MEDIZIN DIE ÜBERSICHT
Virus-Serie (6)
Aktueller Stand der Epidemiologie,
Diagnostik und Prävention der Tollwut
Für die Impfung gegen die Tollwut stehen drei gleichwertige Zellkultur-Impfstof- fe (HDCS, PCEC und PVRV) zur Verfügung, die nach Exposition bei ordnungs- gemäßer Anwendung ohne Nebenwirkungen zu einem sicheren Schutz vor der Tollwut führen. Auch Kleinkinder und Schwangere können risikolos geimpft wer- den. Die Oralimpfung der Füchse hat zu einem Rückgang der Tollwut in Deutsch- land von 70 Prozent beim Tier im Zeitraum von 1984 bis 1990 geführt. Das Ex- pertenkomitee für Tollwut der WHO hat 1992 die Erkenntnisse der letzten zehn Jahre, unter anderem durch eine Vereinfachung der Tabelle zur Indikationsstel- lung der post-expositionellen Schutzbehandlung, zusammengefaßt.
Olaf Thraenhart
B
edenkt man, daß in Deutsch- land (alte und neue Bundes- länder) zwischen 1977 und 1992 nur vier Tollwutfälle beim Menschen aufgetreten sind, scheint es auf den ersten Blick aus humanmedizinischer Sicht nicht mehr gerechtfertigt zu sein, dieser Infektion weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Dieser Erfolg währt aber nur, solange die Bekämpfungs- maßnahmen der Impfungen beim Tier und Menschen konsequent durchgeführt werden. Sonst wird Tollwut auch für den Menschen in Deutschland erneut zur Gefahr, denn Tollwut existiert in Europa und vor allem in den Tropen, wo et- wa 50 000 Menschen pro Jahr an der Tollwut sterben. Auch ist es trotz aller Fortschritte bislang nicht möglich, den Exitus nach Beginn der klinischen Symptome zu verhin- dern.Das Expertenkomitee der Weltgesundheits-Organisation (WHO) für Tollwut hat 1991 seinen letzten Bericht aus dem Jahre 1983 aktualisiert, da in der Zwischenzeit wesentliche wissenschaftliche Er- kenntnisse auf dem Tollwutgebiet erhoben wurden.
Sekretär des WHO Experten-Komitees für Tollwut, IMVIP Hygiene-Institut Potsdam, Pots- dam-Rehbrücke
1. Epidemiologie
1.1 Tollwut beim Tier
Die Tollwut ist eine virale Zoo- nose, für die eine große Anzahl warmblütiger Tierspezies und der Mensch empfänglich sind. Die un- terschiedliche epidemiologische Si- tuation in den verschiedenen Erd- teilen verdeutlicht die Tabelle 1.
Obwohl die Zahlen das Ausmaß der Tollwutsituation wegen ungenü- gender Diagnostik und Meldung nicht richtig widerspiegeln, werden drei unterschiedliche Erscheinungs- bilder deutlich:
a) In Westeuropa und Nordameri- ka zirkuliert das Tollwutvirus (TWV) zu 86 Prozent in der Wild- tierpopulation,
b) in Südamerika, Asien und Afri- ka sind zu mehr als 90 Prozent der Haustiere, und zwar vor allem der Hund, betroffen, und
c) in Osteuropa zirkuliert das TWV je zur Hälfte in der Haustier- und Wildtierpopulation.
In Europa meldeten folgende Länder keine Tollwutfälle im zwei- ten Quartal 1992: Dänemark, Finn- land, Gibraltar, Griechenland, Is- land, Irland, Luxemburg, Malta, Norwegen (mit Ausnahme der Sval- bard-Inseln), Portugal, Spanien, Schweden und das Vereinigte Königreich.
Durch flächendeckende Impf- aktionen mit dem Oralimpfstoff beim Fuchs ist die Tollwut in Euro- pa in folgenden Ländern auf dem Rückzug: Frankreich, Italien, Lu- xemburg, Österreich, Tschechei, Slowakei; Schweiz und Deutsch- land, wo die orale Fuchsimpfung auch in den fünf neuen Bundeslän- dern (NBL) durchgeführt wird. Im zweiten Quartal 1992 wurden in Deutschland nur 270 Tollwutfälle beim Tier beobachtet. Das ent- spricht einem Rückgang im Ver- gleich zum zweiten Quartal 1991 von 70 Prozent. Vier der 16 Bundes- länder, nämlich Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Berlin (West) und Thüringen sind frei von der Tollwut. Nordrhein-Westfalen ist ebenfalls weitgehend ohne Tollwut.
Allerdings wurden im Oberbergi- schen Kreis seit Oktober 1992 iso- lierte Fälle von Fuchstollwut beob- achtet.
Das Tollwutvirus wurde in 73 Prozent der Fälle vom Fuchs iso- liert. Sechs Hunde waren in den NBL (13,6 Prozent aller Fälle) im Gegensatz zu zwei Hunden in den alten Bundesländern (1,1 Prozent aller Fälle) infiziert. Bei den Kat- zen lagen die Zahlen bei zehn für die NBL (11,4 Prozent) bezie- hungsweise sieben für die ABL (3,8 Prozent). Zum Vergleich:
A-3280 (60) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 47, 25. November 1994
Wildtiere 85,3 53,6 85,8 1,6 10,0 9,9 Tierspezies West-
europa
Ost- europa
Nord- amerika
Süd- amerika
Asien Afrika
Tollwutfällel) 10 439 12 236 7 467 9 227 1 513 1 673 Haustiere
Hund Katze Wiederkäuer Pferde Sonstige
46,4 8,2 6,3 28,5 0,8 2,6
14,2 3,6 3,9 5,6 0,8 0,3
98,4 80,9 3,7 10,2 0,3 3,3
90,0 72,1 3,8 9,9 1,7 2,5
Fuchs Stinktier Waschbär Fledermaus Mungo Sonstige
39,6 0 0
< 0,1 0 14,0
16,3 30,5 20,9 10,5 0,8 6,8 14,7
1,0 2,6 10,5 0,6 0
90,1 55,6 3,1 28,9 2,5 0
77,6 0 0 0,7 0 7,0
0,1 0 0 0,2 1,2 0,1
3,4
0 0
0 1,3 5,3
0,2 0 0 0 4,7 5,2 Tabelle 1: Anzahl der virologisch gesicherten und an die WHO 1989 gemeldeten Toll- wutfälle und die prozentuale Häufigkeit der betroffenen Tierspezies in den einzelnen Erdteilen.
') = Anzahl; Angaben in den anderen Zeilen sind Prozentwerte, die auf die Anzahl Toll- wutfälle bezogen sind.
Osteuropa = ehemalige UdSSR, ehemaliges Jugoslawien, Ungarn, ehemalige CSSR, Ru- mänien
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Durchgeführt wurde eine post- expositionelle Schutzbehandlung („post-exposure-treatment" PET) in der ehemaligen DDR nach Ex- position mit Katzen in 35,8 Pro- zent, Hunden in 30,7 Prozent, Rin- dern in 9,1 Prozent, Schafen in 7,2 Prozent, Füchsen in 2,9 Prozent und in 14,3 Prozent nicht näher be- zeichneter Tierspezies. Für die alte Bundesrepublik gibt es keine Stati- stiken hierzu.
1.2 Tollwut beim Menschen Die Übertragung des Tollwut- virus auf den Menschen ist grundsätzlich von allen infizierten Tieren möglich. Sie erfolgt durch Biß oder Kontamination einer Wunde oder Schleimhaut mit virus- haltiem Speichel. Bislang wurde die Übertragung der Tollwut von Mensch zu Mensch nur nach Trans- plantation der Kornea von tollwut- virusinfizierten Patienten beobach- tet. Durch bloßen Kontakt mit an Tollwut erkrankten Patienten wird kein anderer Mensch infiziert, wie Beobachtungen aus Ländern der Dritten Welt belegen, in denen Pati- enten zur terminalen Pflege nach Hause geschickt werden.
Wie aus der Tabelle 2 hervor- geht, gehen von den 1670 virolo- gisch gesicherten und 1989 an die WHO gemeldeten Tollwutfällen beim Menschen 1560 (93,3 Prozent) auf den Hund zurück.
Von 1977 bis 1990 wurden in Europa offiziell in 14 Ländern 108 Tollwutfälle beim Menschen, vor- wiegend aus der Türkei und der ehemaligen UdSSR, gemeldet. In Deutschland traten in der Zeit von
2. Diagnose der Tollwut beim Menschen
Die Diagnose der Tollwut er- folgt nach Krankheitsbeginn an- hand des klinischen Bildes (Tabelle 3). Wegen nicht tollwutspezifischer Symptome bereitet die Diagnose vor allem in der Anfangsphase große Schwierigkeiten. Da das TWV bei Patienten in Deutschland zumeist in der Dritten Welt akqui- riert wird, sollte bei Patienten mit verdächtigen neurologischen Sym-
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1977 bis 1992 nur vier Tollwutfälle auf (1977 bis 1989 alte, ab 1990 auch NBL). Die Patienten in den alten Bundesländern hatten sich durch den Biß eines Hundes in Ägypten oder Indien infiziert und erhielten bis zum Beginn der Erkrankung keine PET. In den NBL wurde ein Patient bei der Pflege seines toll- wutkranken Hundes in den Finger gebissen. Beim zweiten Fall handel- te es sich um einen Fuchsbiß in die Nasenscheidewand bei einer Frau in Sachsen 1990.
ptomen und einem Aufenthalt in ei- nem Endemiegebiet differentialdia- gnostisch an die Tollwut gedacht werden. Wegen der großen Schwan- kungsbreite der Inkubationszeit sind auch weiter zurückliegende Aufenthalte zu berücksichtigen.
Aus Tabelle 4 kann deutlich er- sehen werden, daß der Zeitraum vom Biß bis zum Tod bei 84 Prozent der Fälle zwischen zehn Tagen und drei Monaten lag.
Erst kürzlich konnte eine Zeit- spanne von sieben Jahren zwischen
Tollwutinfektion und Tod mit Hilfe der Genomanalyse des isolierten Virus nachgewiesen werden: Von ei- ner Patientin, die vor sieben Jahren aus Laos in die USA eingewandert war und seit der Zeit die USA nicht verlassen hatte, wurde ein Tollwut- virus isoliert, das nur im asiatischen Raum zu finden ist.
Die Diagnose Tollwut ist zwar abgesichert, wenn der Nachweis von TWV in Speichel, Korneaabklatsch- präparat, Hautbiopsien oder Liquor cerebrospinalis positiv ist. Der ne- gative Befund schließt die Infektion aber nicht aus. Die Antikörperun- tersuchung kann nur bedingt zur Diagnostik herangezogen werden, da die Antikörper erst nach einer Spanne von sieben bis zehn Tagen nach Krankheitsbeginn in niedrigen Konzentrationen im Serum und Liquor nachzuweisen sind.
Die postmortale Labordiagno- se läßt durch Antigennachweis mit der Fluoreszenzmethode oder Vi- rusisolierung in der Maus oder auf Neuroblastomzellen im Gehirn so- wie im Speicheldrüsengewebe die abschließende Diagnose zu.
Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 47, 25. November 1994 (61) A-3281
West- europa
Ost- europa
Nord- amerika
Süd- amerika
Afrika Asien
Tollwutfällel) 0 31 0 218 1 349 72
Exposition durch Haustiere
71,0 80,7 97,7 94,4
Wildtiere 29,0 19,3 2,3 5,6
Hund Katze Sonstige
73,4 2,8 4,5
91,7 1,4 1,4
Fuchs Stinktier Waschbär Fledermaus Mungo Sonstige
67,7 3,3 0
97,3 0,4 0
22,6 0 3,2 0 0 3,2
1,8 0 0 16,1
0 1,4
0,6 0 0,2 0,1 0 1,4
0 0 0 0 0 5,6 Tabelle 2: Anzahl der an die WHO 1989 gemeldeten Tollwut-Todesfälle beim Menschen in Abhängigkeit von der die Infektion verursachenden Tierspezies in den einzelnen Erd- teilen.
1) = Anzahl der WHO gemeldeter Tollwutfälle beim Menschen; Angaben in den anderen Zeilen sind Prozentwerte, die auf die Anzahl Tollwutfälle bezogen sind. 2) Nur UdSSR, CSSR, Jugoslawien. Osteuropa = ehemalige UdSSR, ehemaliges Jugoslawien, Ungarn, ehemalige CSSR, Rumänien.
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3. Prävention
Therapieversuche nach Beginn der Tollwuterkrankung mit a-Inter- feron, intravenöser oder intratheka- ler Applikation von Tollwut-Im- munglobulin, Anti-Thymozytenglo- bulin, hohen Dosen von Steroiden, Vidarabin, Inosin, Ribavirin und antikörperbindenden Fragmenten des Tollwut-Immunglobulin-G ver- liefen fast immer ergebnislos.
Im Gegensatz zur infausten Prognose nach Beginn der Tollwut- symptome führt die Immunprophy- laxe sowie die sofort nach der Ex- position durchgeführte post-exposi- tionelle Impfung seit 1977, nach Einführung der inaktivierten Zell- kulturimpfstoffe, zum sicheren Schutz vor der Tollwuterkrankung.
3.1 Tollwutvirus, das Substrat, der Impfstoff
Da die inaktivierten Zellkultur- impfstoffe für den Menschen aus- nahmslos mit Betapropiolakton in- aktivierte Gesamtvirion-Vakzinen sind, soll nachfolgend zunächst das
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Virus charakterisiert werden. Das Tollwutvirus gehört zu der Familie der RNA-haltigen Rabdhoviren.
Von den vier Serotypen 1 bis 4 und einer Reihe nicht klassifizierter Stämme, zu denen die aus Fleder- mäusen (Eptesicus serotinus) in Eu- ropa isolierten Stämme gehören, hat nur der Typ 1, das Tollwutvirus, Bedeutung. Alle Impfstoffe gegen Tollwut enthalten ausschließlich ei- nen der Typ-1-Virusstämme (Pit- man Moore oder Flury LEP). Diese schützen sicher vor der Tollwut des Typ 1 und der nicht klassifizierten Stämme der europäischen Fleder- maustollwut. Die Serotypen 2 bis 4 (Lagos, Mokola und Duvenhage Vi- rus) treten äußerst selten in Afrika.
auf. Nach Erfahrungen mit experi- mentellen Infektionen geben die vorhandenen Impfstoffe keinen Schutz gegen die Serotypen 2 bis 4.
Wegen des zu vernachlässigenden Risikos einer Exposition existieren keine Impfstoffe gegen Typ 2 bis 4.
Die Viruspartikel haben eine geschoßförmige Struktur mit einer durchschnittlichen Länge von 180
nm und einem Durchmesser von 75 nm. Das Virion enthält ein helikales Nukleokapsid, umgeben von einer zweischichtigen Lipidhülle. Die Oberfläche ist mit spikeähnlichen Projektionen von 10 nm versehen.
Das Virus enthält fünf Proteine.
Das Ribonukleoprotein umfaßt die genomische RNA und drei interne Proteine, nämlich die Transkriptase (L) (M = 190 000), das Nukleopro- tein (N) (M = 55 000) und das Phos- phoprotein (NS) (M = 38 000). Die- ser Komplex aus RNA und Prote- inen kontrolliert die Transkription und Replikation. Die anderen Strukturproteine sind das Matrix- protein (M) (M = 26 000) an der In- nenseite der Virushülle und das Glykoprotein (G) (M = 67 000) der spikeähnlichen Projektionen.
3.2 Tollwutimpfstoffe für den Menschen
Seit den siebziger Jahren wird der HDCS (human diploid cell strain)-Zellkulturimpfstoff ange- wendet, bei dem der Pitman Moo- re-(PM)-Virusstamm auf humanen, diploiden Lungenfibroblastenzellen vermehrt wird. In den letzten zehn Jahren wurden der PCEC (purified chick embryo cells)-Impfstoff, bei dem der Flury-LEP-Virusstamm auf primären Hühnerfibroblasten- Zellkulturen, und der PVRV (puri- fied vero rabies vaccine)-Impfstoff, bei dem der PM-Virusstamm auf der permanenten Zellinie „Vero"
vermehrt wird, entwickelt. Der PCEC-Impfstoff (Rabipur®) führt nicht zur Bildung von IgE im Sinne einer Allergisierung gegen Hühner- eiweiß. Alle Zellkulturimpfstoffe sind hinsichtlich ihrer Immunoge- nität gleich gut und haben nur eine schwache lokale Reaktogenität, sie können bei allen Personen, auch bei Kleinkindern und bei entsprechen- dem Risiko bei Schwangeren, ange- wendet werden.
3.3 Impfschemata
In Deutschland wurde das von Kuwert et al. (5) entwickelte „Essen- Schema", das heißt die intramus- kuläre Applikation des HDCS-Zell- kulturimpfstoffes an den Tagen 0, 3, 7, 14, 30 und 90, von der WHO 1975 anerkannt. 1977 wurde dieser Impf-
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Tabelle 4: Intervall zwischen Biß und Tod bei 707 Tollwutfällen in Thailand Intervall % Todesfälle
7-10 Tage 10-20 Tage 21-28 Tage
1— 3 Monate 3— 6 Monate 6-12 Monate
> 1 Jahr
3,2 41,9 25,8 16,1 3,2 3,2 6,5
Tabelle 3: Zusammenstellung klinischer Symptome der Tollwutinfektion beim Menschen
Prodromal- Stadium
akute
neurologische Phase
Tod durch Koma
Fieber Anorexie Übelkeit Erbrechen Unwohlsein Lethargie Schmerzen oder
Parästhesien an der Bißstelle Angstzustände Depression Erregung
Hyperventila- tion
Hypoxie Aphasie
Parese, Paralyse Aerophobie Hydrophobie pharyngealer Spasmus Konfusion Delirium Halluzinationen ausgeprägte Hyperaktivität
Hypophysen- Dysfunktion Hypoventilation Kardiale Arrhythmie Herzstillstand
Pneumothorax Intravaskuläre Thrombose Sekundäre Infektion Atemstillstand
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modus zur PET zuerst in Deutsch- land zugelassen. Seit 1980 wird weltweit nach diesem Schema geimpft.
3.4 Immunität
Die Impfung mit einem der Zellkulturimpfstoffe führt mit an Sicherheit grenzender Wahrschein- lichkeit zu einem Schutz vor der Tollwut. Hierbei werden Antikör- per gegen alle Virusproteine indu- ziert. Für die Immunogenität sind vor allem das G- und N-Protein von Bedeutung. Das G-Protein ist das einzige Protein, das virusneutrali- sierende Antikörper induziert, wel- che vor der Tollwut schützen.
Neutralisierende Antikörper werden bei einigen Impflingen be- reits drei bis sieben Tage nach der ersten Vakzination gebildet, nach 14 Tagen haben alle Impflinge Anti- körper, diese persistieren für mehr als ein Jahr. Parameter der zel- lulären Immunität, wie das s-CD14 lassen sich bereits sechs Stunden nach der ersten Impfung nachwei- sen. Selbst zwölf Jahre später sind noch Antikörper und zelluläre Im- munität nachweisbar.
3.5 Prophylaktische Impfung (Prä- expositionelle
Schutzimpfung)
Die medizinische Maßnahme der prä-expositionellen Prophylaxe besteht in der aktiven Immunisie- rung gegen Tollwut an den Tagen 0, 7 und 28. Prä-expositionelle Imp- fungen sind Personen mit einem ho- hen Expositionsrisiko anzubieten.
Besonders gefährdet ist Laborper- sonal, das mit Tollwutvirus arbeitet.
Durch Umgang mit Haus- und Nutztieren sind Tierärzte, Tier- händler, Personal in Abdeckereien, durch möglichen Kontakt mit Wild- tieren Waldarbeiter, Jäger, gegebe- nenfalls Fledermausbiologen ge- fährdet. Auch Personen, die in den Tropen eine längerfristige berufli- che Beschäftigung ausüben, gehören zur Gruppe mit hohem Tollwutrisiko.
Diese Personen sollten jährlich auf Antikörper untersucht werden.
Sofern keine neutralisierenden An- tikörper nachweisbar sind, sollte ei- ne weitere Vakzination verabreicht
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werden. Andernfalls sind Revakzi- nationen im Abstand von ein bis drei Jahren mit einer Impfdosis durchzuführen, solange das Risiko fortbesteht.
3.6 Post-expositionelle Schutz- behandlung
Neuere Untersuchungen mit Straßenvirus von thailändischen Hunden haben gezeigt, daß das Vi- rus nach Eindringen in die Musku- latur bereits nach wenigen Stunden die Nervenendigungen erreicht.
Diese pathogenetische Eigenschaft unterstreicht die Notwendigkeit, möglichst umgehend nach der Ex- position mit der PET zu beginnen.
3.6.1 Indikation zur post-expo- sitionellen Schutzbehandlung Die Antwort auf die Frage, ob der Verdacht für eine Tollwutexpo- sition gegeben ist, hängt im wesent- lichen von
a) der Art des Kontaktes, b) der Tierspezies,
c) dem Zustand des verdächtigen Tieres,
d) der örtlichen Tollwutsituation in der Tierpopulation,
e) dem klinischen Status des ver- dächtigen Tieres (nur Hunde und Katzen),
f) deren Impfstatus,
g) dem Urteil des Tierarztes und h) eventuell vorliegenden Labor- befunden zur Tollwutinfektion des verdächtigen Tieres ab. Wegen der Vielzahl der Einflußfaktoren kann eine allgemein verbindliche Ant- wort zur Indikation nicht gegeben werden, sie liegt in der Verantwor- tung des behandelnden Arztes.
A-3284 (64) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 47, 25. November 1994
Expositions- Kategorie
Art des Kontaktes )
Schutzimpfung
—Berühren oder Füttern von Tieren
— Belecken der intakten Haut
keine
Knabbern an der unbedeck- ten Haut
— oberflächliche Kratzer, die nicht zum Bluten führten
Belecken der nicht intakten Haut
aktive
Immunisierung) II
jegliche Biß- verletzung oder Kratzwunden, die die Haut durchdringen
— Kontamination von Schleim- häuten mit Speichel (z. B.
lecken, Spritzer)
aktive plus passive
Immunisierung2) III
Tabelle 5: Art der post-expositionellen Tollwutschutzimpfung in Abhängigkeit von der Exposition (nach WHO-Experten-Komitee für Tollwut, 1992)
1) Art des Kontaktes mit einem tollwutverdächtigen oder tollwütigen Haus- oder Wild- tier (Kontakt zu Nagetieren, Kaninchen und Hasen erfordert selten, wenn überhaupt, ei- ne spezifische Anti-Tollwut-Behandlung) oder mit einem Tier, das nicht zur Beobachtung zur Verfügung steht.
2) Grundsätzlich sollte sofort mit der Schutzimpfung begonnen werden. Wenn sich später herausstellt, daß das Tier nicht tollwütig war, kann die Impfung abgebrochen oder als prä-ex- positionelle Impfung beendet werden. Wenn ein offensichtlich gesunder Hund oder eine ge- sunde Katze, die sich während der letzten zehn Tage in einem Gebiet geringen Tollwutrisikos aufgehalten haben, für zehn Tage unter Beobachtung gestellt werden, kann dies eine Ver- schiebung der Entscheidung zur Behandlung rechtfertigen.
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Hinsichtlich der Art des Kon- taktes hat das Expertenkomitee für Tollwut der WHO 1991 die Tabelle des Indikationsschemas unter dem Gesichtspunkt der sofort einzulei- tenden PET vereinfacht (Tabelle 5).
Keine Indikation für eine PET ist das Füttern oder Berühren eines tollwütigen Tieres, sofern die Anamnese verläßlich ist. Das glei- che gilt für den Fall, daß ein toll- wütiges Tier über intakte Haut leckt (Kategorie I). Ist die Anamnese bei Kindern oder verwirrten Personen unklar, ist entsprechend Katego- rie II oder III vorzugehen. Auf Grund neuerer Erfahrungen wer- den geringfügige Bisse an bedeck- ten Körperstellen jetzt den schwe- ren Expositionen der Kategorie III und nicht mehr der Kategorie II zu- geordnet (Simultanimpfung). So- fern das Tier an der unbedeckten Haut geknabbert hat, ohne diese zu verletzen, bei kleineren Kratzern oder Abschürfungen ohne Blutun- gen sowie Belecken der nicht intak- ten Haut ist entsprechend Katego- rie II eine aktive post-expositionelle Schutzimpfung zu verabfolgen. Im Zweifel ist eine Simultanimpfung zu empfehlen. Einzelne oder multiple transdermale Bisse oder Abschür- fungen sowie Kontaminationen von Schleimhäuten mit Speichel, zum Beispiel durch Belecken, sind durch Gabe von aktiver und passiver Im- munisierung zu behandeln.
Personen, die zufällig in Kon- takt mit Lebendimpfstoff für die orale Fuchsimpfung gekommen sind, sollten eine post-expositionel- le Behandlung mit aktiver Immuni- sierung erhalten. Bei Kontakt mit Fledermäusen mit geändertem Ver- halten ist eine aktive Impfung zu empfehlen.
Auch wenn Patienten erst meh- rere Tage nach der Exposition den Arzt aufsuchen, wird in den Fällen gesicherter Exposition immer eine aktive und passive Immunisierung (Kategorie III) empfohlen. Der Er- folg einer verspätet durchgeführten PET ist jedoch nicht gesichert.
3.6.2 Durchführung der post-ex- positionellen Schutzbehandlung Da die Entfernung des Tollwut- virus an der Eintrittsstelle durch vi-
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ruzide Antiseptika besonders wirk- sam ist, ist die Wundbehandlung möglichst umgehend mit Seife und Wasser oder Detergentien und anschließend mit Äthanol (70pro- zentig) oder organischen Jodverbin- dungen durchzuführen.
Das Tollwutimmunglobulin vom Menschen ist in einer Dosierung von 20 IU/kg Körpergewicht zu ap- plizieren. Die passive Immunisie- rung erfolgt nur einmal. Das Anti- Tollwut-Hyperimmunglobulin soll, soweit anatomisch möglich, wenig- stens zur Hälfte lokal in die Tiefe der Wunde instilliert und um die
Wunde infiltriert werden. Der Rest wird in einer Dosis intramuskulär in den M. glutaeus auf der anderen Körperseite appliziert, auf der die aktive Immunisierung durchgeführt wird.
Das Nähen der Wunde sollte möglichst zurückgestellt werden, andernfalls ist der lokalen Serum- behandlung ganz besondere Auf- merksamkeit zu widmen. Sofern er- forderlich, sind weitere therapeuti- sche Maßnahmen, die nicht tollwut- spezifisch sind, wie Tetanusimp- fung, Verabreichung von Antibioti- ka, zu ergreifen.
Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 47, 25. November 1994 (65) A-3285
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Die post-expositionelle Imp- fung ist nach dem Essener bezie- hungsweise WHO-Schema am Tag 0 (Tage der Exposition, gegebenen- falls erster Besuch beim Arzt), und dann an den Tagen, 3, 7, 14, 30 und 90 zu verabreichen. Der Tollwut- impfstoff ist nur intramuskulär zu verabreichen, und zwar ausschließ- lich in den M. deltoideus. Bei Kin- dern ist die Impfung in die antero- laterale Zone des Oberschenkels zu verabreichen. Die aktive und passi- ve Immunisierung ist zusammen zu applizieren.
3.7 Tollwut wegen fehlerhafter post-expositioneller
Schutzbehandlung
Bislang wurden in Europa und Amerika nach mehr als einer Milli- on PET nur ein Tollwutfall, in Asi- en (Indien und Thailand) 27 Patien- ten nach ebenfalls mehr als einer Million PET beobachtet. Die Ana- lyse dieser Fälle hat gezeigt, daß die Empfehlungen der WHO zur post- expositionellen Therapie nicht ein- gehalten wurden. Folgende Fehler wurden gemacht:
1. fehlende Gabe von Tollwutim- munglobulin,
2. fehlende oder falsche Wundver- sorgung,
3. Verabreichung des Tollwutim- munglobulin zwölf bis 24 Stunden vor der aktiven Immunisierung, 4. Impfung nicht in den M. delto- ideus oder
5. Einleitung der PET mehr als 24 Stunden nach Exposition.
Bei schweren Krankheitszu- ständen oder Immunsuppression des Patienten und extrem kurzer In- kubationszeit, wie bei Bissen im Be- reich des Zentralnervensystems, ist in Ausnahmefällen der Patient nicht zu retten. Hier ist der tragi- sche Tod der Patientin aus Sachsen zu nennen, bei der sofort nach dem Biß eines Fuchses in die Nasen- scheidewand die Simultanimpfung eingeleitet wurde.
Das Virus konnte durch Wund- behandlung nicht wirksam inakti- viert werden und gelangte auf kür- zestem Weg ins Gehirn. Zusätzlich war die Patientin durch ein voraus- gegangenes Schädeltrauma mit bak- terieller Meningitis und chronischer
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Nierenzirrhose erheblich vorge- schädigt. Solche Fälle sind aber äußerst selten, denn selbst nach be- sonders gefährlichen Wolfs- und Hundebissen im Kopfbereich be- sonders bei Kindern läßt sich die Tollwut mit der durch die WHO empfohlenen post-expositionellen Therapie verhindern.
3.8. Schutzmaßnahmen im Krankenhaus
Speichel, Tränen, Urin, Liquor und andere Körperflüssigkeiten oder Gewebe, nicht aber Blut oder Stuhl von Tollwutpatienten sollten als kontaminiert angesehen werden.
Das Tollwutvirus kann durch alle viruswirksamen Desinfektionsmit- tel inaktiviert werden. Die Isolie- rung von Patienten mit Tollwutver- dacht ist notwendig, um sekundäre bakterielle Infektionen beim Pati- enten und die Tollwutvirus-Exposi- tion anderer Patienten oder des Personals, das nicht mit der Pflege des Tollwutpatienten befaßt ist, zu verhindern. Das Personal, das mit einem tollwutverdächtigen Patien- ten in Berührung kommt, sollte je nach Kontakt prä- oder post-expo- sitionell geimpft werden.
3.9 Re-Exposition
Personen, die bereits früher ei- ne prä-expositionelle oder post-ex- positionelle Vakzination mit Zell- kulturimpfstoff erhalten haben, werden lediglich zweimal an den Tagen 0 und 3 geimpft. Eine syste- mische passive Immunisierung er- folgt im Falle einer Re-Exposition nicht.
Wenn die Impfanamnese unbe- kannt ist oder mit Gehirnimpfstoff vorab geimpft wurde, ist immer wie bei einer erstmaligen Exposition zu verfahren.
4. Zukünftige Entwicklungen Zwei neue, primär für die Be- lange der Dritten Welt entwickelte Impfschemata sind das intramus- kulär anzuwendende „2-1-1"-Sche- ma, bei dem am Tag 0 zwei Dosen und an den Tagen 7 und 21 je eine Dosis Impfstoff verabreicht wird, sowie ein intradermal zu applizie- rendes Impfschema, bei dem zwei Dosen von je 0,1 ml an den Tagen 0,
3 und 7 und je eine Dosis von 0,1 ml an den Tagen 30 und 90 injiziert werden. Beide Schemata werden vom WHO-Experten-Komitee ab 1992 empfohlen. Das 2-1-1-Schema, das in Kroatien und Frankreich ein- gesetzt wird, ist für die PET ohne Tollwutimmunglobulin (Expositio- nen der Kategorie II) zugelassen.
Das bislang nur im WHO-Zentrum für Tollwut in Bangkok neben dem Essen-Schema angewandte intra- dermale Impfschema für Kategorie II und III bedingt eine Vielzahl Pa- tienten pro Tag und eine gute Tech- nik der intradermalen Injektion.
Neue Substanzen wie Inter- feron, Interferon-Inducer und monoklonale Antikörper statt des polyklonalen Tollwutimmunglobu- lin werden derzeit für die PET überprüft.
Priorität hat die Entwicklung von wahrscheinlich rekombinanten Oralimpfstoffen für den Hund für die Bekämpfung der Hundetollwut in den Tropen. Da der nicht immu- ne Hund als wichtigste Infektions- quelle des Menschen gilt, muß es weiterhin im Interesse jedes einzel- nen — nicht nur des Hundezüchters und -halters — liegen, den Immun- schutz der Hundepopulation auf- rechtzuerhalten. Auch die Impfung beim Fuchs muß fortgesetzt wer- den. Das Restrisiko des Menschen kann dann mit den verfügbaren Maßnahmen der prä- und post- expositionellen Prophylaxe bezie- hungsweise Schutzbehandlung opti- mal verhindert werden.
(Telefonische Beratung zur Tollwutimp- fung: 02 01/40 32 41 oder 03 32 00/
8 52 91)
Deutsches Ärzteblatt
91 (1994) A-3280-3286 [Heft47]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über den Verfasser.
Anschrift des Verfassers:
PD Dr. med. vet. Olaf Thraenhart IMVIP Hygiene-Institut Potsdam Arthur-Scheunert-Allee 3
14558 Potsdam-Rehbrücke
A-3286 (66) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 47, 25. November 1994