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Archiv "Die Totentänze des Regisseurs Roberto Ciulli" (05.10.1989)

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Die Totentänze des

Regisseurs Roberto Ciulli

Roberto Ciulli

Foto:

Heinz-Norbert Jocks

E

s ist das ungewöhnlich- ste Nicht-Stadttheater der Republik: halb Wander-Landesbühne, halb fe- ste freie Gruppe. Im letzten Jahr zum Theater des Jahres gewählt, erobert es mit fünf- zehn Schauspielern, einem Bühnenbildner und etwa zehn Technikern unter der Anlei- tung eines Kunst-Philosophen und Regisseurs aus Italien und dessen bundesdeutschem Dra- maturgie-Kompagnon Helmut Schäfer die Herzen irritierter Zuschauer. Kein Theater im deutschen Sprachraum geht seit seiner Gründung im Jahr 1980 freier mit klassischen wie mit zeitgenössischen Stücken um als das Mülheimer „Thea- ter an der Ruhr", das Theater nicht mißverstehen möchte als bloße „Filiale der Literatur".

Statt den Buchstaben eines Textes treu zu sein, verläßt sich Roberto Ciulli, Regisseur und Direktor des Theaters, mit sei- nem Ensemble ganz auf seine eigene „interessenlose" Fanta- sie. Für sie sollte gelten, daß an Dramen, Tragödien und Ko- mödien, egal aus welcher Zeit, nur das uns stetig Betreffende wichtig sei. Dies schließt kei- neswegs ein, daß Schwellen verschwinden. Um eben diese geht es, wenn von Trauer, Schmerz, Tod, Folter, Liebe, Gewalt, Sprache, Erziehung, Kindschaft in den Stücken die Rede ist.

Alles, was nicht an unser Erleben und Denken anzu- schließen vermag, ist für die Mülheimer allenfalls ein unter- haltsames Abendprogramm Auf der Bühne als Ort der Er- wartung macht sich Ciulli das Nicht-Arrangierte auf faszinie- rendste Weise zunutze. Denn wo ein festes Konzept fehlt, das jeden Schritt der Inszenierun- gen schon vor Probenbeginn fi- xiert, stellt Fantasie sich ein, und Ciulli, der am liebsten auf unbearbeiteten Feldern arbei- tet, fordert den Nullpunkt des Spielens heraus, von wo aus erst das Ungewußte, Ungehörte und Ungesehene erreichbar werde. Nun: wer ist Roberto Ciulli, woher kommt er, wohin tendiert er?

Als einzige Bleibe, die ihm Heimat bedeutet, akzeptiert Ciulli für sich die Bühne, die er gerne mit einem Tempel ver- gleicht, abseits des Straßen- lärms. Leben heißt für ihn

Theatermachen. Ciulli kennt kaum eine private Existenz jen- seits des Theaters. Und ist doch nicht auf geradem Weg dorthin gelangt.

Roberto Ciulli: Sohn aus großbürgerlichem Haus; 1934 geboren; aufgewachsen in Mai- land, als Kind von der Mutter dazu angehalten, während der Mahlzeiten nur mit Gesten auf sich aufmerksam zu machen;

tagsüber dazu genötigt, nicht mit fremden Kindern zu spie- len; gezwungen, keine Schmer- zen zu zeigen; von der perfiden Mutter, die die Angst des Kin- des vor der Dunkelheit be- merkt, in der Nacht über den unheimlichen Korridor ge- hetzt; als Junge, der weinte, ge- ohrfeigt; dreimal täglich sit- zend im Kino, zusammen mit der sich langweilenden Mutter.

Vieles, vor allem die geforder- te Unterdrückung zugefügter Schmerzen und der Zwang zum Pantomimischen, klingt wie ein kleiner Begleitkommentar zu seinen Inszenierungen. Im Grunde genommen spielt Ciulli dort den Schmerz als perma- nenten Trumpf im Angriff auf die verkrustete Gesellschaft aus. „Alles, was mir wider- fuhr", sagt er, „kommt wieder, wenn ich inszeniere. Was ich erinnere, ist das Klischee einer katholischen, autoritären, mut- terbezogenen Kindheit."

Die Jugend: Als Idiot der Klasse, der schließlich seinen

Vater überreden konnte, dem Sohn Privatprofessoren zur Verfügung zu stellen, schnitt er beim Abitur als Siebtbester in ganz Mailand ab. Einem „tri- umphalen Eintritt in die Uni- versität" stand nun nichts mehr im Wege. Bereits im ersten Jahr avancierte er zum philoso- phischen Assistenten, prädesti- niert für eine akademische Laufbahn Schließlich promo- vierte er mit summa cum laude über „das Verhältnis von Indi- viduum und Staat in den Jugendschriften von Friedrich Hegel". Parallel zum Studium setzte sich Ciulli mit Beckett und Ionesco auseinander. „Das absurde Theater" wurde für ihn zum Maßstab, wenn er auch heute Ionesco gering- schätzt.

Mit sechsundzwanzig grün- det er das Zelt-Theater „II Glo- bo", an der Peripherie von Mailand. Ein Jahr später ent- kommt er, im Auto im laufen- dem Motor übernachtend, knapp dem Erstickungstod;

zwei Jahre drauf setzt ein Herzinfarkt den vorläufigen Schlußstrich. Unmittelbar dar- auf der Selbstmord des Vaters, ein unverstandener Intellektu- eller, der sechs Sprachen be- herrschte, am Abend dem Soh- ne Gedichte von Baudelaire vorlas, ein „Poet ohne die Kraft, als Künstler zu leben", von der Familie gezwungen, sich um die geerbte Firma zu

kümmern, am Rande der Schi- zophrenie. Totentänze, die Ci- ulli empfindlich machten.

Nach einem Herzinfarkt ging Ciulli nach Paris, dann nach Göttingen, wo er sich als Hilfsarbeiter bei Bosch ver- dingte, stolz darauf, auf sein Erbanteil verzichtet zu haben, glücklich darüber, tagsüber Geld zu verdienen, um nachts an einem bis heute unvollende- ten Roman zu schreiben. An- schließend als Lastwagenfahrer tätig, dann der Wechsel zum Theater: Als Beleuchter, Re- gieassistent, Bühnentechniker und zum guten Schluß als von Günther Fleckenstein herbei- gewünschter Regisseur am Göttinger Theater, schließlich als Schauspieldirektor an den Kölner Bühnen, von Heyme ge- rufen. Jahre später Wechsel nach Düsseldorf, wo er ein

„Theater innerhalb des Thea- ters" leitete.

In der Stadt Mülheim fand er schließlich einen souveränen Partner, der ihm volle künstle- rische Freiheit ließ. Ciulli hoff- te zunächst, mit Gastspielen al- le Kosten abzudecken. Ein Theatermodell, das sich im Spätherbst 1980 als GmbH, mit Ciulli, Schäfer und der Stadt Mülheim als Gesellschaftern, seinen Rahmen gab. Mit von der Partie waren von Anfang an bis heute die Schauspieler Veronika Bayer, Gordana Ko- sanovic, Reinhart Firchow, Hannes Hellmann und Volker Roos, der Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben und der Kostümbildner Klaus Arzber- ger. Sie alle sahen in diesem ungewöhnlichen Theatermo- dell für sich eine Chance, ohne bekannte Konkurrenzgefühle ihre Profession als eigenständi- ge, bis dahin zu wenig geforder- te Kunstform voranzutreiben.

Wegen der finanziellen Not der Städte, die weniger Gast- spiele einkaufen konnten als vorgesehen, ging Ciullis Rech- nung nicht ganz auf, trotz der triumphalen Erfolge im be- nachbarten Ausland, trotz zahlreicher Fernsehaufzeich- nungen. Erst jetzt konsolidiert sich die Lage. Nach sieben Jah- ren harter Arbeit wirkt dieses Theatermodell mit seiner künstlerischen Bilanz wie ein von allen Seiten bewunderter Geniestreich.

Heinz-Norbert Jocks A-2882 (90) Dt. Ärztebl. 86, Heft 40, 5. Oktober 1989

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