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Archiv "Solidarität und Subsidiarität – Ersatzreligionen des Sozialstaats" (27.04.1989)

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Solidarität und Subsidiarität

Ersatzreligionen des Sozialstaats

Horst Baier

'NM

Die Strukturreform des Gesundheitswesens ist bisher als Finanz- und Leistungskrise behandelt worden. Die gleiche Verschleierung wird sehr bald mit den Budgets der Altersversorgung und der Ar- beitslosenversicherung geschehen. Eigentliches Thema ist aber ei- ne Struktur-, ja Existenzkrise des Sozialstaats selbst. Werfen wir des- halb - unbekümmert um die geläufige politische Rhetorik - Grund- satzfragen unseres Wohlfahrtsstaates auf.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

THEMEN DER ZEIT

ozu brauchen wir ein so- ziales Sicherungssystem mit einem Gesamtbud- get von über einem Drittel des Bruttosozialprodukts, al- so von über 600 Milliarden DM?

Womit sollen die Ausgaben der „so- zialen Hände" bemessen werden, wenn weder ein Maß in den Ansprü- chen der Bürger noch eine Grenze in den Versprechungen der Politiker zu finden ist? Wofür sollen Anwart- schaften neuerlich begründet, Lei- stungen — zum Beispiel die Pflege- fallversicherung oder die Expansion der Sozialhilfe — wiederum ausgewei- tet werden, wenn die Versorgungs- klassen immer umfänglicher und die Versorgungszahlungen zum Ersatz- volkseinkommen umgewandelt wer- den? Der Sozialstaat ist entworfen und entwickelt worden für die Unter- und Randschichten des Reiches, ausgebaut und ausgefaltet für die zweimal kriegsgeschädigten Mittel- schichten, in der Bundesrepublik vollendet als totale „Daseinsvorsor- ge" — ein Rechtsbegriff aus dem Dritten Reich.

Versuchen wir eine Bestimmung des Sozialstaats von heute. Geläufig verstehen wir ihn als die gemein- schaftliche Vorsorge, Fürsorge und Versorgung aller Bürger für die Kri- senfälle ihres Lebens, also im Falle des Alters oder der Arbeitslosigkeit, einer Krankheit oder einer Behinde- rung, eines Unfalls oder der Invalidi- tät, von sozialer Gefährdung oder Not im Rahmen der Grundsätze und

Gesetze des „republikanischen, de- mokratischen und sozialen Rechts- staates". „Gemeinschaftlich" heißt nicht, daß soziale Leistungen alleine Staatsaufgaben sind; hinzu treten Körperschaften, Kirchen und private Organisationen, die wiederum ohne das „Leistungsnetz" von Familien und Nachbarschaften, Sozialberufen und gewerblichen Unternehmen nicht zu denken sind.

Angesichts der alle Lebensberei- che überflutenden Gesetzgebung, der ausgreifenden Organisationsge- walt und der anschwellenden Fi- nanzkraft des modernen Staates sind wir zwar unterworfen den Sozialbe- hörden und -berufen, eingefädelt in das „System der sozialen Sicherung", eingerechnet in die Kosten- und Lei- stungsziffern des „Sozialbudgets".

Erstaunlicherweise steht jedoch da- von im Grundgesetz unserer Repu- blik nichts; dort finden wir nur die zi- tierte Bestimmung des „sozialen Rechtsstaates" und an anderer Stelle den Begriff des „sozialen Bundes- staates". Das Bundesverfassungsge- richt hat freilich bei der Auslegung der Verfassungswirklichkeit keinen Zweifel daran gelassen, daß die Bür- ger inzwischen staatsgarantierte Be- sitzstände erworben haben, nachdem

die Politiker überdosierte Verspre- chungen von sozialer Sicherheit als Sozialleistungen den Behörden, Kör- perschaften und Berufsverbänden auferlegt hatten.

Der Sozialstaat mit seinen Syste- men und Budgets, mit seinen Ge- samtrechnungen von Kosten und Leistungen ist eine Schöpfung der Parteifunktionäre, Sozialbürokraten und Verbandsideologen: Mit einem Netz von sozialen Diensten und Zah- lungen halten sie die Bevölkerung in Schach, mit einem Geflecht von Am- tern und Anstalten überdecken sie das Land mit staatlicher und para- staatlicher Verwaltung, mit einem Gespinst von gesetzlichen Vorschrif- ten und Verhaltensauflagen überzie- hen sie alle spontanen Lebensregun- gen, verwandeln alle Selbsthilfe in einen Filz von Erwartungen auf Staatshilfe und Sozialzuschuß. Der Sozialstaat ist ein bequemes Instru- ment der politischen Klasse, soziale Klientele zu bilden und in dauerhaf- ter Abhängigkeit zu halten.

Die konfliktreiche Klassenge- sellschaft des 19. und die Hierarchie der Leistungs- und Einkommens- schichten des 20. Jahrhunderts sind längst abgelöst durch das Geschiebe der Versorgungsklassen, die sich ent- lang sozialrechtlicher Existenzgaran- tien und sozialökonomischer Lei- stungsquotierungen gruppiert haben.

Die Klientelgesellschaft des westli- chen Deutschlands gliedert sich in der Horizontale der staatsbetriebe- nen Sicherheitsleistungen: gleich in der Abhängigkeit von Subsidien und Steuerung durch das Sozialbudget, ungleich in den Zu- und Umvertei- lungschancen. Es gibt Plus-Klientele mit positiver Bilanz von Ein- und Auszahlungen; daneben Minus- Klientele — unterqualifizierte Ar- beitslose, fehlausgebildete Jugendli- che, ältere Arbeitnehmer, nicht er- werbsfähige Frauen, kinderreiche Familien, Angehörige von Auslän- dern usf. —, bei denen sich politisch die Stimmenmaximierung und wirt- schaftlich die Arbeitsproduktivität nicht lohnt.

„Sozialer Friede" ist die Balance

von Ansprüchen und Einlösungen der sozialen Sicherheit mit dem Herrschaftskalkül, die Stabilität des Sozialstaats durch einen wohldosier-

I Der Sozialstaat - Versorgungsinstrument der sozialen Klientele

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ten Mix von Gleichheit und Un- gleichheit zu halten. „Sozialer Frie- de" ist die Zauberformel einer „So- zialstaatsgesellschaft", die längst den Rechtsstaat hier und die Wirt- schaftsgesellschaft dort in sich aufge- sogen hat.

In den letzten Jahren jedoch schlingert das so schwungvolle Rad von Sicherheitserwartungen und Wohlfahrtsleistungen beträchtlich.

Die Generationskrise der Renten- versicherung und die Strukturkrise der Krankenversicherung, bald auch die Zahlungskrisen der Arbeitslosen- versicherung und der als Auffangfür- sorge mißbrauchten Sozialhilfe, sto- ßen nämlich jetzt Gegenkräfte an, denen nicht mehr durch das simple Rezept der Sozialpolitiker gegenzu- steuern ist: Bedürfnislenkung der Klientele durch Bedarfssteigerung der sozialen Dienste. Wenn die er- werbsaktiven Beitrags- und Steuer- zahler immer weniger werden, die arbeitslosen und erwerbspassiven Sozialempfänger immer mehr, zu- dem deren Bedarf — die Alten etwa und chronisch Kranke — immer teu- rer, dann ist der „energetische Hauptsatz" des Wohlfahrtsstaates verletzt, daß nämlich immer mehr Rohenergie in ein System hineinge- steckt werden muß, als Nutzenergie herausgeholt werden kann Nicht nur die Ausbeutung der Natur folgt ehernen Naturgesetzen, sondern auch die der Gesellschaftskräfte, nämlich den sozialökonomischen Gesetzlichkeiten.

Verschärft wird diese negative Bilanz noch dadurch, daß die Sozial- politiker die Reproduktion der

„Energieproduzenten" selbst blok- kiert haben. Noch immer rätselt man an der Wechselwirkung von expansi- ver Sozialpolitik und drastischer Senkung der Reproduktionsrate der bundesdeutschen Bevölkerung. Da- bei ist die Antwort einfach: Wer die Menschen verführt, soziale Sicher- heit als Zukunftsvorsorge bei den öf- fentlichen Kassen abzubuchen, darf sich nicht wundern, wenn seine Schutzbefohlenen dort auch die Ver- antwortung für die Zukunftsressour- cen abgeben. Und tätige Verantwor- tung für die Zukunft liegt schon im- mer in Zeugung und Aufzucht von Kindern Hinzu kommt — und das

will man in den Hochhäusern der Partei- und Medienverwaltungen bis heute nicht hören —, daß die legali- sierte Kindstötung über die ausge- weitete Sozialindikation des § 218 StGB den Staat jährlich um ge- schätzte 200 000 künftige Steuer- und Abgabenzahler bringt.

Der Sozialstaat ist gut getrimmt in der Berechnung und Besteuerung der Sozialklientele, aber fahrlässig in der Beobachtung und Behandlung der Privatpersonen, wo diese noch über ihre Lebensführung persönlich bestimmen können. Die Zukunfts- ressource „Mensch" wird geopfert den Kosten-Nutzen-Rechnungen zur Gesamtwohlfahrt der Gegenwartsge- sellschaft. Was sozialpolitisch als Mi- nus-Klientele kalkuliert wird, sind bevölkerungspolitisch Plus-Kliente- le: Frauen, Kinder, Familien mit- samt der Notressource der zuwan- dernden Ausländer und neuerdings der Spätaussiedler.

Wenn die Mittel knapper wer- den, weitere Abschöpfungen und Umverteilungen nur gegen große Wi- derstände möglich sind, dann haben Politiker und ihre Publizisten seit je ein probates Gegenmittel zur Hand:

die Ideologisierung und Moralisie- rung von Uberforderungslagen. Es ist in unserem Fall die öffentliche Herstellung von Illusionen der Mit- verantwortlichkeit und Mithaftung für Mißstände, die zwar die Bürger nicht verschuldet, die sie aber als leichtfertige Mitläufer der öffent- lichen Meinung mitgetragen haben.

Ein tragfähiger Boden also für Sprachkunststücke und Meinungs- manipulationen, zumal — nach der Sozialpsychologie von Ideologien — das Bedürfnis nach moralischen Ver- drängungen im Verhältnis zu den zu- gemuteten Versagungen wächst.

Jeder Populismus ist die Funk- tion einer Misere und hat die Ideolo- gie einer Verdeckung dieser Misere.

Und der Populismus des Sozialstaats liefert, wenn er schon versprochene soziale Sicherheiten zurücknehmen und soziale Ansprüche zurücktreten

muß, die Ideologie des „Wir sitzen alle in einem Boot" und des „Wir stehen alle, wenn's not tut, füreinan- der ein". Es ist das untergründige Gemeinschaftspathos des modernen Staates, seine Ersatzreligion, nach- dem ihm die höheren nationalen und sittlichen Weihen in den Volks- und Rassenkriegen des 19. und 20. Jahr- hunderts abhanden gekommen sind.

Erstaunlich ist, daß wir zwar — seit 1945 schuldeifrig erbracht — ein dickes Bündel von Analysen der pseudoreligiösen Weltanschauungen des nationalen, später völkisch-rassi- schen Machtstaates vorfinden, je- doch keine „Entlarvung" der Reli- gion des Sozialstaats. Dabei hätte es nahegelegen, auf die Kontinuität der exzessiven Sicherheitswünsche der Deutschen zu achten und auf ihre Erfüllungsform gemütssättigen- der Volksgemeinschaft. Trotz aller Diskontinuitäten der politischen Regime gibt es noch die Durchgän- gigkeit der sozialen Ideologie im trägen Strom der sozialpolitischen Institutionen durch ein Jahrhun- dert. Finden wir heute auch nur die Schwundstufen der sozialen Sicher- heit und der Versichertengemein- schaft vor, so verrät das religiöse Pathos der Sozialpolitiker noch die alte, jetzt zurückgestauchte imperia- le Gebärde. Der Sozialstaat ist der geschichtlich gebliebene Innenas- pekt des Bismarckschen Machtstaa- tes — obrigkeitlich, grenzbewehrt, glaubensfest.

Wie jede Religion, so haben auch Ersatzreligionen ihre Glau- bensbekenntnisse. Die Glaubensarti- kel des Sozialstaats, insofern er ge- nügend ideologisiert und illuminiert ist, heißen „Solidarität" und „Subsi- diarität", wozu noch hinzukommen die Konkordienformeln des „Gene- rationenvertrags" und der „Selbst- verwaltung", womöglich bis zum Lai- enkonzil der „Konzertierten Ak- tion". Und in der Tat läßt sich in den Medien verfolgen, daß mit der auf- laufenden Generationen-, Struktur- und Finanzkrise der Alters-, der

I Ideologien und Illusionen im Sozialstaat

I Generationenvertrag und Konzertierte Aktion

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Kranken- und der Arbeitslosenversi- cherung die Sprache der Politiker immer beschwörender und die For- mel der Publizisten immer inhalts- leerer werden.

Ob man sich der christ- oder der sozialdemokratischen Medienfront zuwendet: Aus allen Röhren tönt und flimmert das Credo von der Ver- antwortlichkeit der Generationen füreinander; vom Vertrag, den die Alterskohorten miteinander ge- schlossen haben sollen; von der Er- füllungspflicht, die auch dann gelte, wenn die Sozialbeiträge noch weiter erhöht und im gleichen Zug neuarti- ge Sozialgebühren — nur drapiert als Selbstbeteiligung, weil ohne mehr Wahlfreiheiten — eingeführt werden müßten. Und ein abverlangter Glau- bensakt ist der „Generationenver- trag" tatsächlich — eine ideologische Leerformel; denn niemand hat einen solchen Vertrag jemals verbindlich geschlossen. Es wäre auch gegen den gesunden Menschenverstand, der bekanntlich auch in die eigene Börse schaut, eine Verpflichtung einzuge- hen, die sichtlich die Abgaben von heute erhöht, ohne die Gewißheit von Gegenleistungen von morgen.

Der Generationenvertrag zur Alters- und Invaliditätsversorgung folgt der Mechanik einer Kippschaukel, bei der die Lasten auf der einen Seite immer größer und die Leistungen auf der anderen immer geringer wer- den. Denn schließlich haben die So- zialpolitiker selbst die ausgleichen- den Gewichte beseitigt, große Teile der nachfolgenden Generationen in den Limbus der ungeborenen und nichtgeborenen Existenzen ge- schickt.

Mit gleicher Aufdringlichkeit versucht man die „Konzertierte Ak- tion" mit Sprachformeln wie „Sozial- vertrag" oder „Bewährung der Selbstverwaltung" in die staatliche Sozialpolitik einzubinden. Ihre Part- ner werden auf eine Sozialmoral der Sparsamkeit verpflichtet, in eine So- zialökonomie gesamtwirtschaftlicher

Kosten-Nutzenrechnung gedrängt, als ob dies die erste Aufgabe der Pharma-Industrie oder der Kassen- ärzteschaft oder der Krankenhäuser und nicht die der Sozialpolitiker, ihrer Gesetzgebungskörperschaften und Sozialverwaltungen wäre.

In der Tat ist es aber nicht Un- ternehmensziel der Arzneimittelher- steller, Gewinneinbußen zum Nut- zen von CDU- und SPD-Regierun- gen vorzunehmen, sondern in einer konkurrenzharten Weltwirtschaft Gewinne zu machen, Forschung zu betreiben und Arbeitsplätze zu schaffen. Den Ärzten ist es wieder- um strikt aufgetragen, Vor- und Nachsorge, Diagnostik und Therapie nach den Wünschen und Bedürfnis- sen ihrer Patienten zu leisten — nach dem Stand der Wissenschaft und un- ter Beachtung des Wirtschaftlich..

keitsgebots der Reichsversicherungs- ordnung; keineswegs aber, entlang der Lohnsummenentwicklung oder sonstiger ökonomischer Parameter,

„Volksgesundheit" zu erwirtschaf- ten. Schließlich haben die Kranken- häuser dafür zu sorgen, daß sich die Qualität ihrer stationären, operati- ven und diagnostischen Dienste stei- gert nach Maßgabe fortschreitender Medizintechnik und Pflegemetho- dik; Krankenhausbedarfspläne mit Streichprogrammen und Investi- tionssperren sind Zeichen früherer Fehlallokationen von Politikern auf kommunaler, Kreis-, Landes- oder Bundesebene, wofür diese haften und deren Revision diese exekutie- ren müssen — und nicht die Kranken- häuser, deren Verwaltungs- und Lei- stungspersonal mit einem fachlich genau benannten Versorgungsauf- trag.

Vollends unerträglich ist, wenn die ministeriellen Verlautbarungen aus der „Konzertierten Aktion" der seit je staatsintervenierten und ge- setzesstrangulierten „Selbstverwal- tung" zugeschoben werden. Die an- geblich selbstverwalteten Körper- schaften einschließlich der Kranken- kassen sind parastaatliche Veran- staltungen, die Weisungen der So- zialpolitiker ausführen, ohne daß diese die Verantwortung für die Fol- gen übernehmen müssen. Der staat- lichen Gewaltenteilung mit den gern vergessenen Haftungsfolgen für Par-

lament, Justiz und Verwaltung ent- spricht die gesellschaftliche Aufga- benteilung mit den Wirtschaftsfolgen für die Industrie, den Einkommens- folgen für die Gesundheitsberufe, den Leistungsfolgen für die Kran- kenanstalten bei Mißwirtschaft. In der Sozialstaatsgesellschaft mit ih- rem korporativen Filz und soziali- deologischen Verklebungen ist dage- gen jeder für jedes verantwortlich ge- macht: eine bequeme Verschiebe- moral für die haftungsscheuen Man- datare der Republik.

Solidarität, Subsidiarität

— Glaubensartikel des Sozialstaats

Die Verschiebungs- und Ver- deckungsformeln des „Generatio- nenvertrags" und der „Selbstverwal- tung" stützen sich wiederum auf die beiden Glaubensartikel der Ersatz- religion des Sozialstaats: Solidarität und Subsidiarität. Der erste Begriff stammt aus den sozialen Bewegun- gen des 19. Jahrhunderts, insbeson- dere aus der nationalen Einigungs- und der sozialistischen Arbeiterbe- wegung, und bedeutet ursprünglich Volks- oder Klassengenossenschaft.

Soweit er die Sozialversicherung als gemeinschaftliche Gefahrenabwehr und Risikobewältigung bezeichnet, ist er als technischer Terminus für die Gesamtheit und Wechselseitig- keit der Sozialversicherten hinzu- nehmen. Insoweit er — als sentimen- tale Parole — an Volksgemeinschaft und Klassenkollektiv erinnern, ja de- ren Gefühlswerte mobilisieren soll, ist „Solidarität" eine ideologische Schrumpfformel für die ruinierte Nation oder die abhanden gekom- mene Arbeiterklasse.

„Versichertengemeinschaft" wie

„Generationenvertrag" agitieren mit einer pseudopolitischen, historisch obsoleten Sprache auf einem Feld, für dessen Bemessungen wir die nüchterne Normensprache des So- zialrechts und für dessen Benutzun- gen

wir die anspruchsscharfe Inter- essensprache

des Sozialleistungssy- stems entwickelt haben. Wer von Solidarität im pathetischen Sinn spricht, wendet sich nicht an Bürger

I Pharma-Industrie,

Kassenärzte, Krankenhäu- ser unter Sozialvertrag

Dt. Ärztebl. 86, Heft 17, 27. April 1989 (69) A-1219

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mit rationellem Sinn für Sozialsteu- ern und Gegenleistung, sondern an Gefühlssubjekte des Nationalismus und des Sozialismus mitsamt ihrer unheiligen Kombination. Die Ge- meinschaftssprache der Politiker mit Solidaritätsappellen ist eine beson- ders tückische Entmündigung der Bürger, weil ihre Gefühle und nicht ihr Verstand angesprochen werden.

Denn der Verstand würde nach Gründen für die Mißwirtschaft in der Sozialversicherung fragen — eben nach Verantwortlichkeit und Haf- tung.

Und Subsidiarität? Erinnern wir uns an ihre Herkunft aus den päpst- lichen Enzykliken „Rerum Nova- rum" von 1891 und „Quadragesimo Anno" von 1931, so wird schnell of- fenbar, daß es sich damals um eine Kampfansage an die wirtschaftslibe- rale Gesellschaft und den kirchen- freien Staat handelte. Zweifellos ist das abstrakte Konzept, „Fremdhilfe nur dort zu leisten, wo Selbsthilfe nicht möglich ist", ein passables Gestaltungsprinzip einer auf Selbst- tätigkeit und Selbstverantwortlich- keit ruhenden Daseinsvorsorge, die staatliche und parastaatliche Hilfe nur bei Nichtbewältigung von Ge- fahren und Risiken in Anspruch nimmt

Unruhig wird man freilich bei der Beobachtung, daß es bei der Subsidiarität der Kammern, Körper- schaften und Berufsverbände weni- ger um geförderte Selbsthilfe, son- dern mehr um wohletablierte Fremdhilfe geht. Das Sozial- und Gesundheitswesen ist ein Filzwerk von Pfründen, von Einfluß- und Ver- sorgungsstellen, in denen sich gerade die Funktionäre und Ideologen des Sozialstaats finden, die in Parteien, Gewerkschaften und Wirtschaftsver- bänden seine Misere bewirkt haben.

Aber noch unruhiger werden wir, wenn wir genauer die Zeitge- schichte des Subsidiaritätsprinzips befragen. Denn das gesellschaftliche Ordnungsprinzip des Pius XI., ver- standen als hierarchischer Gesell-

schaftsaufbau in der Stufung von den Familien über die Berufsstände und Betriebe bis zu den Verbänden und Körperschaften, war offensichtlich eine handliche Empfehlung für den italo- und austro-faschistischen, spä- ter hispano-faschistischen Stände- staat der Dreißiger Jahre. Ein Ge- sellschaftskonzept, das der Kirche als mächtigster Körperschaft mit den von ihr gelenkten Berufen und Ver- bänden einen guten Platz im „stato corporativo" Mussolinis und Doll- fuß' gegeben hätte, im Spanien Fran- cos bis in unsere Tage gegeben hat.

Das Konzept wird übrigens nicht deshalb appetitlicher, wenn heute der sozialdemokratische Neokorpo- ratismus und die „Neue Subsidiari- tät" von links oder öko-bunt die Ak- teure auswechselt: für die Kirchen die Gewerkschaften und für die Ca- ritas grünrote Selbsthilfegruppen.

Das Subsidiaritätsprinzip fundiert nicht nur einen „schwarzen Sozialis- mus", wie die Liberalen derzeit pole- misieren, sondern vermag auch nach links zu wechseln, um rechtsfreie Räume — man nennt das heute „au- tonomes reflexives Recht" — zu schaffen, freilich immer gut durch- walkt mit „Staatsknete".

Solidarität mit unterlegtem Ge- nerationenvertrag hier und Subsidia- rität mit Selbstverwaltungsillusion dort, das sind die Glaubensartikel der Ersatzreligion des Sozialstaats.

Es ist das Credo einer politischen Klasse, die ihre Glaubwürdigkeit verloren hat und dafür ideologische Scheinwelten errichtet. Statt im offe- nen Streit den Konsens der Bürger zur Lösung der Generations-, Struk- tur- und Finanzkrise der Sozialversi- cherung zu suchen, flüchten sich die Sozialpolitiker in das Gemein- schaftspathos des vergangenen Na- tionalismus und Sozialismus oder gar in die hallende Herrschaftssprache längst verstorbener Päpste. Offener Streit — das hieße freilich Einbe- kenntnis der Verantwortlichkeit und Haftbarkeit für die Misere des So- zialstaats.

Bei dem Beitrag handelt es sich um einen vom Autor für das Deutsche Ärzteblatt bear- beiteten Auszug aus seinem Buch: „Ehrlichkeit im Sozial- staat, Gesundheit zwischen Medizin und Manipulation"

(Edition Interfrom, Zürich, Verlag A. Fromm, Osnabrück, 1988, 152 Seiten, Broschur, 14

DM)

Die Bürger sollten sich streiten und könnten sich wehren mit dem Wettbewerb um alternative Siche- rungen. Gewinnbeteiligung am je- weiligen Unternehmen und Vermö- gensstreuung aus Staatsbesitz geben Chancen für private Rücklagen und Versicherungen; Belegschafts- und Betriebsratsinitiativen könnten den Betriebskrankenkassen und der be- trieblichen Altersversorgung neuen Schwung geben; berufsständische Versorgungswerke der Freien Beru- fe wären Beispiele für genossen- schaftliche Selbsthilfe und Selbstsi- cherung. Warum bauen wir nicht weiter an einem Drei-Säulen-System der sozialen Sicherheit angesichts der offenbarten Unregierbarkeit, ge- nauer: Unbezahlbarkeit und Nicht- Steuerbarkeit des übermassierten Sozialstaats?

Wenn die staatlich eingesäulte Sozialpolitik versagt und die Sozial- versicherten wieder als aktive Bürger gefordert sind, dann heißt dies kei- nesfalls Verzicht auf wohlerworbene soziale Besitzstände. Lebenslange hohe Beiträge und bürgerloyaler Vertrauensvorschuß verlangen unab- dingbare Gegenleistungen. Verant- wortlichkeit und Haftung der Man- datare des Sozialstaats müßten je- doch künftig zu klarer Sprache zwin- gen — ohne Flucht in Ersatzreligio- nen und Sozialideologien, ohne Ge- meinschaftsappell und Weihrauch.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Horst Baier Lehrstuhl für Soziologie

Sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Konstanz

Am Gießberg, D-7750 Konstanz

I Subsidiarität und die päpstlichen Enzykliken

I Bürgerengagement in der Misere des Sozialstaats

A-1220 (70) Dt. Ärztebl. 86, Heft 17, 27. April 1989

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