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Archiv "Obstipation Befindensstörung, Symptom oder Krankheit?" (16.12.1994)

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MEDIZIN EDITORIAL

Obstipation Befindens- störung, Symptom oder Krankheit?

Stefan Müller-Lissner

D

ie Halbwertszeit medizinischen Wissens wird auf etwa sechs Jahre geschätzt. Un- wissen hält sich allerdings wesentlich länger. Dies betrifft insbesondere The- men wie die Obstipation, die selten zur Über- weisung des Patienten an eine Forschungsein- richtung führt und daher in der medizinischen Forschung wenig Zuwendung erfährt. Einige — leider auch von Lehrbuch zu Lehrbuch — tra- dierte Konzepte und Glaubensinhalte sollen im Folgenden relativiert werden.

Irrglaube No. 1: Obstipation definiert sich über die Stuhlfrequenz

20 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich in Umfragen als verstopft, aber nur ein Viertel von ihnen hat eine niedrige Stuhlfre- quenz (3). Einige Patienten befürchten schädli- che Folgen durch die lange Verweildauer des Stuhls im Körper und sind tatsächlich durch die niedrige Stuhlfrequenz beunruhigt. Die meisten aber geben als Hauptbeschwerde die Notwen- digkeit zum heftigen Pressen zur Stuhlentlee- rung an. Da dieses Kriterium den Patienten viel mehr gerecht wird, sollte es für die Definition gebraucht werden.

Irrglaube No. 2: Obstipation ist immer gleich Obstipation

Kolon und Kontinenzorgan wurden von der Evolution so gestaltet, daß sie drei Ziele zu er- reichen helfen: Energiegewinnung durch Fer- mentation von Ballaststoffen (vorwiegend bei Pflanzenfressern), Rückgewinnung von Wasser und Vermeidung einer Duftspur, die räuberi- schen Feinden die Verfolgung erleichern würde.

Die Folgen einer Absorptionshemmung oder gestörten Kontinenzleistung werden be-

grifflich getrennt als Diarrhoe beziehungsweise Inkontinenz. Die Folgen eines verzögerten Ko- lontransits und einer obstruierten Defäkation hingegen werden gleichförmig als Obstipation bezeichnet. Dabei unterscheiden sich Pathophy- siologie und Symptomatik erheblich.

Der verlangsamte Kolontransit kann durch luminale (Ballaststoffmangel) oder extrakoli- sche Einflüsse (Arzneimittelnebenwirkung, en- dokrine Erkrankungen, ZNS-Erkrankungen) verursacht worden sein. Meist aber findet sich keine dieser Ursachen. Histologische Untersu- chungen des Kolons bei solchen Patienten ha- ben Abnormitäten des enterischen Nervensy- stems gezeigt. Patienten mit langsamem Transit klagen meist über Völlegefühl und haben selten Stuhldrang.

Die Defäkation kann durch Funktions- störungen des inneren (M. Hirschsprung) oder äußeren Sphinkters (paradoxe Kontraktion beim Pressen) oder durch Verformungen der Rektumwand bei der Defäkation (innerer Rek- tumprolaps, Rektozele) behindert sein. Die Verdachtsdiagnose läßt sich meist durch die ge- naue Symptomenanalyse (unvollständige Ent- leerung, hohe Stuhlfrequenz, Obstruktionsge- fühl, „kein Stuhlgang trotz Stuhldrang") und die proktologische Untersuchung stellen und durch die Defäkographie beweisen.

Irrglaube No. 3: Die Obstipation ist Folge einer ballaststoffarmen Kost und kann des- halb durch den Verzehr ballaststoffreicher Kost beseitigt werden

Daß die Ballaststoffzufuhr beim Gesunden eine wichtige Determinante der Kolonfunktion ist, war schon Hippokrates und dem im 13. Jahr- hundert tätigen persischen Arzt Hakim be- kannt. Der Versuch, Obstipierte mit Ballaststof- fen zu behandeln, datiert aus den dreißiger Jah- ren, die Hypothese, daß die sogenannten Zivili- sationskrankheiten durch den Rückgang des Ballaststoffverzehrs in den letzten hundert Jah- ren bedingt seien, aus den fünfziger Jahren (2).

Der Ballaststoffverzehr schwankte in der frühe- ren Geschichte der Menschheit allerdings we- sentlich stärker als im letzten Jahrhundert (4):

Während Homo habilis als Sammler vor zwei Millionen Jahren mit etwa 90 Prozent einen ähnlich großen Anteil seiner Nahrung aus Pflanzen deckte wie die Menschen nach der Etablierung des Ackerbaus, nahm Homo sapi- ens als Jäger rund die Hälfte seiner Kalorien in Form von Fleisch zu sich. (Unsere Nahrung hat A-3496 (32) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 50, 16. Dezember 1994

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MEDIZIN EDITORIAL

einen Anteil von etwa 80 Prozent Vegetabilien.) Über die Häufigkeit der Obstipation im Palaeo- lithicum ist uns freilich nichts bekannt.

Obstipierte Patienten nehmen im Mittel nicht weniger Ballaststoffe zu sich als Kontrol- len (6). Von denen, die wenig zu sich nehmen, läßt sich ein Teil durch Ernährungsumstellung

"heilen". Andere meiden Ballaststoffe, weil sie sie schlecht vertragen: Das Aufgetriebensein nimmt zu, Stuhlfrequenz und -volumen aber nicht. Von den Patienten mit langsamem Kolon- transit profitieren ein Viertel von Ballaststoffen, von Patienten mit Defäkationsstörung zwei Drittel. Eine Probebehandlung mit Ballaststof- fen ist daher immer die erste Maßnahme. Auf einen Mißerfolg muß man aber gefaßt sein.

Irrglaube No. 4: Laxanzien sind des Teufels Die Schwierigkeiten fangen schon bei der Definition an. Ungern sähe man Ballaststoffe subsumiert (obwohl sie ja oft zum Zweck der Laxation eingesetzt werden). Aber deren Wirk- weise unterscheidet sich nicht von derjenigen der häufig als Laxans eingesetzten Laktulose, die als durch darmeigene Enzyme nicht spaltba- res Disaccharid durchaus als Ballaststoff klassi- fiziert werden kann. Sie teilt mit ihnen auch die Eigenschaft, bei langsamem Kolontransit schlecht wirksam zu sein.

Unter Laxanzien im engeren Sinne versteht man neben den schlecht resorbierbaren und da- her osmotisch wirkenden Salzen vor allem

„Kontaktlaxanzien" oder „stimulierende La- xanzien" genannte Substanzen. Die heute er- hältlichen Präparate dieser Gruppen gehören entweder den Anthrachinonen (beispielsweise Sennoside) oder den Diphenylmethanen an (zum Beispiel Bisacodyl). Wegen ihrer zuverläs- sigen Wirksamkeit und guten Verträglichkeit werden sie von den Patienten auch gegen den Rat großer Teile der Ärzteschaft gekauft und eingenommen. Die Anthrachinone gehören zu den ältesten Drogen und erfreuten sich in frühe- ren Kulturen großer Beliebtheit. Ihre zu Werbe- zwecken gern herausgestrichene Eigenschaft

„rein pflanzlich" ist dabei übrigens weder von Vorteil noch von Nachteil.

Nebenwirkungen dieser Laxanzien sind bei chronischer Überdosierung zu erwarten, die ei- ne Variante des Münchhausen-Syndroms dar- stellt. Bei vernünftiger Dosierung wurden sie nie beschrieben (5). Die Hypothese, daß die langzeitige Einnahme das autonome Nervensy- stem des Kolons schädige und dadurch die Ob-

stipation verschlimmere, ist wahrscheinlich falsch. Die Neuropathie des Kolons ist Ursache der gestörten Motilität und damit Grund für die Laxanzieneinnahme und nicht deren Folge. Das durch sein charakteristisches Röntgenbild ge- kennzeichnete „Laxanzienkolon" („cathartic colon") wurde in den vierziger und fünfziger Jahren mehrfach beschrieben, nicht mehr je- doch in den letzten Jahrzehnten. Es könnte Fol- ge heute nicht mehr gebräuchlicher Laxanzien sein. Ein Zusammenhang zwischen der Einnah- me von Anthrachinonen und Kolonkarzinom war in mehreren gut kontrollierten epidemiolo- gischen Studien nicht zu finden. Der Sendung

„Panorama" war es vorbehalten, unter Mitwir- kung universitärer Wissenschaftler in einer Form Krebsangst zu schüren, die das sonst eher zurückhaltende damalige Bundesgesundheits- amt nicht unwidersprochen lassen mochte (1).

Eine — insbesondere langzeitige — Einnah- me von Laxanzien sei niemandem angeraten, der sie nicht braucht. So weit, so banal. Sie den- jenigen obstipierten Patienten vorenthalten zu wollen, die durch Ballaststoffe nicht behandel- bar sind, entbehrt der rationalen Grundlage.

Zusammenfassend beschreibt der Begriff Obstipation eine Gruppe von Krankheiten, die zu Schwierigkeiten bei der Stuhlentleerung führen und bei vielen Patienten mit erheblicher Befindensstörung einhergehen. Die Prognose ist gut quoad vitam, mäßig quoad sanationem.

Die ursächlichen Behandlungsmöglichkeiten sind mäßig, die symptomatischen befriedigend.

Deutsches Ärzteblatt

91 (1994) A-3496-3498 [Heft 50]

Literatur:

1. Ärzte Zeitung (7.2.1994) „Kanzerogenität pflanzlicher Ab- führmittel nicht belegt."

2. Burkitt DP Foreword. In: Vahouny GV, Kritchevsky D (eds.) Dietary Fiber Plenum Press, New York London 1986 3. Drossman DA, Sandler AS, McKee D C, Lovitz AJ: Bowel

patterns among subjects not seeking health care. Gastroente- rology 1982; 83: 529-534

4. Eaton SB: Fibre intake in prehistoric times. In: Leeds AL (ed.) Dietary fibre perspectives 2. John Libbey, London Paris 1990, p. 27-40

5. Müller-Lissner SA: Nebenwirkungen von Laxantien. Z Ga- stroenterol 1992, 30: 218-227

6. Müller-Lissner SA: Constipation and irritable bowel Syn- drome. Review-in-Depth „Dietary Fibre". Eur J Gastroente- rol Hepatol 1993; 5: 587-592

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Stefan Müller-Lissner Klinik für Innere Medizin

Krankenhaus Weißensee

Schönstraße 87-91 • 13086 Berlin A-3498 (34) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 50, 16. Dezember 1994

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