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Archiv "Zur Frage gesundheitlicher Wirkungen nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl" (28.07.1995)

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(1)

Zur Frage

gesundheitlicher Wirkungen nach dem Reaktorunfall

in Tschernobyl

Angeborene Fehlbildungen und Mortalität bis zum Ende des ersten Lebensjahres

Der Reaktorunfall in Tschernobyl, Ende April 1986, ist auch nach neun Jahren nicht vergessen. Sorgen um mögliche Auswirkungen der radioaktiven Kontami- nation auf Ungeborene und Kleinkinder beherrschten über einen längeren Zeit- raum die öffentliche Diskussion. Aufgrund des Wissensstandes wurde zwar von der Strahlenschutzkommission bald nach dem Unfall festgestellt, daß bei der geringen zusätzlichen Strahlenexposition mit akuten gesundheitlichen Schäden nicht zu rechnen sei. Trotzdem bestand die Öffentlichkeit darauf, diese Annah- me wissenschaftlich zu überprüfen. In Bayern, dem Bundesland mit der höch- sten radioaktiven Kontamination, wurde eine Studie durchgeführt, die die Frage einer Zunahme von angeborenen Fehlbildungen sowie von perinataler Mortalität und Säuglingssterblichkeit nach dem Unfall untersuchte.

Angela Schoetzau Fredericus von Sonten Cornelia In

Bernd Grosche

D

urch den Unfall im Kernkraft- werk Tschernobyl am 26.

April 1986 wurde eine große Menge radioaktiver Substan- zen in die Atmosphäre freigesetzt und über weite Teile Europas verteilt. Die Radioaktivitätsablagerungen in der Bundesrepublik Deutschland waren infolge unterschiedlicher Wetterbe- dingungen regional sehr inhomogen mit einem starken Süd-Nord-Gefälle.

Bayern war das am stärksten konta- minierte Bundesland mit den höch- sten Aktivitätskonzentrationen in ei- nigen Gebieten im Voralpenland und im Bayerischen Wald. Die zusätzliche mittlere effekive Dosis betrug nach den Berechnungen der Strahlen- schutzkommission (27) im ersten Fol- gejahr nach dem Unfall für Kinder im Bereich des Voralpengebietes 1,2 mSv, im Bundesgebiet südlich der Do- nau 0,6 mSv und im Bundesgebiet nördlich der Donau 0,2 mSv. Im Ver- gleich dazu liegt die durch die natürli- che Strahlenexposition bedingte mitt- lere effektive Dosis bei etwa 2,4 mSv pro Jahr.

Der Unfall in Tschernobyl löste in Deutschland wie in anderen eu- ropäischen Ländern eine lang anhal- tende Beunruhigung in der Bevölke- rung aus. Die Angst vor schädlichen Einflüssen auf Schwangere und Säug- linge stand im Mittelpunkt der öffent- lichen Diskussion. In den folgenden Jahren wurden in einer Reihe eu- ropäischer Länder epidemiologische Studien zur Frage eines Anstiegs von Fehlbildungshäufigkeiten (6, 7, 9, 11, 13, 16, 19, 28) und perinataler Morta- lität (2, 11, 15, 16) durchgeführt. In keiner dieser Untersuchungen wurde ein Effekt beobachtet, der mit dem Unfall in Tschernobyl in Zusammen- hang gebracht werden konnte. Arbei- ten zum reproduktiven Verhalten zeigten hingegen einen zeitlich be-

grenzten Rückgang der Geburtenra- ten im ersten Quartal 1987 (3, 8, 12, 15, 21, 26, 31) sowie eine Zunahme von Schwangerschaftsabbrüchen in den Monaten nach dem Unfall (3, 16, 17, 21, 25).

In der Bundesrepublik Deutsch- land wurden die Daten der Perinatal- erhebungen Bayerns und Niedersach- sens zur Frage eines Tschernobyl-Ef- fektes ausgewertet (29, 30). Weder der räumliche Vergleich zwischen den beiden Bundesländern noch der zeit- liche Vergleich vor und nach dem Un- fall zeigten eine Zunahme in der Häu- figkeit fehlgebildeter Neugeborener.

Ebensowenig war eine Häufung von Totgeborenen zu verzeichnen. In ei- ner weiteren deutschen Studie wurde allerdings über eine Erhöhung von Frühsterblichkeit und perinataler Mortalität in Süddeutschland nach

Institut für Strahlenhygiene (Leiter: Dir. u. Prof.

PD Dr. W. Burkart), Bundesamt für Strahlen- schutz

dem Unfall berichtet (22). Schließlich wurde ein Cluster von Neugeborenen mit freier Trisomie 21 in West-Berlin im Januar 1987 mit dem radioaktiven Fallout in einen ursächlichen Zusam- menhang gebracht (22, 24).

Das anhaltende öffentliche Inter- esse sowie die ungenügenden wissen- schaftlichen Erkenntnisse über die Auswirkungen ionisierender Strah- lung im Niedrig-Dosis-Bereich auf die pränatale menschliche Entwicklung waren die Begründungen dafür, in dem durch den Unfall am höchsten kontaminierten Bundesland Bayern eine Studie durchzuführen, die der Frage einer Zunahme von perikon- zeptionellen oder frühembryonalen Schädigungen sowie der Mortalität bei Neugeborenen und Säuglingen nachgehen sollte. Die relativ späte Veröffentlichung der Ergebnisse ist darauf zurückzuführen, daß in Er- mangelung eines funktionierenden Fehlbildungsregisters in der Bundes- republik die Daten zum Fehlbildungs-

(2)

Bodenkontamination mit Radiocäsium (kBq/m 2) in den bayerischen Re- gierungsbezirken, bezogen auf den 1. Mai 1986

Juni bis August 1987

September bis November 1987

5 N

17 762 13 942 16 667 12 881

9 5 5 2

2 0 6 3

15 10 19

6 10 4 5

18 17 18 11

9 2 4

2 1 3 1

605 455 67

vorkommen erst retrospektiv erho- ben werden mußten.

Zielvariablen

In die Analyse wurden Kinder mit folgenden isolierten Fehlbildun- gen eines Organs oder Organsystems einbezogen: Neuralrohrdefekte (au- ßer Anenzephalus), Anophthalmus, Mikrophthalmus und Katarakt, schwere Fehlbildungen des Herz- Gefäß-Systems, Gaumenspalten und Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Atre- sien des Magen-Darm-Kanals, Re- duktionsanomalien der Extremitäten, Zwerchfelldefekte, Omphalozele und Gastroschisis. Außerdem wurden Kinder mit Morbus Down und solche mit zufälligen Kombinationen multi- pler Fehlbildungen, die sich keiner bekannten Krankheitseinheit zuord- nen ließen, in die Untersuchung mit aufgenommen Zielvariablen für die

Regierungsbezirk Mittelwert

Oberbayern 32

Niederbayern 22

Schwaben 34

Oberpfalz 11

Oberfranken 10

Mittelfranken 11

Unterfranken 5

Eigene Berechnungen nach (1)

Sterblichkeit waren perinatale Morta- lität sowie Gesamtsterblichkeit bis zum Ende des ersten Lebensjahres (dazu zählen Totgeborene, in der er- sten Lebenswoche Verstorbene und nach der ersten Lebenswoche Ver- storbene). Außerdem wurden Fehl- bildungen als Todesursache im ersten Lebensjahr analysiert.

Standardabweichung 24

21 23 9 6 9 4

Datenerhebung

Für die Ermittlung der Fehlbil- dungen wurden Kinder der Geburts- jahrgänge 1984 bis 1987 mit Wohnsitz in Bayern erfaßt, die während ihrer ersten beiden Lebensjahre wegen ei- ner angeborenen Fehlbildung in eine bayerische Kinderklinik, kinderchir- Tabelle 2

Lebendgeborene und Fallzahlen der Kinder mit isolierten Fehlbildungen (IFB) in Südbayern (S) und Nordbay- ern (N) im Vergleichszeitraum und den untersuchten Zeitintervallen

Januar 1984 bis Dezember1986 bis März bis April 1986 Februar 1987 Mai 1987

S N S N S N

Lebendgeborene 146 557 114 624 16 164 12 473 16 849 13 155

Neuralrohrdefekte 63 68 9 8 5 11

(ohne Anenzephalus)

An-/Mikrophthal- 32 20 2 4 4 0

mus, Katarakt

schwere Herz-Ge- 164 122 15 14 24 12

fäß-Fehlbildungen

Gaumen-Spalten 59 56 6 7 9 3

Lippen-Kiefer- 131 90 11 10 11 13

Gaumen-Spalten

Atresien des 65 40 10 3 5 6

Verdauungstraktes

Reduktionsano- 29 16 6 2 3 3

malien der Glied- maßen

Zwerchfelldefekte 38 27 4 0 4 0 5 6 7 1

Omphalozele und 24 16 3 2 3 4 2 2 2

Gastroschisis

IFB insgesamt 51 67 51 70 53 68

Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 30, 28. Juli 1995 (35) A-2063

(3)

Lebendgeborene

Januar 1984 bis April 1986

S N

146 557 114 624

Morbus Down 182 96

September bis November 1987 ORs ORN p 0,76 0,32 0,28

1,76 1,52 0,84

1,04 0,54 0,15

0,66 0,87 0,69 1,24 1,13 0,81

0,60 0,99 0,48

1,04 0,81 0,80

1,71 0,49 0,17 0,90 1,35 0,67

0,99 0,71 0,12 Tabelle 3

Lebendgeborene und Fallzahlen der Kinder mit multiplen Fehlbildungen (MFB) in Südbayern (S) und Nord- bayern (N) im Vergleichszeitraum und den untersuchten Zeitintervallen

Kinder mit zufälligen 222 212 N13-Kombinationen

MFB insgesamt 404 308

Januar bis April bis März 1987 Juni 1987

S N S N

16 095 12 778 16 927 13 177

20 7 26 17

20 25 20 27

32 46 44

Juli bis Oktober bis September 1987 Dezember 1987

S N S N

18 009 14 144 16 110 12 338

15 16 19 12

29 24 34 19

44 40 53 31

urgische oder kinderkardiologische Klinik aufgenommen worden waren.

Mit Ausnahme einer Belegklinik be- teiligten sich an der Erhebung alle in Frage kommenden bayerischen Kin- derkliniken sowie die beiden grenzna- hen großen Kinderkliniken in Ulm und Salzburg.

Die Daten zur perinatalen Mor- talität, zur Gesamtsterblichkeit und

zur Todesursache „Fehlbildungen"

wurden der amtlichen Statistik ent- nommen

Exposition

Als Indikator für die Strahlen- exposition wurde die spezifische Ak- tivität der Cäsium-Isotope 134 und

137 in Bodenproben zugrunde gelegt, die in einem Netz mit acht Kilometer Knotenabstand an insgesamt 1137 bayerischen Standorten gemessen worden war (1).

Aufgrund der gewonnenen Meß- werte wurden die drei südlichen bayerischen Regierungsbezirke Ober- bayern, Niederbayern und Schwaben als „höher kontaminiert" und die vier Tabelle 4

Odds-Ratios für Kinder mit isolierten Fehlbildungen (IFB) nach Tschernobyl in Südbayern (S) und Nordbayern (N) sowie p-Wert des Tests auf Gleichheit der Odds-Ratios für die untersuchten Geburtszeiträume

Fehlbildung

Neuralrohrdefekte (ohne Anenzephalus) An-/Mikrophthalmus, Katarakt

schwere Herz-Gefäß- Fehlbildungen Gaumen-Spalten Lippen-Kiefer- Gaumen-Spalten Atresien des Verdauungstraktes Reduktionsanomalien der Gliedmaßen Zwerchfelldefekte Omphalozele und Gastroschisis IFB insgesamt

Dezember 1986 bis März bis Mai 1987 Juni bis August 1987 Februar 1987

ORs ORN p ORs ORN p ORs ORN p 1,36 1,14 0,73 0,75 1,46 0,23 1,23 0,66 0,27

0,70 2,02 0,20 1,20 0,21 0,26 0,63 0,20 0,46

0,85 1,09 0,53 1,30 0,89 0,31 0,78 0,70 0,81

0,99 1,22 0,71 1,39 0,54 0,15 0,90 1,53 0,32 0,79 1,07 0,51 0,76 1,30 0,21 1,16 1,59 0,38

1,45 0,79 0,35 0,73 1,40 0,29 1,20 0,51 0,25

2,00 1,39 0,65 1,03 1,85 0,48 0,70 0,75 0,95

1,06 0,17 0,22 1,02 0,16 0,22 1,18 1,94 0,43 1,67 1,95 0,83 0,89 1,85 0,41 1,52 1,25 0,82

1,01 1,04 0,89 0,97 0,99 0,94 0,96 0,97 0,98

(4)

Tabelle 5

Odds-Ratios für Kinder mit multiplen Fehlbildungen (MFB) nach Tschernobyl in Südbayern (S) und Nordbay- ern (N) sowie p-Wert des Tests auf Gleichheit der Odds-Ratios für die untersuchten Geburtszeiträume

Fehlbildung Januar bis März 1987 April bis Juni 1987

ORs ORN p ORs ORN p

Morbus Down 1,02 0,70 0,39 1,25 1,58 0,49 Kinder mit zufälligen 0,84 1,08 0,42 0,80 1,13 0,26 FB-Kombinationen

Juli bis September 1987 Oktober bis Dezember 1987

ORs ORN p ORs ORN p

0,69 1,39 0,07 0,97 1,20 0,58 1,08 0,93 0,62 1,41 0,85 0,09 MFB insgesamt 0,91 0,94 0,89 0,99 1,26 0,29 0,89 1,06 0,45 1,20 0,95 0,32 nördlichen Regierungsbezirke Ober-

pfalz, Oberfranken, Mittelfranken und Unterfranken als „niedriger kon- taminiert" klassifiziert (Tabelle 1).

Der Expositionsstatus der Kin- der wurde aufgrund der regionalen Zugehörigkeit ihres Wohnortes zu den Kontaminationsgebieten ge- schätzt. Der Anteil von Fehlklassifi- zierungen aufgrund von Wohnsitzver- änderungen während der Schwanger- schaft oder nach der Geburt konnte nicht abgeschätzt werden, da diesbe- zügliche Angaben aus den Kranken- blättern der Kinder nicht hervorgin- gen. Auch liegen keine offiziellen Da- ten zu Wanderungsbewegungen von Frauen im gebärfähigen Alter auf Re- gierungsbezirksebene vor. Der Fehler infolge Wohnsitzveränderungen wird allerdings als gering erachtet, da die Kontaminationsgebiete relativ groß sind und Umzüge während der Schwangerschaft in der Regel inner- halb derselben Gemeinde oder deren Umkreis stattfinden.

Beobachtungszeitraum Bei der Festlegung des Beginns des Beobachtungszeitraums für die angeborenen Fehlbildungen wurden die strahlensensiblen Phasen der Konzeption und Organbildung berücksichtigt. Die Beobachtungs- phase für die isolierten Fehlbildungen beginnt mit Dezember 1986, um die Kinder zu erfassen, die sich zum Zeit- punkt der höchsten radioaktiven Kontamination im Mai 1986 in der sensiblen Phase der Organbildung be- fanden. Der Beginn des Beobach- tungszeitraums für Kinder mit Mor- bus Down oder zufälligen Kombina- tionen multipler Fehlbildungen wur-

de unter der Annahme einer zugrun- deliegenden Keimzellmutation auf den Januar 1987 festgelegt, da der Ge- burtstermin von Konzeptus im Mai 1986 frühestens für Januar 1987 be- rechnet wurde. So fällt zum Beispiel der errechnete Geburtstermin bei Konzeption am 30. April 1986 auf den 21. Januar 1987. Die Beobachtungs- zeit betrug für beide Gruppen ein Jahr, welches in vier Zeitfenster von jeweils drei Monaten unterteilt wur- de. Eine solche Aufteilung ermöglicht es, zeitlich enger umgrenzte Effekte zu entdecken, und erhöht zugleich die Fallzahlen für die statistische Analy- se. Als Vergleichszeitraum wurde das Zeitintervall von Januar 1984 bis April 1986 verwendet.

Der Beobachtungszeitraum für die perinatale Mortalität und Ge- samtsterblichkeit wurde auf zwei Jah- re festgelegt, beginnend mit dem Mo- nat Juni 1986, um ungünstige Schwan- gerschaftsausgänge und eine mögli- cherweise dadurch bedingte erhöhte Mortalität bereits kurz nach dem Un- fall erfassen zu können. Die Morta- litätsdaten wurden ebenfalls in Drei- monatsintervallen zusammengefaßt.

Eine Zuordnung der verstorbenen Säuglinge zu den Expositionsphasen ist aufgrund der engen zeitlichen Be- ziehung von Geburts- und Todesda- tum nur für die perinatal Verstorbe- nen möglich. Für postneonatal ver- storbene Säuglinge ist diese Zuord- nung nicht möglich, da keine Anga- ben zum Alter bei Eintritt des Todes vorliegen und der verstorbene Säug- ling in der amtlichen Statistik in dem Jahr gezählt wird, in dem er verstor- ben ist. Es muß sich dabei nicht not- wendigerweise um das Geburtsjahr handeln. Zur Berechnung der Basis- raten für die Mortalität wurde der

Zeitraum von Januar 1980 bis April 1986 verwendet.

Da die amtliche Statistik zur Zielvariablen „Fehlbildungen als To- desursache" nur Angaben pro Kalen- derjahr enthält, wurden diese Daten auf Jahresbasis analysiert.

Statistische Methoden Für die statistische Analyse wur- de ein Ansatz gewählt, der eine Kom- bination aus einem rein räumlichen und rein zeitlichen Vergleich darstellt.

Bezüglich der Fehlbildungen wurde für jedes Dreimonats-Intervall und jede der ausgewählten Fehlbil- dungsgruppen - getrennt für Süd- und Nordbayern - die Odds-Ratio, das heißt die Chance einer Fehlbildung nach Tschernobyl im Vergleich zu vorher, berechnet. Anschließend wur- de die Nullhypothese getestet, daß sich die Odds-Ratios der verschiede- nen Fehlbildungsgruppen für Südbay- ern nicht von denen der Vergleichsre- gion Nordbayern unterscheiden. Die Annahme bei dieser Vorgehensweise ist, daß sich eine durch Tschernobyl bedingte Veränderung der Fehlbil- dungsprävalenzen verstärkt im höher kontaminierten Süden beobachten lassen würde und folglich die Odds- Ratios in Südbayern höhere Werte aufweisen müßten als in Nordbayern.

Aufgrund der geringen Besetzungs- zahlen in einzelnen Fehlbildungs- gruppen wurde für die Berechnung der Testgröße eine Korrektur der Odds-Ratios vorgenommen, die darin besteht, daß zu den Fallzahlen jeweils 0,5 addiert wird (10).

Bei der Analyse der Zielvaria- blen der Mortalität wurden die in Bayern beobachteten Fallzahlen mit Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 30, 28. Juli 1995 (37) A-2065

(5)

Zeitintervall

Juni 1986 bis August 1986

September 1986 bis November 1986 Dezember 1986 bis Februar 1987 März 1987 bis Mai 1987

Juni 1987 bis August 1987

September 1987 bis November 1987 Dezember 1987 bis Februar 1988 März 1988 bis Mai 1988

Perinatale Mortalität

0 E O/E p-Wert

94 99,89 0,94 0,74 76 95,25 0,80 0,98 110 95,45 1,15 0,08 100 94,86 1,05 0,31 94 95,18 0,99 0,56 62 91,39 0,68 1,00 84 90,30 0,93 0,76 86 92,63 0,93 0,77

Gesamtsterblichkeit

0 E O/E p-Wert

137 145,23 0,94 0,76 126 156,44 0,81 0,99 180 153,26 1,17 0,02 159 150,48 1,06 0,25 142 139,32 1,02 0,42 118 149,16 0,79 1,00 145 151,80 0,96 0,72 142 144,91 0,98 0,61

pro 1.000 Lebendgeborene 3,5

-- -- Nordbayern - Südbayern

Errechnete Geburtstermine für Konzeptionen nach dem Unfall in Tschernobyl 2,5 -

1,5-

0,5-4

0 84

Abbildung 1: Mo- natsraten der Kin- der mit M. Down in Süd- und Nordbay- ern 1984 bis 1987 Tabelle 6

Perinatale Mortalität und Gesamtsterblichkeit in Nordbayern nach Tschernobyl: beobachtete Fallzahlen (0), er- wartete Fallzahlen (E), O/E und zugehörige p-Werte

erwarteten Fallzahlen verglichen, die anhand eines Standardisierungsver- fahrens berechnet wurden. Als Stan- dard diente die Bundesrepublik ohne Bayern. Dabei wurde dem zeitlichen Trend der Mortalität und dem unter- schiedlichen Niveau der Säuglings- sterblichkeit in Bayern und der übri- gen Bundesrepublik Rechnung getra- gen. Um die Gesamtirrtumswahr- scheinlichkeit bei der Vielzahl der durchgeführten Tests zu kontrollie- ren, wurde eine a-Adjustierung nach Horn (14) vorgenommen (a=0,05).

Ergebnisse

In den Tabellen 2 und 3 sind die Rohdaten der Analyse für die Fehlbil- dungen aufgelistet. Insgesamt wurden 2 565 Kinder mit schweren Fehlbil- dungen in die Berechnungen einbezo- gen -1772 im Vergleichszeitraum und 793 in den untersuchten Zeitfenstern.

Die Ergebnisse der statistischen Ana- lyse sind in den Tabellen 4 und 5 zu- sammengefaßt. Weder bei den Kin- dern mit isolierten noch bei denen mit multiplen Fehlbildungen läßt sich ein stabiles Verhältnis der süd- und nord- bayerischen Odds-Ratios zueinander erkennen. In keinem der vier betrach- teten Zeitintervalle konnte eine stati- stisch signifikante Abweichung der Odds-Ratios festgestellt werden.

In Abbildung 1 sind die Monats- raten der Kinder mit Morbus Down dargestellt. Die senkrechte Linie zu Beginn des Jahres 1987 trennt die Gruppe der Kinder, deren Konzepti- onstermin nach dem Unfall in Tscher- nobyl liegt, von den Kindern mit er- rechnetem Konzeptionstermin vor

dem Unfall. Für die im Januar 1987 Geborenen ist jedoch anzumerken, daß unter der Annahme einer norma- len Schwangerschaftsdauer ein gro- ßer Teil der Konzeptionen vor dem Tschernobyl-Fallout stattfand. Die Werte der monatlichen Raten für Down-Syndrom sind in beiden Regio- nen großen Schwankungen unterwor- fen; der höchste Wert findet sich in Nordbayern im Dezember 1986, der auf einer Fallzahl von zehn Kindern (Rate 2,45 Promille) basiert und da- mit zweieinhalb mal so hoch liegt wie der durchschnittliche Wert von 4,04 Kindern pro Monat (Rate 0,96 Pro- mille) über den Gesamtzeitraum 1984 bis 1987.

Da es sich bei keinem dieser zehn Kinder um ein Frühgeborenes han- delt, ist ein zeitlicher Zusammenhang zu dem Unfall in Tschernobyl nicht in Betracht zu ziehen. Die Raten zu Be- ginn des Jahres 1987 liegen sowohl in

Nordbayern als auch in Südbayern im Schwankungsbereich des Gesamtzeit- raums

Abbildung 2 zeigt den Verlauf der bayerischen Werte der Gesamt- sterblichkeit sowie der einzelnen Komponenten für die Jahre 1980 bis 1992. Im bezüglich des Reaktorun- falls in Tschernobyl besonders inter- essierenden Jahr 1987 ist die Rate der Totgeborenen und der postneonatal (nach der ersten Lebenswoche) Ver- storbenen gegenüber dem Vorjahr um je etwa 0,02 Prozentpunkte erhöht, während die Frühsterblichkeit weiter- hin rückläufig ist. Der Saldo dieser ge- genläufigen Trends ergibt einen An- stieg der Gesamtmortalität im Jahr 1987 um 0,018 Prozentpunkte ge- genüber dem Vorjahr.

In Abbildung 3 sind die Monats- werte der perinatalen Mortalität in Nord- und Südbayern in Form drei- gliedriger gleitender Durchschnitte

(6)

16- - Gesamtsterblichkeit postneonatale Sterblichkeit Frühsterblichkeit

-•- Totgeborene

Abbildung 2: Ge- samtsterblichkeit:

Totgeborene, Früh- sterblichkeit und postneonatale Sterblichkeit in Bay- ern 1980 bis 1992

pro 1.000 Lebend- und Totgeborene 18

12 10-

8- 6

"«. .......

... "*"•4,

•••”:•••••,....

01 , 11 1 1 1 . 1 1 1 e

80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 Jahr

4 14-

2- ... •■••

... ... •

Abbildung 3: Peri- natale Mortalität in Bayern 1980 bis 1992 (geglättete Monatswerte)

pro 1.000 Lebend- und Totgeborene 15

80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 Jahr

vallen war weder in Nordbayern noch in Südbayern ein signfikant erhöhter Wert zu verzeichnen.

Die Analyse der Todesursache

„Fehlbildungen" (Tabelle 8) erbrach- te für keine der beiden Regionen und keines der betrachteten Jahre 1986 bis 1987 eine statistisch signifikante Ab- weichung der beobachteten von den erwarteten Werten.

Diskussion

Faßt man die Ergebnisse der vor- liegenden Studie zusammen, so konn- te für Kinder, deren Konzeption in das erste Folgejahr nach dem Reak- torunfall in Tschernobyl fiel, keine Zunahme schwerer pränataler mor- graphisch dargestellt. Während die

perinatale Mortalität in Südbayern im Jahr 1987 keine Auffälligkeiten er- kennen läßt, weist die nordbayerische Kurve zu Beginn des Jahres eine Spit- ze auf. Diese Spitze spiegelt sich er- wartungsgemäß in der - hier nicht wiedergegebenen - Kurve für die Ge- samtsterblichkeit wider, zu der die pe- rinatale Mortalität etwa zwei Drittel beträgt.

Tabellen 6 und 7 geben die Er- gebnisse der statistischen Analyse der Mortalität wieder. Der erhöhte 0/E- Wert von 1,17 für die Gesamt-Sterb- lichkeit im Intervall Dezember 1986 bis Februar 1987 in Nordbayern er- wies sich unter Berücksichtigung des multiplen Testens als nicht signifi- kant. Auch in den übrigen Zeitinter-

Tabelle 7

Perinatale Mortalität und Gesamtsterblichkeit in Südbayern nach Tschernobyl: beobachtete Fallzahlen (0), er- wartete Fallzahlen (E), 0/E und zugehörige p-Werte

Zeitintervall Perinatale Mortalität Gesamtsterblichkeit

0/E p-Wert 0 E 0/E p-Wert

Juni 1986 bis August 1986 124 119,73 1,04 0,36 197 181,30 1,09 0,13 September 1986 bis November 1986 103 112,91 0,91 0,84 160 193,15 0,83 0,99 Dezember 1986 bis Februar 1987 114 115,89 0,98 0,58 200 193,81 1,03 0,34 März 1987 bis Mai 1987 124 113,93 1,09 0,18 201 188,24 1,07 0,19 Juni 1987 bis August 1987 116 113,81 1,02 0,43 178 173,51 1,03 0,38 September 1987 bis November 1987 121 111,08 1,09 0,18 200 188,83 1,06 0,22 Dezember 1987 bis Februar 1988 100 109,97 0,91 0,84 172 192,54 0,89 0,94 März 1988 bis Mai 1988 108 110,61 0,98 0,61 194 180,23 1,08 0,16

Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 30, 28. Juli 1995 (39) A-2067

(7)

Tabelle 8

Fehlbildungen (ICD 740-759) als Todesursache im Säuglingsalter in Nord- und Südbayern 1986 bis 1988: beobachtete und erwartete Fallzah- len, 0/E und p-Werte

Jahr Nordbayern Südbayern

0 E O/E p-Wert 0 E O/E

1986 114 127,5 0,89 0,89 153 146,2 1,05

1987 135 124,4 1,09 0,18 149 141,5 1,05

1988 114 127,1 0,90 0,89 143 144,8 0,99

p-Wert 0,30 0,25 0,54 phologischer Entwicklungsstörungen

gefunden werden. Die Analyse der Mortalität von Neugeborenen und Säuglingen zeigte in Nordbayern im Beobachtungsintervall Dezember 1986 bis Februar 1987 erhöhte Fall- zahlen an Totgeborenen und postneo- natal verstorbenen Säuglingen, die sich allerdings als nicht signifikant er- wiesen. Einen potentiellen Effekt, der auf den Einfluß der zusätzlichen Strahlenexposition zurückzuführen wäre, hätte man eher in der höher ex- ponierten Bevölkerung Südbayerns erwartet. Die Ergebnisse der Studie stehen in Einklang mit denen aus den Perinatalerhebungen, die die Daten aus dem höher kontaminierten Bay- ern mit denen aus dem niedriger kon- taminierten Niedersachsen miteinan- der verglichen (29, 30), sowie mit de- nen aus anderen europäischen Län- dern, die hinsichtlich der Radioakti- vitätszunahme nach dem Unfall in Tschernobyl mit Bayern vergleichbar waren.

Die Diskussion über einen Zu- sammenhang eines West-Berliner Clusters an Trisomie-21-Fällen im Ja- nuar 1987 mit dem radioaktiven Fall- out nach dem Unfall hält an (24). Die Hypothese der Autoren ist, daß der relative Jod-Mangel in der Bundesre- publik Deutschland zu einer verstärk- ten Aufnahme von radioaktivem Jod in den Tagen der höchsten Luftkonta- mination nach dem Unfall in Tscher- nobyl geführt habe, infolgedessen ein direkter Strahleneffekt auf die Gona- den zum Zeitpunkt der Konzeption in Betracht gezogen werden müsse. Bei

Diese Arbeit wurde im Rahmen des Untersu- chungsvorhabens „Strahlenbiologisches Umwelt- monitoring Bayern" vom Bayerischen Staatsmini- sterium für Landesentwicklung und Umweltfragen unterstützt.

Zutreffen dieser Hypothese wäre aber gerade in Südbayern, wo die höchste radioaktive Kontamination nach dem Unfall mit einer ausgepräg- teren Jod-Mangel-Situation als in Berlin zusammentraf, mit einer auf- fälligen Häufung von Morbus-Down- Kindern zu rechnen gewesen. Eine solche ließ sich anhand des Datenma- terials dieser Studie zu den Lebendge- borenen in Bayern nicht feststellen.

Die in einer überregionalen Studie (23) ermittelte Anzahl pränatal dia- gnostizierter chromosomal geschä- digter Feten mit errechnetem Ge- burtstermin Januar 1987 erbrachte für Südbayern nur einen zusätzlichen Fall an Trisomie 21, wodurch sich die Ge- samtzahl nur unwesentlich erhöht.

Eine 1989 erschienene Publikati- on (20), in der eine erhöhte Früh- sterblichkeit im Süden der Bundesre- publik Deutschland nach dem April 1986 festgestellt wurde, beruht auf ei- ner Abweichung der beobachteten Mortalitätsraten der Jahre 1986 und

1987 von den erwarteten Raten, die durch Extrapolation eines mathema- tischen Modells für die Jahre 1975 bis 1985 gewonnen wurden. In diesem Zeitraum zeigte die perinatale Morta- lität aufgrund intensiver gemeinsa- mer Bemühungen von Geburtshel- fern und Pädiatern einen steileren Abfall als in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, in der ein gewisser Sätti- gungseffekt eingetreten ist.

Das verwendete Modell zur Be- schreibung des zeitlichen Trends der Frühsterblichkeit wurde bezüglich der Modellannahmen kritisiert (4, 18), da diese der natürlichen Entwick- lung der Säuglingssterblichkeit nicht gerecht werden können. In der Mo- dellkonstruktion liegt der minimal zu erreichende Wert der Sterblichkeit

bei Null. Dieser Wert ist auch unter günstigsten Umständen nicht zu reali- sieren. Vielmehr ist davon auszuge- hen, daß sich die Mortalitätsraten un- ter optimalen Bedingungen auf einem niedrigeren Niveau als dem aktuellen einpendeln werden — bei einem zu- nehmend flacheren Abfall, wie er in den letzten Jahren bereits beobachtet werden konnte.

Das Fehlen adäquater Daten- quellen, die eine rasche Analyse der befürchteten gesundheitlichen Wir- kungen ermöglicht hätten, begünstig- te in den Medien und der Bevölke- rung eine lang anhaltende Diskussi- on. Die relativ späte Veröffentlichung dieser Studie ist auf das Fehlen eines Geburts- und Fehlbildungsregisters in der Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen. Während in den meisten anderen europäischen Län- dern regionale oder nationale Regi- ster existieren, auf deren Daten für die Analyse potentieller gesundheitli- cher Effekte rasch zugegriffen wer- den konnte, mußten diese für die bayerische Studie erst retrospektiv er- hoben werden. Der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hat 1993 (5) auf die Notwendigkeit einer Erfassung von Kindern mit angebore- nen Fehlbildungen in der Bundesre- publik Deutschland hingewiesen. Oh- ne ein solches Instrumentarium ist die Durchführung epidemiologischer Studien zur Abklärung von Zusam- menhängen zwischen Umwelteinflüs- sen wie der Strahlenexposition nach dem Unfall in Tschernobyl und ge- sundheitlichen Gefahren für Schwan- gerschaft und Säuglingsentwicklung erschwert und nur mit erheblichem Zeitverlust möglich.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärzteb11995; 92: A-2062-2068 [Heft 30]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.

Anschrift für die Verfasser:

Dr. med. Angela Schoetzau Bundesamt für Strahlenschutz Institut für Strahlenhygiene Postfach 10 01 49

38201 Salzgitter

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