DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
AKTUELLE MEDIZIN
Bekanntmachung der Bundesärztekammer
Empfehlungen
zur präexpositionellen Tollwut-Prophylaxe
und postexpositionellen
Tollwut-Schutzbehandlung
(Stand: Oktober 1988)
D
ie Tollwut (Rabies, Lyssa) ist eine durch Infektion mit dem Rabiesvirus hervorgerufene akute Erkrankung des Zentralner- vensystems, die weltweit bei fast al- len Warmblütern (in Europa vorwie- gend Fuchs, Hund, Katze) und gele- gentlich auch beim Menschen beob- achtet wird.Ätiologie
Das Rabiesvirus gehört zur Gruppe der Rhabdoviren. Beim infi- zierten Tier findet sich das Virus vor allem im Zentralnervensystem und im Speichel, der für die Erreger- übertragung durch Bißverletzungen
— aber auch über offene Wunden und Hautabschürfungen — wesent- lich ist. Der Speichel eines infizier- ten Tieres kann vor Krankheitsbe- ginn Tollwutvirus enthalten. Außer- dem läßt sich das Virus im Urin und in der Milch nachweisen, hierdurch erfolgt aber keine Infektionsübertra- gung.
Klinik
Die Erkrankung des Menschen nach Kontakt mit einem Rabiesvi- rus-infizierten Tier tritt nach einer Inkubationszeit auf, die meist etwa ein bis drei Monate (10 Tage bis zu einem Jahr) beträgt. Die Dauer der Inkubationszeit scheint um so kürzer zu sein, je näher die Bißstelle dem Zentralnervensystem (zum Beispiel im Gesicht) liegt. Bei Kindern wer- den häufig kürzere Inkubationszei- ten als bei Erwachsenen beobachtet.
Sowohl beim Menschen als auch bei
Tieren kann die Rabies in zwei ver- schiedenartigen Krankheitsformen auftreten, beide Krankheitsbilder beruhen auf einer akuten Enzepha- lomyelitis. Bei der „aggressiven Wut"
finden sich pathologische Verände- rungen vorwiegend im Gehirn, bei der „stillen Wut" (paralytische Form) dagegen überwiegend im Rückenmark.
Diagnose
Die Infektion mit Rabiesvirus kann erst bei Vorliegen der manife- sten Erkrankung durch entsprechen- de Laboratoriumsuntersuchungen (Nachweis von virusspezifischem Antigen in Abklatschpräparaten von der Cornea, Nachweis virusspezifi- scher Antikörper im Serum und Li- quor) nachgewiesen werden. Wäh- rend der Inkubationszeit, zum Bei- spiel bei einem unter Infektionsver- dacht stehenden Patienten, ist der Nachweis einer Rabiesvirus-Infek- tion nicht möglich.
Die Feststellung einer Tollwut oder der Verdacht auf das Vorliegen einer Tollwutinfektion beim Men- schen wird entscheidend durch die Beobachtung des Tieres, mit dem der Betreffende Kontakt hatte, so- wie durch die diagnostischen Unter- suchungen bei diesem Tier be- stimmt. Eine auffallende Unruhe, ein unsicherer Gang und ein unpro- voziertes Schnappen und Beißen legt bei Haustieren (Hund, Katze) den Verdacht auf Tollwut nahe. Diese Tiere müssen unter Aufsicht eines Tierarztes mindestens 10 Tage lang auf das Auftreten von Krankheitszei-
chen beobachtet werden. Bei be- gründetem Verdacht ist das Tier zu töten und pathologisch-anatomisch zu untersuchen. Infizierte Haustiere verenden meistens innerhalb von 10 bis 14 Tagen.
Symptome der Tollwut bei Wild- tieren sind kaum verläßlich anzuge- ben; häufig sind die Tiere angriffslu- stig und haben die Scheu vor dem Menschen verloren.
Durch kleine Nagetiere (Mäuse, Meerschweinchen usw.) wird die In- fektion offenbar — wenn überhaupt — nur sehr selten übertragen.
Therapie
Eine spezifische Therapie zur Behandlung der Tollwut-Erkran- kung des Menschen steht nicht zur Verfügung; die Erkrankung endet ausnahmslos tödlich. Bei Maßnah- men im Rahmen der Intensivthera- pie können Sedierung sowie Schutz der Kranken vor Licht und Geräu- schen angezeigt sein.
Übertragung der Tollwut von Mensch zu Mensch, Quarantäne
Während der Inkubationszeit ist ein — aufgrund anamnestischer An- gaben — als infiziert anzusehender Mensch nicht infektiös. Rabiesvirus läßt sich erst bei Beginn klinischer Symptome im Speichel und in der Tränenflüssigkeit sowie im Urin nachweisen.
Eine Übertragung des Rabiesvi- rus von Mensch zu Mensch ist zwar grundsätzlich möglich, wurde aber bisher nur äußerst selten beobachtet (zum Beispiel C,orneatransplanta- tion). Das medizinische Personal auf Intensivstationen soll zu Beginn der Behandlung Tollwutkranker ausrei- chend geschützt werden (aktive be- ziehungsweise passive Immunisie- rung). Quarantänebestimmungen für die Behandlung von Kranken mit ei- ner Rabies bestehen nicht.
Meldepflicht
Nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) sind Verdacht, Erkran- kung und Tod durch Tollwut melde- pflichtig. Als Verdacht gelten Biß- A-536 (46) Dt. Ärztebl. 86, Heft 9, 2. März 1989
Tabelle 1: Durchführung der postexpositionellen Tollwutschutzbe- handlung bei nicht, unvollständig oder vollständig Rabies-geimpften Personen
Bisherige Rabies- Impfung
Postexpositionelle Tollwut-
Schutzbehandlung
Postexpositionelle Simultanbehandlung
Tollwut-Impfstoff je 1 Dosis an den Ta- gen 0, 3, 7, 14, 28, 90
wie nebenstehend plus
einmalig 20 I. E./kg KG Tollwut-Immun- globulin* i. m.
(gleichzeitig mit 1.
Impfstoff-Dosis) keine
vollständige Schutz- impfung (oder post- expositionelle Toll- wutschutzbehand- lung) im Abstand von 1-5 Jahren länger als 5 Jahre
2 Dosen an den Tagen 0 und 3
vollständiger Zyklus wie bei Nicht-Geimpf- ten
* Dosierungsangaben und Angaben des Herstellers über Kontraindikationen beachten
verletzung sowie Berührung (oder andere Kontakte) durch ein solches Tier.
Präexpositionelle Schutzimpfung
Eine präexpositionelle Schutz- impfung gegen Rabies ist bei allen Personen mit einem erhöhten Expo- sitionsrisiko (zum Beispiel Tierärzte, Jäger, Forstbedienstete, Laboratori- umspersonal) sowie eventuell vor Reisen in Endemiegebiete (Afrika, Indien usw.) angezeigt.
Die zur Schutzimpfung zur Ver- fügung stehenden Impfstoffe beste- hen aus abgetötetem (inaktiviertem) Rabiesvirus, das in Zellkulturen ver- mehrt wurde; derzeit sind Impfstoffe verschiedener Hersteller zur Anwen- dung am Menschen zugelassen. Die Verträglichkeit dieser Impfstoffe ist gut (gelegentlich können an der In- jektionsstelle Schmerz, Rötung und Schwellung auftreten), ihre Immu- nogenität - das heißt die Schutzhaft - ist sehr gut, die Konversionsrate nach abgeschlossener Impfung be- trägt nahezu 100 Prozent.
Die nach Impfung auftretenden Antikörper schützen sowohl gegen Infektionen mit dem bekannten Toll- wut-Wildvirus als auch gegen den in jüngster Zeit wiederholt aus infizier- ten Fledermäusen isolierten Stamm Duvenhage.
Durchführung
der präexpositionellen Schutzimpfung
Zur präexpositionellen Schutz- impfung werden insgesamt drei In- jektionen des Impfstoffes an den Ta- gen 0, 28 und 56 oder - falls eine ra- sche Immunisierung erforderlich ist - an den Tagen 0, 7 und 21 verab- reicht. Das jeweils zu verabreichende Volumen des Impfstoffes sowie auch eventuelle Kontraindikationen las- sen sich den Angaben der Hersteller entnehmen. Der Impfstoff soll intra- muskulär verabreicht werden, bei Erwachsenen in den M. deltoideus.
Auffrischimpfungen durch einmalige Verabreichung einer Impfstoffdosis sind in Abständen von drei bis fünf Jahren erforderlich.
Postexpositionelle Tollwut-
schutzbehandlung
Die Indikation zur postexposi- tionellen Tollwutschutzbehandlung durch die Verabreichung von Toll- wut-Impfstoff (eventuell als passiv- aktive Simultanbehandlung durch die gleichzeitige Gabe von Tollwut- Immunglobulin und der ersten Dosis des Tollwutimpfstoffes) ergibt sich aus der Art und Intensität des Kon- taktes mit einem Tollwut-verdächti- gen oder Tollwut-kranken Tier (Ta- belle 2).
1. Patienten ohne vorausgegangene Tollwutschutzimpfung:
Die postexpositionelle Tollwut- schutzbehandlung bei zuvor nicht ge- gen Rabies immunisierten Patienten (Erwachsene und Kinder) besteht aus sechs Injektionen des beschrie- benen Tollwut-Impfstoffes; die erste Injektion des Impfstoffes erfolgt unmittelbar nach der Exposition (Tag 0), die folgenden an den Tagen 3, 7, 14, 28 und 90 Tagen danach (Tabelle 1).
Bei schweren Bißverletzungen, vor allem an Kopf, Hals und Händen sowie nach Schleimhautkontakt mit tollwutverdächtigen Tieren ist zu- sätzlich eine passive Immunisierung mit Rabies-Immunglobulin angezeigt (siehe unten).
2. Personen mit vorausgegangener Tollwutschutzimpfung:
Bei Patienten, die in den abge- laufenen fünf Jahren vor der jetzigen Exposition eine Tollwutschutz- impfung erhalten hatten, genügt die zweimalige Verabreichung des Toll- wutimpfstoffes an den Tagen 0 und 3. Liegt die Impfung dagegen länger als fünf Jahre zurück, so ist nach dem in Tabelle 1 angegebenen Sche- ma vorzugehen.
In den Entwicklungsländern werden häufig Impfstoffe mit gerin- gerer Antigenität als die der Impf- stoffe aus Zellkulturen verwendet.
Derartig „vorbehandelte" Patienten sind als nicht immunisiert zu be- trachten und werden bei entspre- chender Indikation nach dem in Ta- belle 1 skizzierten Vorgehen ge- impft.
Dt. Ärztebl. 86, Heft 9, 2. März 1989 (49) A-537
Nicht erforderlich.
Bei Unklarheiten Impfung nach Tabel- le 1. Bei Gefahr wei- teren Kontaktes pro- phylaktische Imp- fung.
Tier tollwütig Berührung des Tie-
res, aber kein Kon- takt mit dessen Spei- chel.
Eigene Haut weder vor noch bei Kontakt verletzt.
Tabelle 2: Auswahl des Impfschemas entsprechend Expositionsart Angaben zum Tier
(unabhängig von des- sen Impfschutz gegen Tollwut)
Exposition Impfschema
Kontakt der Haut mit Speichel des Tie- res oder eigene Haut bei Tierkontakt leicht verletzt, Kratz- wunde, Schürfwun- de, leichtere Bißver- letzung (bekleideter Stellen an Körper und Beinen außer Kopf, Hals, Schulter- gürtel, Armen oder Händen)
Tier tollwutverdäch- tig**, für Untersu- chung verfügbar
Tier tollwütig, Wild- tier oder nicht für Un- tersuchung verfügbar
Sofortige Impfung nach Tab. 1.
Wenn Tier laut Un- tersuchungsergebnis gesund, Abbruch.
Impfschutz gegen Tetanus prüfen.
Sofortige Simultan- behandlung* nach Tabelle 1
Impfschutz gegen Tetanus prüfen Kontakt der Schleim-
häute mit Tierspei- chel oder Bißverlet- zung, insbesondere an Kopf, Gesicht, Hals, Schultergürtel, Armen oder Händen
Tier tollwutverdäch- tig** oder tollwütig
Sofortige Simultan- behandlung* nach Tabelle 1
Impfschutz gegen Tetanus prüfen
* Gleichzeitige Gabe von Impfstoff und Immunglobulin
** Tollwutverdächtig ist u. a. jedes Tier, das sich in einem amtlich als gefährdeter Be- zirk gekennzeichneten Gebiet auffällig verhält. Auch frische Kadaver tollwütiger Tiere können noch ansteckend sein.
Passive Immunisierung gegen Tollwut
Die derzeit ausschließlich ver- fügbaren Rabies-Immunglobuline aus menschlichen Seren dienen nur zur postexpositionellen Tollwut- schutzbehandlung, sie sollen nur si- multan mit einer gleichzeitig einge- leiteten Schutzimpfung verabreicht werden (Simultanbehandlung). Die- se aktiv-passive Simultanimpfung stellt die optimale Tollwutschutzbe- handlung dar.
Besteht eine Indikation zur Ver- abreichung von Tollwut-Hyperim- munglobulin (Tabelle 2), so sollte nach Möglichkeit bis zur Hälfte der zu verabreichenden Gesamtdosis lo- kal um die Bißstelle infiltriert wer- den (die restliche Menge wird intra- muskulär verabreicht). Die Verträg- lichkeit der aus menschlichen Seren gewonnenen Tollwut-Hyperimmun- globuline ist gut. Nach Beginn der Simultanbehandlung darf das Rabies-Hyperimmunglobulin nicht mehrfach verabreicht werden, um ei- ne Störung der Immunitätsentwick- lung durch die Schutzimpfung zu vermeiden. Die Dosierung des Ra- bies-Hyperimmunglobulins richtet sich nach den Angaben des Herstel- lers, ebenfalls ist auf die von ihm ge- nannten Kontraindikationen zu ach- ten.
Weitere Maßnahmen
Tetanusprophylaxe:
Wie bei allen Verletzungen ist auch nach Tierbissen die Tetanus- prophylaxe entsprechend den gelten- den Richtlinien durchzuführen. Ein zeitlicher Abstand zur Tollwut- schutzbehandlung ist weder für die aktive noch für die aktiv-passive Te- tanusprophylaxe erforderlich.
Chirurgische Maßnahmen:
Eine sehr wichtige Schutzmaß- nahme gegen die Tollwut ist eine gründliche Lokalbehandlung aller Bißwunden, um eventuell vorhande- nes Rabiesvirus am Ort des Eindrin- gens zu elimenieren. Die verletzte
oder mit Speichel usw. des Tieres kontaminierte Körperstelle ist sofort mit Seifenlösung, Detergentienlö- sung oder anderen viruziden Sub- stanzen zu reinigen und gründlich mit Wasser zu spülen (auch alkohol- haltige Desinfektionsmittel sind zur Sofortbehandlung geeignet). Eine sorgfältige Wundversorgung ist eine unabdingbare Voraussetzung einer sachgemäßen Behandlung.
Nach dem Waschen der Wunde sind anerkannte lokale Desinfek- tionsmittel zu applizieren. Eine be- hutsame, aber ausreichende Wund- exzision ist immer notwendig; Tier- bißwunden sollten nicht genäht wer- den.
Deutsche Gesellschaft für Chirurgie
Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten e. V.
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer
Korrespondenzanschrift:
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer Herbert-Lewin-Straße 1 5000 Köln 41
A-538 (50) Dt. Ärztebl. 86, Heft 9, 2. März 1989