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Archiv "Höhere Schilddrüsenkarzinom-Inzidenz in Deutschland nach Tschernobyl?" (24.12.1990)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Höhere

Schilddrüsenkarzinom-Inzidenz in Deutschland

nach Tschernobyl?

Santo Ahuja

und Helmut Ernst

ach dem Kernkraft- werkunglück von Tschernobyl in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 gelang- ten große Radioaktivitätsmengen in die Atmosphäre. Erst nach zehn Ta- gen, am 6. Mai 1986, konnte die Frei- setzung radioaktiver Stoffe an die Umwelt weitgehend beendet werden.

Schätzungsweise 40 Millionen Ci (1480 Millionen GBq) verschiedener Jodisotope, drei Millionen Ci (111 Millionen GBq) Caesium-137, 50 Millionen Ci (1850 Millionen GBq) Radioxenon und Radiokrypton wur- den in die Atmosphäre geschleudert (3). Entsprechend der zum Zeit- punkt des Reaktorunglücks herr- schenden Windrichtung kam es zu- nächst zu einer Verschleppung der Radioaktivität in nordwestliche Richtung. Wenige Tage später dreh- te der Wind, und die Aktivitätswolke zog über Osteuropa, Zentral- und Südwesteuropa, wobei besonders ho- he Aktivitäten von Jod-131, Caesi- um-134 und Caesium-137 in Ostpo- len, Süddeutschland und der West- schweiz auftraten. Regen erhöhte lo- kal den fallout und bedingte eine stark unterschiedliche Radioaktivi- tätsverteilung (3). Die höchsten in der Bundesrepublik gemessenen Luftwerte lagen bei 130 Bq/m 3 (3,5 nCi/m3 ). Nach zwei bis drei Tagen fielen sie rasch wieder ab. Nuklid- analysen der Luft zeigten, daß sich diese Radioaktivität neben zahlrei- chen weiteren Spaltprodukten - die Zahl der radioaktiven Spaltprodukte im Reaktorschutzbehälter nimmt zu,

Die Bevölkerung der Bundesre- publik Deutschland wurde ins- besondere im süddeutschen Raum infolge der Reaktorkatastro- phe von Tschemobyl einer niedri- gen Strahlenbelastung ausge- setzt. Jod-131 verursachte vorwie- gend die kurzfristige Strahlenex- position, die meist unter 5 mSv (0,5 Rem) lag. Modelle sind zur Risikoabschätzung einer Kar.- nominduktion durch Strahlen- dosen unterhalb etwa 90 mSv (9 Rem) nicht anwendbar, da in die- sem Bereich bisher noch keine signifikante Korrelation zwischen Strahlenexposition und Karzinoge- nese gefunden wurde. Langjähri- ge Beobachtungen haben keinen Hinweis ergeben, daß eine Jod-131-Exposition in diesem niedrigen Dosisbereich eine Er- höhung der Inzidenz bewirkt.

je länger die Brennstäbe in Betrieb waren (16) - zu jeweils etwa 40 Pro- zent aus Jod-131 (Halbwertzeit 8,05 Tage) und Jod-132 (Halbwertzeit 2,3 Stunden) und zu etwa 20 Prozent aus den Isotopen Caesium-137 (Halb- wertzeit 30 Jahre) und Caesium-134 (Halbwertzeit 2 Jahre) zusammen- setzte (24).

Die kollektive Strahlendosis der 135 000 Evakuierten, die noch 36 Stunden lang in einem Umkreis von Klinik für Radiologie, Nuklearmedizin und physikalische Therapie, Abteilung für Strah- lentherapie (Leiter: Professor Dr. med. Hel- mut Ernst) am Klinikum Steglitz der Freien Universität Berlin

bis zu 30 km vom Reaktor gelebt hat- ten, betrug nach groben Schätzun- gen allein durch externe Strahlung 16 000 Personen-Sv (1,6 Millionen Personen-Rem). Diejenigen Perso- nen, die in einem Abstand von 3 bis 15 km vom Kernkraftwerk entfernt gelebt hatten, erhielten schätzungs- weise durchschnittlich Strahlendo- sen von 350 bis 550 mSv (35 bis 55 Rem) (26).

In Süddeutschland und in der Schweiz lag die geschätzte Strahlen- belastung durch Inhalation, Ingesti- on und externe Strahlung bei 1 bis 1,5 mSv (0,1 bis 0,15 Rem), wobei angenommen wurde, daß für Kinder die Dosis zwei- bis dreimal höher war (50).

Die kurzfristige Strahlenbela- stung durch die in die Atmosphäre gelangte Radioaktivität war überwie- gend durch Jod-131 verursacht. Des- halb wurden am Klinikum Steglitz der FU Berlin in der Zeit vom 30.

April bis 26. Mai 1986 insgesamt 220 Personen auf ihren Jod-131-Gehalt der Schilddrüse untersucht. Die Strahlenbelastung der Schilddrüse ist abhängig von der Menge der in- korporierten Jod-131-Aktivität, vom endogenen Jodpool (Jodmangel/Jod- überladung), von der Schilddrüsen- funktionslage, von der intrathyreo- idalen Verweildauer von Jod-131, von Lebensalter und Schilddrüsen- gewicht.

Die stichprobenartigen Untersu- chungen ergaben, daß bei 90 Prozent derjenigen Personen, die sich seit der Reaktorkatastrophe bis zur Schilddrüsenmessung ununterbro- chen in Berlin aufgehalten hatten, die über der Schilddrüse gemesse- ne Jod-131-Aktivität unterhalb des Wertes der Raumluft lag. Bei den A-4114 (42) Dt. Ärztebl. 87, Heft 51/52, 24. Dezember 1990

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restlichen 10 Prozent betrug die Strahlenbelastung der Schilddrüse im Median 350 p,Sv (35 mRem). Sehr viel höher war die Strahlenexpositi- on bei denjenigen Personen, die sich in Warschau (Median: 1850 gv = 185 mRem), noch höher bei drei Per- sonen, die sich in der Ukraine im Be- zirk Lemberg aufgehalten haten (10 000 bis 75 000 itSv = 1000 bis 7500 mRem).

Wie kann das Risiko einer strah- lenbedingten Karzinominduktion ab- geschätzt werden?

Modelle zur

Risikoabschätzung

Fast alle epidemiologischen Da- ten stammen von Gruppen, die ho- hen akuten Strahlenexpositionen ausgesetzt waren, wie die Überle- benden der Kernwaffenabwürfe. Ei- ne Risikoabschätzung für niedrige Strahlendosen und geringe Dosislei- stung muß daher unter Verwendung eines Modells errechnet werden, wo- bei von hohen auf niedrige Strahlen- dosen extrapoliert wird. Zwei Mo- delle konkurrieren miteinander: das lineare Modell, bei dem eine gerade Linie zwischen hoher Dosis und

„Null-Dosis" gezogen wird, der Strahleneffekt also kontinuierlich von der hohen Dosis bis zur „Null- Dosis" abnimmt, und das linear-qua- dratische Modell, bei dem der Strah- leneffekt bei niedrigen Dosen nur sehr gering ist und erst ab einer be- stimmten „Schwelle" linear ansteigt.

Tier- und In-vitro-Versuche spre- chen bei locker ionisierenden Strah- len eher für die Anwendung des line- ar-quadratischen Modells (34).

Auch beim Menschen gibt es bei einigen Tumoren Hinweise auf einen quadratischen Wirkungseffekt, bei- spielsweise beim strahleninduzierten Magenkarzinom: Strahlendosen un- ter 1000 mSv (100 Rem) beinhalten nur ein geringes Induktionsrisiko (8).

Anders verhält es sich beim strahlen- induzierten Schilddrüsen- und Mam- makarzinom. Hier sprechen epide- miologische Untersuchungen eher für einen linearen Wirkungseffekt (27, 37, 45). Ionisierende Strahlung allein bedingt wahrscheinlich einen quadratischen Verlauf der Dosis-

Wirkungs-Kurve. Linear wird sie wohl erst durch das Hinzukommen endogener und exogener Cofaktoren (46). Als Cofaktoren für die Entste- hung des strahleninduzierten Schild- drüsenkarzinoms werden ein TSH- Stimulus (5, 33), aber auch hormo- nelle Umstellungen während der Pu- bertät (32) diskutiert. Bei Strahlen- dosen zwischen 0 und 90 mSv (0 bis 9 Rem) ist bisher jedoch noch keine signifikante Korrelation zwischen Strahlenexposition und Karzinoge- nese gefunden worden (35).

Die Abschätzung des strahlen- induzierten Krebsrisikos ist neben dem Verlauf der Dosis-Wirkungs- Kurve (Extrapolationsformel) auch abhängig vom angewandten Risiko- modell. Wenn die in einem beliebi- gen Lebensalter einwirkende Strah- lung nach einer minimalen Latenz- zeit zu einer Zunahme der Krebsin- zidenz führt, dann kann diese Zu- nahme proportional zur spontanen Krebsinzidenz sein (relatives Risiko- modell), oder aber es kann eine kon- stante Zahl sein (absolutes Risiko- modell) (2). Das relative Risikomo- dell wird derzeit bevorzugt (41), zu- mindest für einige strahleninduzierte Karzinome, wie beispielsweise das Mammakarzinom (47).

Latenzzeit

Epidemiologische Studien wer- den ebenso wie Tierversuche durch unterschiedlich lange Latenzzeiten zwischen Strahlenexposition und kli- nischer Karzinommanifestation , er- schwert. So liegt beim Menschen die minimale Induktionszeit für Leukä- mien bei zwei Jahren, für manche so- lide Tumoren bei 10 bis 30 Jahren (39). Strahleninduzierte Schilddrü- senkarzinome sind nach frühestens vier Jahren zu erwarten (40). Auch die Risikodauer ist unterschiedlich.

Beispielsweise treten Leukämien vorwiegend sieben bis zehn Jahre nach Strahlenexposition auf, nach 20 Jahren haben sich die Inzidenzzah- len wieder normalisiert (1, 23). Das Risiko eines strahleninduzierten Schilddrüsenkarzinoms kann lebens- lang bestehen (44), jedoch scheint der Inzidenzgipfel bei 20 bis 25 Jah- ren zu liegen (9).

Bevorzugte Organe

75 bis 80 Prozent aller strah- leninduzierten Malignome sind Leuk- ämien, Mamma-, Schilddrüsen- und Lungenkarzinome sowie gastrointe- stinale Tumoren. Es besteht keine Korrelation zwischen natürlicher In- zidenz verschiedener Karzinomfor- men und der Häufigkeit strahlenindu- zierter bösartiger Neubildungen (46).

Kritische Strahlendosis

Bei Überlebenden der Kernwaf- fenabwürfe war ab Strahlendosen von 500 mSv (50 Rem) ein Ansteigen der Leukämieinzidenz zu verzeich- nen (1, 23). Die Schilddrüsenkarzi- nominzidenz war bei denjenigen Per- sonen, die einer Strahlung von 0,5 Gy (50 Rad) und mehr ausgesetzt waren, signifikant erhöht (36). Frau- en und Personen unter dem 20. Le- bensjahr waren gefährdeter. Aller- dings sind strahleninduzierte Schild- drüsenkarzinome vereinzelt bereits ab 0,07 Gy (7 Rad) externer Rönt- genstrahlung beschrieben worden (31). Somit können bereits niedrige Strahlendosen als Anstoß für die Entwicklung von Karzinomen wir- ken. Bei zu geringer Dosis reicht der Stimulus zur Tumorbildung nicht aus, bei zu hohen Dosen kommt es zu einer Schädigung der Zellteilung, eine Tumorbildung wird verhindert.

So wird die Gefahr der Entstehung eines strahleninduzierten Schilddrü- senkarzinoms ab Dosen von 15 bis 20 Gy (1500 bis 2000 Rad) Röntgen- strahlung wieder geringer.

Dosisleistung, -fraktionierung, -verteilung:

Die karzinominduzierende Strah- lenwirkung ist nicht nur von der Do- sis abhängig, sondern es scheint auch eine Abhängigkeit von der Dosislei- stung (Dosis pro Zeiteinheit) zu be- stehen (17, 49). Die Homogenität der Dosisverteilung hat möglicher- weise ebenfalls einen Einfluß (22).

Bei diagnostischem oder therapeu- tischem Einsatz spielt auch die Do- sisfraktionierung

eine Rolle (44).

Eine längerdauernde Strahlung (über intern aufgenommene Radio- isotope) induziert weniger Tumoren Dt. Ärztebl. 87, Heft 51/52, 24. Dezember 1990 (43) A-4115

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als eine gleiche Strahlendosis, die in kurzer Zeit appliziert wurde, da bei niedriger Dosisleistung subletale Schäden repariert werden können (17, 18, 29).

Die Strahlung von Jod-131 wird mit einer maximalen Dosisleistung von 0,06 bis 0,07 Gy/Minute (6 bis 7 Rad/Minute emittiert (13, 30), wäh- rend die Dosisleistung externer Strahlung 1 Gy/Minute (100 Rad/Mi- nute) und mehr beträgt. Bei Dosis- leistungen unter 1 Gy/Minute (100 Rad/Minute) nimmt der biologische Effekt erheblich ab, während er für Dosisleistungen zwischen ein bis zehn Gy/Minute (100 bis 1000 Rad/

Minute) gleich bleibt (18). Beim Menschen ist Jod-131 im Hinblick auf die Induktion eines Schilddrü- senkarzinoms etwa viermal weniger wirksam als externe Strahlung (22).

Die Theorie der dosisleistungs- abhängigen Karzinominduktion wird offenbar auch durch Untersuchun- gen mit dem kurzlebigen Isotop Jod-132 bestätigt: Der biologische Effekt einer Jod-132-Strahlung ist größer als der einer Jod-131-Strah- lung (4, 28, 49).

Erfahrungen mit Jod-131

Bei Hyperthyreoseb eh andlung mit hohen Strahlendosen (80 Gy = 8000 Rad und mehr) von Jod-131 ließ sich insbesondere nach Therapie im Erwachsenenalter kein vermehr- tes Auftreten strahleninduzierter Schilddrüsenkarzinome nachweisen.

Dies kann auf den zellabtötenden oder zellsterilisierenden Effekt der hohen Strahlendosen zurückzufüh- ren sein, aber auch auf eine relativ kurze Verlaufsbeobachtungszeit.

So fanden Dobyns et al. (10) bei 21 714 wegen Hyperthyreose mit Ra- diojod therapierten Patienten keine höhere Schilddrüsenkarzinominzi- denz (mittlere Nachbeobachtungs- zeit: 8 Jahre). Ebenso stellten Holm et al. (21) nach einer mittleren Beob- achtungszeit von 13 Jahren bei 2727 wegen Hyperthyreose Radiojod-the- rapierten Patienten im Vergleich zur Schilddrüsenkarzinominzidenz der schwedischen Gesamtbevölkerung keine höhere Inzidenz maligner Schilddrüsentumoren fest. Safa et al.

(42) berichteten von 273 Patienten, die im Alter zwischen einem und zehn Jahren wegen Hyperthyreose mit Jod-131 behandelt wurden. Wäh- rend einer mittleren Verlaufsbeob- achtungszeit von elf Jahren entwik- kelten zwei ein Schilddrüsenkarzi- nom. Obwohl diese Zahl höher war als die spontan erwartete Rate, wur- de der Unterschied noch nicht als statistisch signifikant angesehen.

Bei niedrigen, diagnostischen Jod-131-Dosen (in der Regel unter 1 Gy = 100 Rad) besteht kein er- höhtes Schilddrüsenkarzinomrisiko.

Dies bestätigten Untersuchungen von Glöbel und Mitarbeitern (15) an nahezu 14 000 Patienten. Nach einer

Erfahrungen mit radioaktivem fallout

Nach den oberirdischen Kern- waffenversuchen in den USA in den 50er Jahren wurden 1378 Kinder, die dem Jod-131-fallout ausgesetzt wa- ren, über 14 Jahre nachuntersucht.

Die durchschnittliche geschätzte Strahlendosis hatte bei 460 mSv (46 Rem) mit einem Maximum bei zirka 1200 mSv (120 Rem) gelegen. Inner- halb des Nachbeobachtungszeitrau- mes traten keine Schilddrüsenkarzi- nome auf (38).

Auch nach dem Reaktorunfall von Windscale in Großbritannien im Jahre 1957, bei dem Radioaktivität in die Atmosphäre gelangte, wurden keine Spätfolgen bei der exponierten Bevölkerung gesehen. Die von der Schilddrüse aufgenommene Radio- aktivität war fast ausschließlich Jod-131. Die Dosis lag bei 100 bis 350 mSv (10 bis 35 Rem) für Kinder und 50 bis 200 mSv (5 bis 20 Rem) für Erwachsene (7, 43).

Anders verhielt es sich bei den Einwohnern der Marshall-Inseln, die 1954 nach dem Wasserstoffbomben- Versuch auf dem Bikini-Atoll radio- aktivem fallout ausgesetzt waren.

Die Strahlenbelastung war hier durch externe Beta- und Gamma- strahlung sowie durch inkorporierte Strahlung verschiedener Radionukli- de einschließlich verschiedener Ra- diojodisotope bedingt (6). Die Ra- diojodisotope waren vorwiegend die

mittleren Verlaufsbeobachtung von 20 Jahren stellten Holm et al. (22) bei 35 074 Patienten, deren Schild- drüsen einer diagnostischen Jod-131- Strahlendosis von 0,5 Gy (50 Rad) ausgesetzt waren, kein erhöhtes Risi- ko fest. Dies galt auch für die fast 2000 unter 20jährigen Patienten aus dieser Studie Ähnlich waren die Er- gebnisse einer amerikanischen Un- tersuchung an 443 Personen, die während der Kindheit diagnostische Jod-131-Dosen erhalten hatten (mittlere Schilddrüsendosis 0,94 Gy

= 94 Rad): Innerhalb eines Beob- achtungszeitraumes von mindestens 16 Jahren wurde kein Schilddrüsen- karzinom gefunden (19).

kurzlebigen Nuklide Jod-132 (t 112 = 2,3 h), Jod-133 (t1/2 = 20,8 h) und Jod-135 (t 112 = 6,7 h) mit höheren Energien und einer höheren Dosis- leistung im Vergleich zu Jod-131, das nur zu etwa zehn bis 20 Prozent der gesamten Schilddrüsendosis beitrug.

Es wurde geschätzt, daß die Bewoh- ner der Insel Rongelap, auf der die größten fallout-Mengen niedergin- gen, eine Ganzkörperstrahlung von 1,75 Gy (175 Rad) und eine durch- schnittliche Schilddrüsendosis von 3,35 Gy (335 Rad) erhielten. Inner- halb eines Beobachtungszeitraumes von 22 Jahren entwickelten sieben der 243 strahlenexponierten Bewoh- ner ein Schilddrüsenkarzinom. Alle sieben waren Frauen. Aus den ge- nannten Gründen sind die von den Bewohnern der Marshall-Inseln ge- wonnenen Daten nicht auf die Situa- tion in Deutschland nach der Reak- torkatastrophe von Tschernobyl übertragbar.

Nach den Atombombenabwür- fen auf Hiroshima und Nagasaki kam es zu einem signifikanten Anstieg der Schilddrüsenkarzinominzidenz bei Personen, die einer Strahlung von 0,5 Gy (50 Rad) und mehr ausgesetzt wa- ren (36). Frauen und Personen unter dem 20. Lebensjahr waren gefährde- ter. Ein erhöhtes Risiko bestand bis zur Altersgruppe von 50 Jahren. Die Atombombenabwürfe führten in Na- gasaki im Beobachtungszeitraum von 1959 bis 1978 zu einer elfprozentigen Zunahme aller Karzinomformen. Be- sonders hoch war die Inzidenzzunah- Dt. Ärztebl. 87, Heft 51/52, 24. Dezember 1990 (45) A-4117

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me bei Leukämie (42 Prozent), für Schilddrüsenkarzinome betrug sie 27 Prozent (48).

Natürliche Strahlung

Die natürlich bedingte effektive Äquivalentdosis beträgt in Berlin et- wa 1 mSv (100 mRem)/Jahr. Sie hängt unter anderem von der Hö- henlage, von der Radioaktivität des Gesteins usw. ab und liegt in Bayern um etwa 50 mRem/Jahr höher. Ver- schiedene Untersuchungen haben keine negativen Auswirkungen einer höheren natürlichen Dosis auf die Gesundheit der Bevölkerung erge- ben. So fanden sich in den USA kei- ne Unterschiede in der Krebshäufig- keit und Kindersterblichkeit in drei Regionen mit unterschiedlich hoher natürlicher Dosis (118, 178 und 210 mRem/Jahr) (14). In einer chinesi- schen Studie wurden keine signifi- kanten Unterschiede hinsichtlich Morbidität und Mortalität zwischen zwei Bevölkerungsgruppen gefun- den, die einer natürlichen Strahlung von 720 bzw. 1960 !iSv (72 bzw. 196 mRem)/Jahr ausgesetzt sind (20).

Es wird geschätzt, daß nach dem Kernkraftwerkunglück von Tscher- nobyl in Süddeutschland über einige Jahre hinweg mit einer zusätzlichen Strahlenexposition von jährlich 50 bis 150 iiSv (fünf bis 15 mRem) zu rechnen ist.

Natürliche Krebs- inzidenz/-mortalität

In der Bundesrepublik Deutsch- land erkranken jährlich etwa 230 000 Personen neu an Krebs (25), etwa 155 000 sterben jährlich an Krebs (11), das heißt, etwa 21 Prozent aller Todesfälle sind auf eine Krebser- krankung zurückzuführen. Je nach Risikomodell ergeben sich 75 bis 500 (die meisten Schätzungen liegen zwi- schen 100 und 200) zusätzliche Krebstote pro 10 mSv (1 Rem) pro eine Million Menschen. Dies würde für die Krebsmortalität in der Bun- desrepublik eine relative Zunahme von nur 0,04 bis 0,24 Prozent der et- wa 210 000 normalerweise pro Milli- on Sterbefälle erwarteten Krebsto- desfälle bedeuten.

Schlußfolgerungen

> Für die Berliner Bevölke- rung betrug die durch die Reaktor- katastrophe von Tschernobyl beding- te zusätzliche Strahlenbelastung der Schilddrüse nur einen Bruchteil der natürlichen Strahlenexposition. Da- mit ist mit an Sicherheit grenzen- der Wahrscheinlichkeit kein erhöh- tes Schilddrüsenkarzinomrisiko ge- geben.

> Bei den höheren Strahlendo- sen, wie sie in Süddeutschland, War- schau usw. auftraten, ist bei der Risi- koabschätzung die etwa um den Fak- tor 4 geringere Karzinogenität der protrahierten Strahlung mit niedri- ger Dosisleistung im Vergleich zur

Geriatrisches Assessment

Applegate und Mitarbeiter führ- ten eine randomisierte Studie in ei- ner Reha-Klinik durch, um den Ef- fekt der Behandlung in einer Abtei- lung mit geriatrischem Assessment bezüglich körperlicher Leistungsfä- higkeit, Heimeinweisung und Morta- lität zu studieren. Patienten mit be- einträchtigter körperlicher Funktion, die an akuten medizinischen oder chirurgischen Krankheiten litten und als Risikopatienten für eine Heim- einweisung angesehen wurden, er- hielten randomisiert Behandlung entweder in einer Abteilung mit ger- iatrischem Assessment (n = 78) oder mit üblicher Therapie (n = 77).

Nach sechs Monaten wiesen die Patienten in der Assessment-Abtei- lung eine signifikant deutlichere Verbesserung in drei von acht grund- legenden Aktivitäten des täglichen Lebens auf verglichen mit der her- kömmlichen Therapie (p = 0.05). Pa- tienten mit geringerem Risiko zur Heimeinweisung zeigten gar eine Leistungszunahme in sieben von acht Aktivitäten. Sowohl sechs Wo- chen als auch sechs Monate nach Randomisation lebten signifikant mehr Patienten der Assessment-Ab- teilung zuhause (79 vs. 61%). Bei der Nachuntersuchung nach einem Jahr

externen Photonenstrahlung mit ho- her Dosisleistung zu berücksichti- gen. Trotzdem erscheint auch hier das Risiko sehr niedrig.

Herrn Professor Dr.-Ing. Peter Koeppe danken wir für wertvolle Anregungen und die kritische Durchsicht des Manuskripts.

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonder- druck, anzufordem über die Verfasser.

Anschrift für die Verfasser:

Dr. med. Santo Ahuja

Abteilung für Strahlentherapie Universitätsklinikum Steglitz Hindenburgdamm 30 W-1000 Berlin 45

FÜR SIE REFERIERT

wiesen die Kontrollpatienten signifi- kant höhere Pflegeheimaufenthalte von sechs Monaten oder länger auf

(10 vs. 3; p = 0.05). Es bestand jedoch kein Unterschied zwischen beiden Gruppen in der mittleren Liegedau- er in Krankenpflegeeinrichtungen (Akut-Krankenhaus, Reha-Klinik, Pflegeheim). Die Überlebensrate zeigte eine Tendenz geringer Morta- lität in der Patientengruppe, die in der Assessment-Abteilung behandelt wurden; in der Gruppe der Patienten mit geringerem Risiko zur Heimein- weisung war der Unterschied signifi- kant (p = 0.05).

Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß die Behandlung in einer Assessment-Abteilung die grundle- genden Funktionen zur Bewältigung des täglichen Lebens bessert, das Ri- siko der Heimeinweisung reduziert und die Mortalität senken kann.

Dies gilt insbesondere für Patienten mit moderatem Risiko für eine Heimeinweisung. nkl

Applegate, W. B., S. T. Miller, M. J. Gra- ney, J. T. Elam, R Burns, D. E. Akins: A randomized, controlled trial of a geriatric assessment unit in a community rehabilit- ation hospital. N Engl J Med 1990; 322:

1572-8.

Dr. W. B. Applegate, 66 N. Pauline, Suite 232, Memphis, TN 38163.

A-4118 (46) Dt. Ärztebl. 87, Heft 51/52, 24. Dezember 1990

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