A 514 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 108|
Heft 10|
11. März 2011D
ie Patientenversorgung in ei- ner Notaufnahme bringt für die Ärzte und das Assistenzpersonal besondere Herausforderungen mit sich. Die Patienten kommen unange- meldet, zu jeder Zeit und mit unter- schiedlichsten Symptomen. Der akut gefährdete Gesundheitszustand be- dingt oft die Notwendigkeit einer dringlichen symptomatischen Thera- pie vor einer ausführlichen Diagnos- tik. Die einen Eingriff in die körper - liche Integrität rechtfertigende Ein- willigung bedarf dabei häufig der Mutmaßung. Entscheidungen müssen nicht nur schnell getroffen, sondern auch klar und eindeutig allen Betei- ligten kommuniziert und zur Ent - lastung möglichst frühzeitig doku- mentiert werden. Dazu kommt der Druck, den Sparvorgaben, Speziali- sierungen und Personalnöten vieler Krankenhäuser Rechnung zu tragen.Die Notaufnahme ist, wie jede an- dere Abteilung des Krankenhauses, kein rechtsfreier Raum; durch die Vielzahl von Kontakten wird er auch in der Bevölkerung aufmerksam wahrgenommen. Auch Nacht- und
Sonntagsdienst sind im Krankenhaus grundsätzlich so zu organisieren, dass für Patienten in Not- und Eil - fällen eine standardgemäße Notauf- nahme gewährleistet ist. Die Bereit- schaft von Patienten und deren An - gehörigen, deutlich sichtbare Miss- stände wie überlange Wartezeiten, Unfreundlichkeit, eine Odyssee durch verschiedene Fachdisziplinen oder auch Behandlungsfehler wegen Fehl- einschätzung oder Unerfahrenheit zu akzeptieren, nimmt ab und die juristi- sche Verfolgung zu. Die Erwartungs- haltung von Laien orientiert sich da- bei sogar an beliebten Fernsehserien über Notaufnahmen. Tatsächlich be- dürfen in vielen Krankenhäusern räumliche und personelle Strukturen einer deutlichen Verbesserung.
Pflichtenkatalog der Klinik Der Krankenhausträger darf den Qualitätsstandard nicht unter die unverzichtbare Basisschwelle absin- ken lassen. Über die Einhaltung der fachlichen Zuständigkeiten ist zu wachen. Im Streitfall hat die Verwal- tung darzulegen und zu beweisen,
dass Organisation, Kontrolle und Überwachung des ärztlichen wie des nichtärztlichen Dienstes den Stan- dards der Kategorie genügten, der das Haus angehört. Zu den Organi- sationspflichten des Klinikträgers gehören beispielsweise umsetzbare Rufbereitschaften. Ein Assistenzarzt kann mit wichtigen Entscheidungen, wie der Notwendigkeit einer soforti- gen Operation, nicht allein gelassen werden, es bedarf konkreter An - weisungen, wie er fachlich fundier- te Unterstützung einzuholen hat.
Selbstverständlich hat das Personal zur Vermeidung eines Übernahme- verschuldens wiederholende Über- lastungen oder eine Überforderung der Klinikleitung mitzuteilen.
Gegenstand haftungsrechtlicher Auseinandersetzungen – und zwar straf- und zivilrechtlich – sind in- zwischen nicht mehr allein die klas- sischen Vorwürfe eines ärztlichen Kunstfehlers durch Tun oder Unter- lassen. Zunehmend geht es um Vor- würfe einer mangelhaften Organisa- tion des Behandlungsapparats – und zwar sowohl technisch als auch per- NOTFALLMEDIZIN
Eine besondere Herausforderung
Eine Weiterbildung von Ärzten in der Notfallmedizin stellt die gebotene organisatorische Reaktion auf die Besonderheiten bei der Versorgung von Notfallpatienten dar.
Foto: vario images
T H E M E N D E R Z E I T
A 516 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 108|
Heft 10|
11. März 2011 sonell. Damit wird für Juristennicht nur der Aufklärungsumfang, sondern auch der Kreis der Verant- wortlichen groß.
Das Organisationsverschulden ist ein bedeutender eigenständiger Haftungsgrund geworden. Er wird im Zivilrecht zudem von Beweis - erleichterungen für den Patienten begleitet. Ernsthaft betriebenes und dokumentiertes Qualitätsmanage- ment ist somit heutzutage eine ganz wichtige Vorsorge- und Schutzmaß- nahme der Kliniken.
Die Notwendigkeit, sich Fach- kenntnisse und Erfahrung am Fall zu verschaffen, ist kein vom Patienten zu tragendes Risiko. Die damit ver- bundenen höheren Gefahren für ihn müssen durch besondere Vorkehrun- gen neutralisiert werden. Der Bun- desgerichtshof verlangt eine voraus- gehende Kontrolle des theoretischen Wissens des Weiterzubildenden über das Behandlungsfeld und den Umgang mit den zu erwartenden Komplikationen; ferner natürlich die Überwachung seiner Arbeit durch einen erfahrenen Facharzt.
Erst wenn der Weiterzubildende auf- grund seiner praktischen Erfahrung mit der Behandlungsmaßnahme Ge- währ für den fachärztlichen Stan- dard bietet, kann auf die Anwesen- heit eines aufsichtführenden Fach- arztes verzichtet werden. Im Streit- fall muss dieser seine Kontrollmaß- nahmen und die daraus gewonnenen Erkenntnisgrundlagen belegen. Blei- ben Zweifel, haftet er. Auch die über dem Weiterbildungsarzt stehenden Verantwortungsträger sehen sich aufgrund ihrer Kontroll- und Über- wachungspflichten einer juristischen Verfolgung ausgesetzt.
Krankenhäuser der Maximal- und Regelversorgung reagieren auf ihre Aufnahmepflichten zuneh- mend mit der Einrichtung von zen- tralen Notaufnahmen, wenn auch noch mit unterschiedlichsten bauli- chen Gestaltungen und organisato- rischen Abläufen. Die Patienten können so wie durch einen Trichter der richtigen Behandlung auf der dafür vorgesehenen Station zuge- führt werden. Die Gefahr, dass ein Patient falsch oder gar daneben fällt, wird deutlich reduziert. Selbst - verständlich müssen die Patienten
dabei nicht nur gesichtet, sondern auch bestmöglich medizinisch ver- sorgt werden.
Bei aller Begeisterung über die Einrichtung zentraler Notaufnahmen werden die wichtigen Fragen, was in dem „Trichterstadium“ eigentlich
der anerkannte und gesicherte Qua - litätsstandard medizinischer Versor- gung ist und wer diesen bestimmt, nur oberflächlich beantwortet. Dies birgt bei Fallwürdigungen die Ge- fahr medizinischer und juristischer Kontroversen in sich.
Der Jurist bedient sich in einem Zweifelsfall eines medizinischen Sachverständigen, der konkret auf den Zeitpunkt der Patientenversor- gung bezogen die Bewertung vor- nimmt, ob diese lege artis erfolgte.
Der Sachverständige muss sich da- bei mit einer Vielzahl einschlägiger Leitlinien und Empfehlungen aus- einandersetzen.
Auf Besonderheiten reagieren Trotz Bemühungen insbesondere der Deutschen Interdisziplinären Verei- nigung für Intensiv- und Notfallme- dizin um eine interdiszipli näre Kom- munikation entstehen Probleme in der Praxis durch das Feh len von inter- disziplinären Leitlinien. Diese Pro- bleme offenbaren sich bei Rechts- streitigkeiten, wenn die Bestellung mehrerer Sachverständiger erforder- lich wird, die je nach ihrer Fachrich- tung, also aus Sicht eines Anästhesis- ten, Internisten, Kardiologen, Chir - urgen, Urologen und so weiter, die Sorgfalt der klinischen Notfallver - sorgung auf der Grundlage ihres jewei ligen Facharztstandards beur- teilen. Die ausgehend von (Ver- dachts-)Diagnosen beauftragten Gut- achter aus unterschiedlichsten Fach- disziplinen weisen oftmals keine Spezialisierung in der Notfallmedizin und keine praktischen Erfahrung mit spezifischen – primär symptombezo- genen – notfallmedizinischen Algo- rithmen in einer Notaufnahme auf.
Eine gezielte Weiterbildung von Ärzten in der Notfallmedizin ist die gebotene organisatorische Reaktion auf die Besonderheiten bei der Ver- sorgung von Notfallpatienten. Die Zusammenführung der interdiszipli- nären Ansätze in einem Facharzt für
Notfallmedizin, aus dem sich dann auch der für juristische Beurteilungen maßgebende Facharzt- standard ergibt, erscheint unvermeidbar, wenn Pa- tienten mit unklaren Symptomen nicht von einem Ärztestamm mit einem Inter- nisten und Chirurgen sowie gegebe- nenfalls einem Anästhesisten emp- fangen werden sollen. Ob jeder von denen allein den notwendigen Behandlungsstandard gewährleisten kann und verantworten will, ist frag- lich; dies umso mehr, wenn Assis- tenzärzte alleine Dienst in einer Not- aufnahme tun. Dass Notfallmedizin nicht nur eine in den bestehen- den Facharztausbildungen enthalte- ne Teilmenge, sondern eine Art Schnittmenge mit noch weiteren Besonderheiten ist, folgt schon aus der geschilderten Kumulation zu beauftragender Sachverständiger in Gerichtsverfahren.
Gelegentlich Dienst in einer Not- aufnahme verrichten zu müssen, erscheint bislang wenig attraktiv und kaum karrierefördernd. So sind etwa Dokumentations- und Kom- munikationsmängel nicht selten Folge mangelnder Arbeitsfreude und Verständnisbereitschaft für die weiterbehandelnden Ärzte. Das Eu- ropäische Curriculum für Notfall- medizin greift auch solche elemen- taren Organisationspflichten aufga- benbezogen auf. Leistungsfähigkeit (Wissen und Erfahrung) zusammen mit Leistungswillen (Arbeitswert und Erfolgsquote) machen bekann- termaßen die Leistungsstärke aus.
Dieses Curriculum, das bereits in mehreren anderen europäischen Län- dern umgesetzt wurde, verdient nach alldem auch bei der sachverständigen Würdigung und juristischen Ein- schätzung von Sorgfaltsanforderun- gen beim Betreiben von Notaufnah- men besondere Aufmerksamkeit. ■ Ralf Tries, Oberstaatsanwalt und
Rettungsassistent, Koblenz