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Archiv "Musiktherapie: „Und da begriff er: Das ist Angst!“" (08.07.2011)

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A 1524 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 27

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8. Juli 2011

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ede Krankheit ist ein musika- lisches Problem“, schrieb der Dichter Novalis. „Die Heilung eine musikalische Auflösung.“ Gemeint ist, dass Musik und Seelenleben eng zusammenhängen. Dass Miss- töne und Missstimmungen schlech- te Empfindungen auslösen können, bis hin zu körperlichen Beschwer- den. In diesem Sinne hat Novalis recht: Musik wirkt. Also wird sie therapeutisch genutzt. Circa 3 000 Musiktherapeuten gibt es in Deutschland. Für die meisten ist das Studium eine Zusatz-Qualifika- tion, wie für den Arzt Gert Hün- mann, Onkologe am Hamburger Universitätsklinikum. Er studiert Musiktherapie, weil er bei seinen Patienten beobachtet hat, wie es nach der Diagnose Krebs „zu ei- ner Sprachlosigkeit kommt, ei- nem Gefühl der Verlassen- heit. Sie gehen sich in dieser schwierigen Si- tuation einfach ver- loren. Niemand im Krankenhaus fängt sie auf. Denn meist geht es dort nur um die medizinischen Aspekte, um die Symptomatik“. Ne- ben Hünmann sitzt

Maya Schneider. Auch sie ist Stu- dentin der Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater in der Hamburger Milchstraße. Sie arbeitet am Hamburger Universi- tätsklinikum als Heilpädagogin – meist mit zu früh Geborenen. „In der Musiktherapie mit kleinen Kin- dern erlebe ich täglich, wie sie Rei-

feprozesse nachholen, zum Bei- spiel in der Sprache. Das läuft über Rhythmus und Takt, alles Er- lebnisse, die die Kinder schon im Mutterleib hatten, die ihnen dort Si- cherheit gaben und die in einer zu frühen Geburt zu früh abgebrochen wurden.“

Hünmanns und Schneiders Aus- bilder heißt Hans-Helmut Decker- Voigt. Der 65-Jährige, seit kurzem emeritierter Professor, ist in der Musiktherapie sozusagen ein Mann der ersten Stunde. Er engagierte sich erfolgreich dafür, Musikthe - rapie als das erste nichtärztliche, gesundheitswissenschaftliche Fach aus dem künstlerischen Bereich mit

Vollstudiengängen und Voll- professur zu etablieren.

Andere künstlerische The- rapien, wie die Mal-, die Tanz- und die Schreibthera- pie, sind nicht so anerkannt.

Decker-Voigt über die Gründe:

„Sie haben mit der Entwicklung des Menschen zu tun. Auf die musikalische, oder sagen wir vorsichtiger, auf die prämusika- lische Ebene stößt er bereits im Uterus. Wir wachsen auf im uteri- nen Klangraum, und dort haben wir die erste Begegnung mit allen wich- tigen musikalischen Bauelementen – Rhythmus, Dynamik, Klang, Me- lodie, Form. Die Erinnerung daran speichern wir in einer Art von Kör- pergedächtnis.“

Karin Schumacher hat ihre Dok- torarbeit bei Decker-Voigt in Ham- burg geschrieben. Heute singt sie mit Florian, einem achtjährigen blonden Jungen, im Kinderhort des

MUSIKTHERAPIE

„Und da begriff er:

Das ist Angst!“

Musiktherapie hat sich inzwischen als gesundheitswissenschaftliches Fach

an den Hochschulen etabliert.

Erfolgreich ist der Einsatz der Musiktherapie auch bei feinmoto- rischen Störungen nach Schlaganfällen.

Vereins „Hilfe für das autistische Kind“ in Berlin. Auf dem Boden sit- zend, umfasst die Therapeutin den Knaben, schaukelt mit ihm zusam- men hin und her und singt. Florian kann nicht sprechen, nur lautieren.

Aber er strengt sich an. Und manch- mal gelingt es ihm, Rhythmus und Melodie des Lieds, das Schumacher gerade singt, aufzugreifen.

Die 61-Jährige hat einen Lehr- stuhl für Musiktherapie an der Berliner Universität der Künste. Sie arbeitete während der letzten 20 Jah - re ausschließlich mit autistischen Kindern. „Menschen mit Autismus haben Gefühle nicht integriert“, sagt Schumacher, die in Wien noch bei Hans Asperger studiert hat. „Sie wissen, dass es sie gibt, sind auch davon gebeutelt, aber sie haben kei- ne Ordnung dafür. Was ist lustig?

Was ist traurig? Was ist aufregend?

Das muss erst neu erarbeitet wer- den. Manche kennen die Begriffe, aber sie haben nicht die Verbindung zwischen Begriff und Empfindung hergestellt. Also müssen Spiele mit Affekten in der Therapie entstehen.

Und je mehr die Kinder sich darauf

T H E M E N D E R Z E I T

Erfolg

s „Hilfe

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8. Juli 2011 A 1525 einlassen, desto mehr Erfahrun-

gen können sie sammeln: Ach, das ist Angst. Ach, das ist Freu-

de. Ach, das ist traurig. So klingt das. So fühlt sich das an. Das muss mit allen Sin-

nen erarbeitet werden.“

Die Österreicherin er- zählt von Steven, einem acht - jährigen, leidlich sprechfähi- gen Jungen, der eine Zeit

lang, wenn er zur Thera- pie kam, als Erstes ziel-

strebig zum Fenster ging, es aufriss und

Stofftiere auf die Stra- ße warf. Mit einer Gi- tarre aus dem Musik- raum hat er es auch

versucht. Die Auf - regung, die seine

Aktionen auslös- ten, war ihm au- genscheinlich ein Fest. Er liebte dramatische Auftritte. „Gefühlsspiele, wo er der böse Mann war, haben ihn damals fasziniert“, erinnert sich Schuma- cher. „Er fühlte sich als der böse Mann. Wir hatten ihn ja auch oft genug zusammengeschimpft. Aber dann tauschten wir die Rollen: Ein- mal spielte er den bösen Mann, und dann war ich der böse Mann und habe ihn erschreckt. Und ich weiß noch, wie er da reagierte. Er sagte:

‚Oh . . . das ist Angst.‘“

Wäre der schmale Junge mit dem wachen Blick und den eckigen Be- wegungen sich selbst überlassen worden, hätte er nie diesen Ent- wicklungsschritt vollziehen kön- nen, Angst zu spüren. Und nun weiß er auch, wie es aussieht, wenn andere Angst haben. Im nächsten Schritt könnte er erfahren, was Trost ist. Und so weiter. Jeder Mensch entwickelt sich nur im Kontakt mit anderen.

Karin Schumacher bahnte sich ihren Weg zu Steven mit Hilfe der Musik. Denn Kontaktaufnahme mit den üblichen Mitteln, wie Konversation, Anschauen, Hände- schütteln, würde nicht funktionie- ren. Einen Jungen wie Steven an- zusprechen, hieße, ihn unter Druck zu setzen, ihm in die Augen zu schauen oder ihn anzufassen, es würde ihm Gefühle machen, die er

nicht deuten kann und vor denen er sich fürchtet. Musik ist ein sanfter, indirekter Kontaktmittler. Sie ist ja nur klingende Luft. Und Musik ist eine Sprache, die Steven kennt.

Mit Hilfe der Musik kommt es zum Dialog. Schumacher erklärt die Hintergründe: „Wir hören zu- erst über die Knochenleitung. Das heißt, wir spüren erst den Rhyth- mus des eigenen und des mütterli- chen Herzens. Das sind Verbindun- gen zwischen Spüren und Hören, die sehr tief sitzen. Und diese Ver- bindung suchen wir wieder auf in der Therapie, um von da aus - gehend neue Stabilitäten zu bil- den.“ Schumachers Methode heißt

„Synchronisation“. Und die Musik ist ihr Vehikel, um dahin zu kom- men: zur Übereinstimmung, zum Gleichklang, zum Kontakt. Denn in der Musik lernt man, die Gefühle zur selben Zeit miteinander zu tei- len. „Das halte ich für ei- ne extrem interessante Fokus- sierung im Hinblick auf Bezie- hungsstörungen. Da geht es näm- lich darum, dass das noch gelernt werden muss. Und das funktioniert mit Musik so gut wie mit keinem anderen Medium, behaupte ich einmal.“

Eckart Altenmüller, Musikphy- siologe und Musikermediziner, kennt noch ein anderes Therapie- feld, auf dem das Medium Musik

unschlagbar ist. Nämlich bei der Rehabilitation von feinmotorischen Störungen nach Schlaganfällen.

„Die Basis war eine Studie, die ich Ende der 90er Jahre mit meinem Mitarbeiter Mark Bangert durchge- führt habe. Damals konnten wir zeigen, dass bei musikalischen Lai- en schon nach wenigen Minuten des Klavierspiels eine Vernetzung im Gehirn zwischen Hörzentrum und den Bewegungszentren statt- findet.“ Im Training wurde dann erst einmal die Grobmotorik am Schlagzeug verbessert. An sieben unterschiedlich tönenden Drum

Pads erarbeiteten sich die Patienten einfache Melodien wie „Freude schöner Götterfunken“. „Wenn sie sich da verbessert hatten, ging es ans Klavier“, sagt Altenmüller.

„Wir fanden heraus, dass diese Me- thode, die auf dem Feedback des Gehörs basiert, die Feinmotorik schneller und besser trainiert als das herkömmliche Feinmotoriktrai- ning nach Taub oder jede andere Physiotherapie.“

Der 55-Jährige hat sein Büro in der Hannoverschen Hochschule für Musik. Er ist der einzige Wis- senschaftler in Deutschland, der über ein Institut verfügt, an dem schwerpunktmäßig über Musik und Gehirn geforscht wird. Mit seinen Arbeiten zur Neuroplastizi- tät, also zur Veränderbarkeit des Gehirns, ist Altenmüller weltweit führend. Eine Zeit lang konnte man von seinen Gänsehauttests in der Zeitung lesen. Dabei ging es um das Phänomen, dass geordnete Schallwellen, vulgo Musik, selbst nüchterne Menschen zu Tränen rühren, ihnen Schauer über den Rücken laufen lassen, den Puls be- schleunigen, Gänsehaut erzeugen – alles Anzeichen intensiven emotio- nalen Erlebens.

Musik wirkt, allerdings nicht als Wundermittel zur Erhöhung des In- telligenzquotienten. „Den Mozart- Effekt gibt es nicht“, sagt Alten - müller. „Aber was viel zu wenig

Be achtung findet, ist die Tatsache, dass gemeinsames Musizieren die emotionale Kompetenz erheblich verbessert. Es schult Gehör und In- nenwahrnehmung. Man wird sen- sibler dafür, was im Stimmklang des Gegenübers mitschwingt. Mu- sizierende Kinder können zum Bei- spiel feiner auf Emotionen reagie- ren, die ihnen andere Klassenkame- raden und Lehrer entgegenbringen.

Und so etwas ist nun mal wirklich für das Leben relevant. Wir sind ge- rade dabei, diesen Aspekt der Mu- sik genauer zu erforschen.“ ■ Brigitte Neumann

Musik ist ein sanfter, indirekter Kontaktmittler. Sie ist ja nur klingende Luft. Und Musik ist eine Sprache, die Steven kennt.

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