Maß- nahmen nur wenig zu beeinflussen.

Es wurde zunächst angestrebt, daß die Bevölkerung in den besonders betroffenen Gebieten im ersten Jahr nach dem Unfall über den Nahrungs- pfad keine höhere Dosis als 0,1 Sv (10 rem) erhalten sollte, im zweiten Jahr sollten 0,07 Sv (7 rem), im drit- ten Jahr 0,027 Sv (2,7 rem) nicht überschritten werden.

Es wurde ferner angestrebt, in den darauf folgenden Jahren über die Nahrung eine Dosisbelastung von 5 mSv (500 mrem) pro Jahr nicht zu überschreiten. Es stellte sich je- doch inzwischen heraus, daß wegen der externen Gammadosis, wegen der angespannten Situation in der Nahrungsmittelversorgung und we- gen der Höhe der Kontamination A-1614 (36) Dt. Ärztebl. 87, Heft 20, 17. Mai 1990

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der Nahrungsmittel die Richtgröße von 0,35 Sv (35 rem) als Lebenszeit- folgedosis in vielen Fällen ohne zu- sätzliche Maßnahmen überschritten werden würde. Dies kann nur durch eine Fortführung der Umsiedlungs- aktionen verhindert werden. Es ist daher damit zu rechnen, daß in den nächsten Jahren noch weitere 100 000 Personen, bei einer Zunah- me qualifizierter Kenntnisse infol- ge internationaler Zusammenarbeit über die tatsächliche Belastungssi- tuation möglicherweise sogar noch wesentlich mehr Personen umgesie- delt werden müssen.

Maßnahmen führen zu zusätzlicher Belastung

Die sehr ungleichmäßige Belas- tung der Landflächen, auch in gro- ßer Entfernung zum Unglücksort, hat verschiedene Ursachen. Zum ei- nen sind sie durch die meteorologi- schen Gegebenheiten während der Freisetzungsphase der Radionuklide aus dem zerstörten Reaktor bedingt.

In der Sowjetunion sind sie jedoch zum Teil auch darauf zurückzufüh- ren, daß versucht wurde, eine groß- flächige Verbreitung der radioakti- ven Wolken zu vermeiden, indem diese durch Einsprühen von regen- bildenden Chemikalien zum Abreg- nen gezwungen wurden. Dadurch er- fuhren die darunter liegenden Land- striche eine besondere Belastung.

Die verfügbaren Daten über die tatsächliche Belastungssituation in den betroffenen Gebieten wurden von den Behörden über lange Zeit gegenüber der Bevölkerung geheim- gehalten. Der Gegensatz zwischen den beruhigenden Verlautbarungen der Behörden einerseits und den enormen Evakuierungsmaßnahmen und den Verboten, bestimmte Le- bensmittel zu verzehren, anderer- seits führte bei der Bevölkerung zu einer massiven Verunsicherung und zum Vertrauensverlust gegenüber Behörden und einzelnen wissen- schaftlichen Einrichtungen. Von Moskau aus wurde sogar die Anwei- sung gegeben, der Bevölkerung solle mitgeteilt werden, die Radioaktivität habe aufgehört. In hochbelasteten Gebieten, in denen die Bevölkerung

evakuiert ist, wird heute zum Teil wieder Landwirtschaft betrieben.

Insbesondere durch den Einsatz von Maschinen wird bei der Feldbearbei- tung Staub aufgewirbelt, der von den landwirtschaftlichen Arbeitern ein- geatmet wird und zu einer zusätz- lichen Strahlenbelastung der Lunge und der Bronchien führt. Aus ähn- lichen Gründen ist auch die Bela- stung von Waldarbeitern erhöht.

Ein anderes Problem besteht darin, daß in weiten Bereichen mit besonders hoher Kontamination die obersten Bodenschichten abgetragen und dieses Material an bestimmten Stellen aufgetürmt worden ist. Diese Erdhaufen enthalten besonders gro- ße Mengen an radioaktiven Stoffen, gegenwärtig wegen der langen Halb- wertzeit noch radioaktives Caesium und Strontium. Diese Stoffe werden durch Niederschläge ausgewaschen

Erkennbare Folgen der Strahlenbelastung bei Pflanzen und Tieren

Im Sperrgebiet um den Reaktor- standort sind mannigfaltige Verän- derungen an den Pflanzen zu beob- achten. Über weite Bereiche ist eine beträchtliche Zahl von Bäumen ab- gestorben. Die Blätter verschieden- ster Pflanzenarten zeigen Riesen- wuchs bis hin zum Mehrfachen der normalen Blattgröße und andere krankhafte Strukturen. Dies ist be- sonders auch bei Eichen festzustel- len. Nadelhölzer, vor allem Fichten, zeigen an manchen Stellen überdi- mensionale Austriebe mit tumorhaf- tem Wachstum. Andere Pflanzen bil- den pathologische Farbstoffe oder haben den natürlichen Farbstoff ih- rer Blüten verloren. Auch Chimären- bildung wurde bei Pflanzen beobach- tet. Es ist gegenwärtig noch nicht be- kannt, welche dieser Veränderungen bei den Pflanzen auf eine die gesam- te Pflanze betreffende Strahlendosis oder auf die punktuelle Applikation hoher Strahlendosen infolge der An- lagerung heißer Teilchen zurückzu- führen sind.

Über weite Gebiete in der Ukraine wie auch in Weißrußland wurden bei Nutztieren erhebliche

und gelangen mit dem Oberflächen- wasser in Bäche und Flüsse, aus de- nen flußabwärts das Wasser zur Be- wässerung der Felder wieder ver- wendet wird. Auch bei Überschwem- mungen wird aus den Anhäufungen hochbelasteter Erde Caesium und Strontium ausgewaschen und in die Flüsse verfrachtet. Dies führt zwangsläufig zu einer Erhöhung der Kollektivdosis. Landwirtschaftliche Produkte, die in den hochbelasteten Gebieten gewonnen wurden und die wegen Uberschreitens der Grenz- werte nicht zum direkten Verzehr freigegeben sind, werden mit wenig belasteten Nahrungsmitteln ver- mischt. Auf diese Weise wird er- reicht, daß die festgesetzten Grenz- werte nicht überschritten werden und die Nahrungsmittel an die Be- völkerung ausgegeben werden kön- nen.

Schäden festgestellt. An vielen Or- ten wurden Tiere (Rinder, Schafe, Pferde) mit schweren Mißbildungen (zum Beispiel überzähligen Glied- maßen) geboren. In manchen Ge- genden wiesen bis zu 25 Prozent der neugeworfenen Ferkel Mißbildun- gen, wie zum Beispiel Anophthalmie (Fehlen der Augen) auf. Bei vielen Tieren, insbesondere Kühen, wurde nach kurzer Zeit eine Erblindung festgestellt, die vermutlich auf einen hohen Betastrahlungsanteil in der ersten Zeit nach dem Reaktorunfall zurückzuführen ist. Zum einen ist das Auge, vor allem Hornhaut und Linse, besonders strahlenempfind- lich, zum anderen sind beim Grasen die Augen des Weidetiers in nur kur- zer Entfernung über dem Boden und somit der Strahlenemission der am Boden befindlichen Radionuklide besonders ausgesetzt.

Gesundheitsschäden bei Menschen

Der Reaktorunfall in Tscherno- byl hat zu einer Vielzahl von heute bereits erkennbaren Gesundheits- schädigungen in der besonders be- troffenen Bevölkerung geführt. Auf die Menschen, die bei der Brandbe- kämpfung und bei anderen Arbeiten Dt. Ärztebl. 87, Heft 20, 17. Mai 1990 (37) A-1615

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in unmittelbarer Nähe am zerstörten Reaktor infolge hoher Strahlendo- sen akute Strahlenschäden davontru- gen und inzwischen verstorben sind, sei an dieser Stelle hingewiesen. Ihre Zahl könnte zwischen 100 und 500 liegen. Dies ist jedoch eine grobe Schätzung, die möglicherweise mit sehr großen Fehlern behaftet ist. Bei der Bevölkerung, insbesondere bei den Teilen, die infolge der Strahlen- belastung bereits umgesiedelt wer- den mußten oder bei denen die Um- siedlung bevorsteht, wurde über fol- gende Krankheiten berichtet: Au- genentzündungen, Hornhauttrübun- gen (zum Teil mit Erblindung), Schilddrüsenerkrankungen, Leuk- ämien bei Kindern, Entzündungen des Nasen-Rachenraumes, Virus- erkrankungen, Lungenentzündun- gen, Bronchitis, allgemeine Krank- heitsanfälligkeit und Angstzustände.

Auf einige dieser Gesundheitsstö- rungen soll hier näher eingegangen werden. Zum Begriff Gesundheit sei an dieser Stelle die Definition der Weltgesundheitsorganisation er- wähnt, nach der unter Gesundheit der Zustand völligen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens zu verstehen ist.

Es lassen sich grundsätzlich ver- schiedene Wirkungsarten der ioni- sierenden Strahlung unterscheiden:

nichtstochastische und stochastische Strahlenschäden. Nichtstochastische Strahlenschäden treten erst oberhalb einer gewissen Strahlendosis (0,1 bis 0,4 Sv beziehungsweise 10 bis 40 rem) auf; sie sind bei jedermann zu beobachten. Man unterscheidet hier noch einmal zwischen akuten Schä- den (zum Beispiel akuter Strahlen- krankheit, Verlust von immunkom- petenten Zellen im Blut) und nicht- bösartigen Spätschäden (zum Bei- spiel Schrumpforgan durch Schädi- gung der Blutgefäße). Stochastische Strahlenschäden sind solche, die bei jedermann auftreten können und für die es keine Dosisschwelle gibt.

Hierzu zählen alle Arten von Krebs und Leukämie sowie Erbschäden.

Bei den stochastischen Schäden wird durch Erhöhung der Strahlendosis das Risiko oder die Wahrscheinlich- keit der Krebserkrankung oder des Erbschadens erhöht. Bei den terato- genen Schäden (Schäden der Leibes-

frucht) gibt es neben den bekannten nichtstochastischen (sichtbare Miß- bildungen) nach neueren Erkennt- nissen auch stochastische (zum Bei- spiel Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit durch Entwick- lungsstörung des Gehirns) (2).

Bereits 1986 wurde im sowjeti- schen Katastrophengebiet über das Auftreten von Augenentzündungen berichtet. Dies kann durchaus auch ein akuter Strahlenschaden infolge Betastrahlung bei hohen Kontamina- tionswerten sein. Es wird über Un- tersuchungen in der Region von Na- roditschi berichtet, wo außerge- wöhnlich viele Fälle von Hornhaut- und Linsentrübungen beobachtet worden seien. Vor 1986 seien in die- sem Gebiet zirka 10 Fälle aufgetre- ten, während bis zum Jahr 1988 über 240 Fälle registriert worden seien.

Leukämie

Es wird weiter berichtet, daß in großen Gebieten der Ukraine und insbesondere in Weißrußland die Anzahl der Leukämiefälle bei Kin- dern drastisch angestiegen sei. In der internationalen Diskussion werden zu diesem Punkt immer wieder Fra- gen laut, ob der beobachtete Anstieg der Leukämien bereits so wenige Jahre nach dem Reaktorunfall nicht eher als ein Ergebnis vermehrter ärztlicher Untersuchungstätigkeit und einer dadurch bedingten erhöh- ten Aufklärungsquote denn als Er- gebnis der Strahlenbelastung zu wer- ten sei, zumal die bei den Kindern wirksame Dosis den sowjetischen Richtwert von 0,35 Sv wohl nicht in allzuvielen Fällen überschritten ha- ben dürfte.

In der Normalbevölkerung liegt die mittlere Häufigkeit der Leuk- ämieerkrankungen bei etwa vier Fäl- len auf 100 000 Kinder. Wenn nun in den besonders belasteten Gebieten einige zehntausend Kinder in diesen ersten vier Jahren nach dem Reak- torunfall Strahlendosen (Ganzkör- perbelastung) im Bereich von 0,35 Sv erhalten haben, wäre ein erkennba- res Ansteigen der Leukämie-Erkran- kungsfälle erklärbar. Aufgrund dosi- metrischer Untersuchungen am Münchener Universitätsinstitut er-

gibt sich jedoch eine zusätzliche Mög- lichkeit der Erklärung dieses deut- lichen Anstiegs der Leukämie-Er- krankungsfälle. Nach derzeitigen Ab- schätzungen ist zu vermuten, daß Tau- sende, vielleicht sogar Zehntausende von Kindern durch Ingestion bezie- hungsweise Inhalation so viel radioak- tives Jod inkorporiert haben, daß da- durch Schilddrüsendosen zwischen 2 und 10 Sv (1), möglicherweise sogar erheblich darüber, erreicht wurden.

Die Konzentrierung der Radio- nuklide des Jods in der Schilddrüse der Kinder führte aber nicht nur zu einer Bestrahlung der Schilddrüse selbst, sondern gleichzeitig auch zu einer Mitbestrahlung der umliegen- den Gewebe und Organe. Vor allem hervorzuheben ist hier der Thymus, der in unmittelbarer Nähe unterhalb der Schilddrüse gelegen ist. Beim Kind ist der Thymus für die Funk- tionstüchtigkeit des Immunsystems von grundlegender Bedeutung. Er ist in dieser Altersstufe das wichtigste primäre Immunitätsorgan. Im Falle einer hohen Radiojod-Konzentra- tion in der Schilddrüse kommt es so- mit zwangsläufig zur gleichzeitigen Applikation hoher Strahlendosen auf den Thymus. Die Bildungsrate für Lymphozyten im Thymus über- trifft beim Kind die entsprechende Funktion aller anderen lymphati- schen Organe bei weitem. Zur Zeit der Geburt ist sie am höchsten ausge- prägt. Erst beim Eintritt in das Er- wachsenenalter verliert der Thymus seine Bedeutung. Infolge der zwangs- weisen Mitbestrahlung durch die

„strahlende" Schilddrüse wird das Thymusepithel massiv geschädigt.

Daraus resultiert ein starker Mangel an immunkompetenten Zellen (Lym- phozyten) und somit eine gravierende Immunschwäche. Die Folge hiervon sind vielfältige Entzündungen und in- fektiöse Erkrankungen. Dieses Krankheitsbild gleicht in vielen Punk- ten dem der Immunschwächeerkran- kung AIDS. Dies hat auch zur Entste- hung des Begriffs „Tschernobyl- AIDS" geführt.

Auch das beobachtete gehäufte Auftreten von Leukämien bei Kin- dern kann auf diese Weise, das heißt durch die besondere Strahlenbela- stung des Thymus, verursacht sein.

Unter den verschiedenen Formen A-1618 (40) Dt. Ärztebl. 87, Heft 20, 17. Mai 1990

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der Leukämien des Kindesalters ist die akute lymphoblastische Leuk- ämie bei weitem die häufigste. Dar- über hinaus ist daran zu denken, daß die in der Umgebung der Schilddrüse befindlichen blutbildenden Organe (zum Beispiel Knochenmark in Brustbein, Rippen, Wirbelkörpern) mitbestrahlt werden und dadurch die Transformation blutbildender Stammzellen, das heißt die Um- wandlung in Krebszellen, begünstigt wird. Es ist noch unbekannt, ob im Thymus eine Anreicherung be- stimmter Radionuklide stattfindet.

Die Entstehung von Tumoren wird zusätzlich durch Faktoren, wie etwa der genetischen Disposition, Vor- erkrankungen, Ernährungszustand usw. beeinflußt (2).

Auch bei Erwachsenen führen Ganzkörperdosen von 0,3 bis 0,4 Sv zu einem Absinken der Leistungsfä- higkeit des Immunsystems. Aller- dings ist für den Erwachsenen die Thymusdrüse ohne Bedeutung. Mit großer Häufigkeit wird in der So- wjetunion über schwere Entzündun- gen im Hals- und Rachenbereich bei Kindern wie bei Erwachsenen, fer- ner über Viruserkrankungen, Lun- genentzündungen und verschiedene Formen der Bronchitis berichtet.

Allgemein wurde ein deutlicher An- stieg der Infektionskrankheiten fest- gestellt. In vielen Kindergarten- gruppen ist die übliche Zahl von et- wa 30 Kindern auf unter 10 abgesun- ken.

Neben der Schädigung des Im- munsystems durch Strahlung sind auch andere Ursachen für den An- stieg an Erkrankungen zu nennen.

Dazu zählt eine ganz massive Ver- schlechterung der Lebensumstände, der Lebensmittelversorgung und der Lebensmittelqualität. Ein weiterer wichtiger, die Ausbildung von Krankheiten fördernder Faktor ist die Angst. Eine völlig verfehlte In- formationspolitik von seiten der Be- hörden hat die Angst in der Bevölke- rung stark entfacht und das Vertrau- en in die Behörden erschüttert. Aus Angst vor strahlenbelasteter Nah- rung wurde den Kindern oft keine Milch, kein Obst, kein Gemüse mehr gegeben. Die Folge hiervon sind zwangsläufig Mangelerscheinungen, Störungen der körpereigenen Ab-

wehr, Kalziummangel, Entwick- lungsstörungen und anderes.

Von der Strahlenbelastung und den schlimmen Versorgungszustän- den sind nicht nur Tausende, hier- von sind Millionen von Menschen betroffen. Das Bekanntwerden der Mißbildungen bei Tieren steigerte die Angst vor Mißbildungen und Krankheiten der Kinder zusätzlich und führte dazu, daß die Geburten- rate erheblich absank. Gleichzeitig nahm die Abtreibungsrate drastisch zu. Der für jedermann erkennbare Anstieg der Krankheitsfälle, die Überlastung der Krankenhäuser, der Mangel an medizinischem Gerät und Material, der Mangel an unbelaste- ter Nahrung, der durch die Umsied- lung bedingte Verlust der Heimat für Hunderttausende von Menschen, das fehlende Vertrauen in die Ver- lautbarungen der Behörden und vie- les andere haben in den betroffenen Republiken der Sowjetunion ein Kli- ma großer sozialer Spannungen, zum Teil sogar von Aggressivität geschaf- fen. Die Menschen haben Angst um ihre Kinder, Angst um sich selbst und Angst vor der Zukunft. Nach ei- ner Studie des Moskauer For- schungs- und Entwicklungsinstituts für Kraftwerksbau sind für die So- wjetunion die Folgekosten der Reak- torkatastrophe bis zum Jahr 2000 mit umgerechnet 450 bis 600 Milliarden DM zu veranschlagen. Dies ist eine gewaltige Summe, die aber nichts über das Leid der Menschen aussagt.

Literatur

1. Kellerer, A. M.: Bericht an das Deutsche Ro- te Kreuz über die Mission einer Experten- gruppe der Liga der Organisationen des Ro- ten Kreuzes und des Roten Halbmondes in die vom Reaktorunfall in Tschernobyl betrof- fenen Gebiete der Sowjetunion. Universität Würzburg, 1990

2. Lengfelder, E.; Forst, D.; Feist, H.; Pratzl, H.: Strahlenwirkung — Strahlenrisiko, Hugen- dubel-Verlag München, 1988

In Auszügen vorgetragen beim Kongreß ,,Energie in der DDR", Februar 1990 in Berlin/DDR

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. med. Edmund Lengfelder Strahlenbiologisches Institut der Universität München Schillerstraße 42

8000 München 2

Hypnose senkt Säuresekretion

Es ist immer wieder behauptet worden, daß die Hypnose physiologi- sche Abläufe des menschlichen Or- ganismus beeinflussen könne. So steht zur Debatte, daß unter Hypno- se der Ablauf von Hauttests, der Fin- gertemperatur und visuell evozierter Potentiale alteriert werden könne.

Die Magensaftproduktion läßt sich relativ einfach messen; die Säurepro- duktion unter Basal- und Stimulati- onsbedingungen ist ausgiebig unter- sucht und standardisiert, so daß es interessant erschien, diese Parame- ter unter dem Einfluß von Hypnose zu untersuchen. An Freiwilligen, die durch eine Plakataktion gewonnen werden konnten und die sich als gut hypnotisierbar erwiesen, wurden ge- gen eine Bezahlung von 50 $ Ma- gensekretionsanalysen durchgeführt.

Die Probanden wurden hypnotisiert und unter Hypnose dahingehend in- struiert, sich ein luxuriöses Mahl vor- zustellen. Der Säureoutput stieg von 3,6 ± 0,48 mmol/HCl/h unter Hyp- nose um 89 Prozent auf 6,80 ± 0,02 mmol an. In einer zweiten Sitzung wurden nach dem Zufallsprinzip an- geordnet Magensekretionsanalysen mit und ohne Hypnose durchgeführt, wobei die Instruktion lautete, sich vollständig zu entspannen und alle Gedanken an Hunger abzulegen.

Die Hypnose führte zu einer 39pro- zentigen Reduktion der Basalsekre- tion und zu einer elfprozentigen Re- duktion der Pentagastrin-stimulier- ten Säuresekretion. Die Autoren konnten somit zeigen, daß die Ma- gensekretionsanalyse durch Hypnose im positiven und negativen Sinne be- einflußt werden kann.

Klein, K. B., D. Spiegel: Modulation of gastric acid secretion by hypnosis. Gastro- enterology 96: 1383-87, 1989.

School of Medicine, University of North Carolina, Chapel Hill, North Carolina;

School of Medicine, Stanford University, Stanford, California.

A-1620 (42) Dt. Ärztebl. 87, Heft 20, 17. Mai 1990

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