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Archiv "Notfallmedizin und Katastrophenvorsorge" (04.02.1983)

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zen sein; mit Blick auf die Witwen- renten wären damit auch soziale Härten verbunden. Eine weitere Erhöhung der Abgabenlast würde die Rahmenbedingungen für Inve- stitionen und Wachstum ver- schlechtern, was die Rentensanie- rung, die nur im wirtschaftlichen Aufschwung gelingen kann, weiter behindern müßte.

Im Zuge der Rentensanierung, das zeichnet sich schon jetzt ab, wird die Forderung nach mehr Solida- rität in der Rentenversicherung lauter werden. So tritt zum Bei- spiel der SPD-Sozialexperte Glom- big dafür ein, die Renten jeweils nur mit einem einheitlichen Betrag zu erhöhen oder eine prozentuale Erhöhung mit einem Sockelbetrag zu verknüpfen. Das liefe auf eine Nivellierung der Renten hinaus, während Blüm nach wie vor die Forderung vertritt, daß die Bei- tragsleistung die Rentenhöhe be- stimmt. Dennoch: Der Weg zur Ni- vellierung der Renten ist vorge- zeichnet. Die zweimalige Abwer- tung der Ausbildungsausfallzei- ten, die Beschränkungen für den Beitritt zur Rentnerkrankenversi- cherung, die Beitragspflicht für zusätzliche Versorgungsbezüge in der Rentnerkrankenversicherung, die Erhöhung des Ertragsanteils bei der Besteuerung der Renten und die Forderung nach Einbezie- hung der Renten in die allgemeine Besteuerung sind Stationen auf diesem Weg.

Sollte es zu weiteren Abstrichen bei den Rentenleistungen kom- men, so wird man das System der öffentlich-rechtlichen Versor- gungsleistungen nicht länger aus- klammern dürfen. Das gilt nicht nur für die Beamtenversorgung, sondern auch für die Zusatzver- sorgung der Arbeiter und Ange- stellten im öffentlichen Dienst.

Wer immer nach dem 6. März auch regieren mag: Ihn trifft die volle Verantwortung für die Sicherung der Altersversorgung, für einen der Eckpfeiler des Sozialsystems und damit für die soziale und politische Stabilität unseres Lan- des. wst

Es ist schwer, den genauen Start- punkt der Kontroverse um die Ka- tastrophenmedizin zu benennen.

Mit hinreichender Genauigkeit sei dieser Zeitpunkt mit dem öffentli- chen Aufruf „Ärzte warnen vor dem Atomkrieg" beschrieben, der Ende August 1981 als Anzeige im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT (Heft 35, letzte Seite) erschien. Unter kritischer Bezugnahme auf den Nachrüstungsbeschluß der NATO und eine seinerzeit vieldiskutierte Bemerkung des damaligen ameri- kanischen Außenministers Alexan- der Haig heißt es in diesem Aufruf, daß „schon Einzelheiten eines nu- klearen Krieges in Europa" ge- plant würden und daß „im medizi- nischen Bereich" „Fortbildungs- veranstaltungen über Katastro- phenschutz und Gesetzesvorlagen zur Zwangsverpflichtung von Ärz- ten und Krankenpflegepersonal auf einen möglichen Atomkrieg"

vorbereiten sollten. Alle Vorkeh- rungen, so wird weiter betont, weckten „nur ungerechtfertigte Hoffnungen" und erhöhten die

„Bereitschaft der politisch Verant- wortlichen zum tödlichen Risiko".

Ziel der Öffentlichkeitsarbeit die- ser Ärztegruppe ist es, „die Atom- waffen insgesamt abzuschaffen"

und als einen ersten Schritt dazu

„die Stationierung der neuen Atomwaffen in Europa und beson- ders in der Bundesrepublik nicht zuzulassen". Dies führte zu zahl- reichen öffentlichen Reaktionen, unter denen die des Hauptge- schäftsführers der Bundesärzte- kammer, Prof. J. F. Volrad Deneke (siehe DEUTSCHES ÄRZTE- BLATT, Heft 40/1981, Seite 1856 f.) innerhalb der Ärzteschaft am um- strittensten war. Deneke sah in dem Aufruf eine „Propaganda zu- gunsten der vom sowjetischen Im- perialismus militant gerüsteten so- zialistischen Internationale", be- trachtete die „ethische Dimen- sion" einer ärztlichen Warnung vor dem Knollenblätterpilz als kei- nesfalls geringer als die einer War- nung vor dem Atomtod und vertrat die Auffassung, daß „die Zahl der Gefährdeten, Leidenden und Ster- benden" „für die Qualität des ärzt- lichen Auftrags ebenso irrelevant"

sei, „wie die Ursachen der Gefähr- dung und Verletzung von Leib und Leben es sind."

Der historisch-zeitgeschichtliche Kontext der Kontroverse ist be- kannt und kann deshalb stichwort- artig dargestellt werden: die Been- digung des Zweiten Weltkrieges durch die Atombombenabwürfe

Notfallmedizin

und Katastrophenvorsorge

Kritische Anmerkungen

zur Diskussion um die Ethik der Katastrophenmedizin

Helmut Piechowiak

Die „Katastrophenmedizin" ist in aller Munde. Landauf, landab beschäftigen sich die verschiedensten gesellschaftlichen Kräfte mit diesem Thema. Die Zeitungen und Zeitschriften publizierten Artikel, Stellungnahmen und Leserbriefe, die es zum Teil auch an kräftiger Polemik nicht fehlen ließen. Der Höhepunkt der Ausein- andersetzungen scheint bereits überwunden — damit ist die Zeit für ein emotionsloses (und trotzdem engagiertes) Nach-Denken der Problematik gekommen.

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auf Hiroshima und Nagasaki mit ihren nahezu unvorstellbaren Aus- wirkungen auf Leben und Gesund- heit der betroffenen Menschen, die Entstehung der großen Vertei- digungsbündnisse der NATO und des Warschauer Paktes, die Her- stellung immer energiereicherer Atomwaffen mit immer größerer Zielgenauigkeit und in immer mehr Staaten, zusätzlich die Pro- duktion biologischer und chemi- scher Waffen, Stagnation der Ab- rüstungsverhandlungen und Ent- stehung neuer, auch zentraleuro- päischer Krisenherde — bei gleich- zeitiger weltweiter Liberalisierung

und Intensivierung der Waffenex- porte in andere Länder, die mit nationalökonomischen Interessen gerechtfertigt werden. Aus dem zi- vilen Bereich spielt die anhaltende Diskussion um die Sicherheit der Kernkraftwerke, der gefahrlosen Endlagerung des Atommülls und der Notwendigkeit der Energieer- zeugung durch umweltfreund- lichere Techniken in diese Ausein- andersetzung hinein.

Eine Phänomenologie der Katastrophen

Katastrophen kann man nach ver- schiedenen Kriterien differenzie- ren: nach der Art der Ursache, nach Ausmaß des menschlichen Leids oder auch nach den Mög- lichkeiten menschlicher Hilfelei- stung. Die ethische Stellungnah- me wird sicherlich erleichtert, wenn man zwischen Katastrophen unterscheidet, die vom Menschen verursacht worden sind, und sol- chen, die nicht vom Menschen verantwortet werden müssen. Im letzteren Fall, zum Beispiel bei Na- turkatastrophen wie Meeresstür- men oder Erdbeben, wird man eben normalerweise die Frage nach der ethischen Verantwor- tung schon gar nicht stellen.

Ebensowenig wird man dies für die klassischen Seuchen tun kön- nen. In den Extremfällen mit aus- schließlich menschlicher Verant- wortlichkeit, beispielsweise bei beabsichtigten und nur dem Zweck des Terrors dienenden Ge- waltaktionen, besteht ebenfalls

kein Problem hinsichtlich der ethi- schen Bewertung. Ethische Pro- bleme werfen nun aber vor allem die vielen Zwischen-Fälle (welch prägnantes Wort der deutschen Sprache) auf, die auch, aber wiederum nicht ausschließlich, vom Verantwortungsbewußtsein menschlichen Handelns mitbe- stimmt werden. Die menschliche Mitverantwortung für das Ausmaß des Leides nimmt vor allem dort zu, wo Katastrophen in gewisser Weise prognostizierbar werden, zum Beispiel wenn Kernkraftwer- ke in einem erdbebengefährdeten Gebiet geplant und gebaut wer- den. Genau für diese Kategorie von Katastrophen hilft nun aber die oben gemachte Differenzie- rung nicht mehr recht weiter.

Als alternative Differenzierung bie- tet sich eine Unterscheidung an, die sich am Ausmaß der eingetre- tenen Katastrophe orientiert und dabei — was aus medizinischer Perspektive nicht bedeutungslos ist — zugleich die Möglichkeiten und Notwendigkeiten medizini- scher Hilfeleistung andeutet. So könnte man die rein individualme- dizinische Situation der Arzt-Pa- tienten-Begegnung von der Situa- tion des Massenanfalls unter- scheiden (zum Beispiel nach der Bombenexplosion beim Münch- ner Oktoberfest), bei dem die Ressourcen nicht begrenzt sind und (vielleicht nach einer Phase panischer Orientierungslosigkeit) schließlich doch jeder einzelne Verletzte optimal versorgt werden kann. Das entscheidende Merkmal der „Katastrophe" scheint eine weitgehende Zerstörung der Infra- struktur einer Gesellschaft zu sein.

Medizinische Hilfe kann dann we- gen fehlender beziehungsweise ausgefallener Fernsprechverbin- dungen und/oder Verkehrsverbin- dungen nicht mehr (beziehungs- weise nur extrem langsam) wirk- sam werden. Dabei ließe sich noch unterscheiden zwischen Situatio- nen, in denen wenigstens der Luft- verkehr noch möglich ist und sol- chen, in denen — wie bei Reaktor- unfällen oder vor allem im Krieg — auch diesbezüglich mit schwer-

sten Einschränkungen zu rechnen wäre. Unter diesen Bedingungen wäre Hilfe nur noch an den Rän- dern des Katastrophengebietes möglich, wo aber auch natürlich um so weniger „katastrophale"

Zustände herrschen!

Diese Differenzierung ist nun nicht bloß deskriptiv. Wäre sie es, könn- ten daraus keine ethisch relevan- ten Folgerungen gezogen werden.

Sie ist vor allem deswegen nicht wertfrei, weil schon der Begriff der

„Katastrophe" nicht wertfrei ge- dacht werden kann, insofern er ja gerade die Bedeutung einer mas- senhaften Beeinträchtigung von Leben und Gesundheit hat. Des- halb läßt sich wohl als erster Grundsatz festhalten, daß solchen Katastrophen in der Katastrophen- bekämpfung eine Priorität zu- kommt, die sowohl eine über- durchschnittliche Wahrscheinlich- keit haben als auch zahlenmäßig die größte Bedrohung darstellen.

Als zweiter Grundsatz muß aber wohl hinzugefügt werden, daß in der Bekämpfung einer Katastro- phe um so mehr zur Verhinde- rung, sprich Prävention, getan werden muß, je weniger Hilfe in ihr voraussichtlich möglich sein wird.

Gerade mit Hinblick auf die kriege- rische Katastrophe gilt es deshalb, ein begriffsgeschichtliches Ele- ment im Verständnis von „Kata- strophe" kritisch zu betrachten.

Es ist dies — wohl herkommend vom Begriff der Naturkatastrophe

— die Vorstellung von der Unbeein- flußbarkeit einer Katastrophe, die sich besonders gut im deutschen Wort „Verhängnis" widerspiegelt.

„Katastrophe", angewandt auf durchaus — wenn auch nicht aus- schließlich — vom Menschen be- einflußbare Gewalteinwirkungen (wie zum Beispiel den Atomkrieg) kann dann suggerieren, daß die bei wirklich „verhängten" Kata- strophen einzig mögliche nach- sorgende Hilfe auch in diesen Fäl- len die einzig mögliche Form ihrer Bekämpfung sei. Damit würde ei- ner sinnvollen Prävention bereits von Anfang an der Weg verstellt.

Wenngleich aber Kriege vom Men- Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 5 vom 4. Februar 1983 73

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schen mitverantwortet werden, so ist andererseits doch auch festzu- stellen, daß sie dadurch ihren schicksalhaften Charakter nicht ganz verlieren, was nicht zuletzt in dem ganz unterschiedlichen Be- troffenwerden der einzelnen Mit- glieder einer Gesellschaft zum Ausdruck kommt — treffen die Fol- gen doch oft diejenigen beson- ders hart, die für die mißlungene Verhinderung des Krieges am we- nigsten verantwortlich sind.

Die ethischen Positionen aus der Perspektive

„vor" der Katastrophe

Deneke und die Ärztegruppe „ge- gen den Atomtod" befinden sich trotz aller sonstigen Differenzen in einer identischen Ausgangsposi- tion. Beide halten die atomare Ka- tastrophe für wahrscheinlich. Die angeratenen „Therapien" unter- scheiden sich nun freilich erheb- lich. Während vom Hauptge- schäftsführer der Bundesärzte- kammer (reduziert man seinen Beitrag auf die in ihm enthaltenen ethischen Gesichtspunkte) eine überwiegend deontologische Po- sition vertreten wird, die sich di- rekt vom hippokratischen Heilauf- trag herleitet und in der Unbe- dingtheit dieses ärztlichen Auftra- ges ein unverzichtbares Element für das ärztliche Selbstverständnis benennt, argumentieren die

„Hamburger" Ärzte (entkleidet man auch ihren Aufruf einiger massiver und unbewiesener Un- terstellungen) überwiegend teleo- logisch, indem sie eine Reihe ne- gativer Konsequenzen einer Aus- und Fortbildung in Katastrophen- medizin anführen, die ihres Erach- tens unvermeidlich sind und die ihrer Ansicht nach die atomare Ka- tastrophe eher wahrscheinlicher machen.

Es ist jedoch festzustellen, daß die historische Priorität im gegenwär- tigen Konflikt bei der Katastro- phenmedizin liegt, zu der sich er- ste Beiträge im Jahr 1979 finden, dann verstärkt ab 1980. In der zeit- geschichtlichen Aufeinanderfolge

„verdankt" sich also die Katastro-

phenprävention in gewisser Weise der Katastrophenmedizin, wäre ohne sie vielleicht nicht denkbar.

Und in der Tat versteht sich ja auch die Anti-Atomtod-Initiative als Korrektur eines — aus ihrer Per- spektive — unsinnigen Hilfsange- botes.

Argumentiert man nun mit den Folgen, könnte man also durchaus sagen, daß Katastrophenmedizin auch den Präventionsgedanken wachhalten wird, indem sie immer wieder Ärzte und andere Heilberu- fe mit den schrecklichen Auswir- kungen eines atomaren, biologi- schen oder chemischen Krieges konfrontiert und so dann auch die Bemühungen um dessen Verhin- derung intensiviert. Allerdings wä- re es in der Tat wohl eine Perversi- tät zu nennen (und ist doch in der Realität nicht ausgeschlossen), wenn Katastrophenmedizin, die aus ärztlicher Perspektive nur Not- fallhilfe sein will, die sich ihrer Er- bärmlichkeit bewußt ist, als be- günstigender Faktor in die poli- tisch-militärische Planung ein- ginge.

Auf diesen wichtigen Aspekt des möglichen Mißbrauches der Kata- strophenmedizin muß jedenfalls hingewiesen werden, da die Argu- mentation der Anti-Atomtod-Ärzte diesbezüglich wenig differenziert.

Für eine medizinisch orientierte Durchführung einer geeigneten Notfallmedizin ist die Ärzteschaft direkt verantwortlich, für den möglichen Mißbrauch jedoch nur indirekt im Sinne einer — retro- spektiv feststellbaren — falsch ge- troffenen Risikoabwägung, wenn die militärische Führung durch das Faktum der medizinischen

„Vorbereitung" tatsächlich einer kriegerischen Auseinanderset- zung eher (als sonst) zuneigen würde. Ob freilich die Ärzteschaft in der Planung der Katastrophen- medizin diesen möglichen Miß- brauch ausreichend mitbedacht hat, ist eine — wie mir scheint — berechtigte Anfrage.

Umgekehrt kann freilich die Kata- strophensituation gar nicht kata-

strophal genug gedacht werden (aber vielleicht zeigen sich hier nur die Grenzen des menschli- chen Vorstellungsvermögens!?), daß nicht auch in ihr noch „Gu- tes" realisiert werden könnte. Nur wo es überhaupt nichts Gutes mehr gibt, wo buchstäblich alles Leben ausgelöscht wäre, hätte auch die Güterabwägung ihren Sinn verloren. Sind aber (und das scheint möglich) Katastrophen ge- ringerer Art denkbar, so ist nicht einsehbar, warum in der Situation ärztliche Hilfe zu leisten nicht sinnvoll sein sollte. Es ist auch nicht einsehbar, warum eine not- fallmedizinische Aus- und Fortbil- dung, die auch in kriegerischen Auseinandersetzungen Verwen- dung finden könnte (wie jedes me- dizinische Wissen) unethisch sein sollte, ist es doch etwas anderes, ob sich der Arzt für eine Katastro- phe ausschließlich kriegerischer Art fortbildet (und ob die Veran- stalter entsprechender Fortbil- dungstagungen dies zu diesem Zweck tun — was eine schlimme Unterstellung wäre) oder ob er all- gemein die der Notfallhilfe in einer technisierten - Umwelt zukommen- de Bedeutung anerkennt. Überra- schend und bemerkenswert bleibt dennoch das Faktum, daß offen- bar nicht zivile Katastrophen, son- dern die Zuspitzung der politisch- militärischen Situation den Anlaß für die katastrophenmedizinische Fortbildung abgaben. Ob in der Situation (vor allem) der atomaren Katastrophe überhaupt noch spe- zifisches Wissen vonnöten sein wird, das diese Bezeichnung mit Recht verdient und eine besonde- re Fortbildung zwingend erforder- lich macht, muß wohl mit guten Gründen offenbleiben.

An die ethischen Positionen der

„Hamburger" Ärztegruppe (und den mit ihnen Assoziierten) und der Bundesärztekammer, soweit ihre Repräsentanten mit Deneke übereinstimmen, wäre wohl auch noch die Frage der jeweiligen Uni- versalisierbarkeit zu stellen. Zwar gibt es inzwischen eine lebhafte Diskussion über die Frage, ob wirklich eine ethische Auffassung

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immer (zum Beispiel im Sinne Im- manuel Kants) universalisierbar sein müsse beziehungsweise wie weit diese Verallgemeinerungsfä- higkeit gehen müsse — und in der Tat kann man die atomare Kata- strophe als eine so exzeptionelle Situation betrachten, daß man schwerlich verlangen könne, daß eine diesbezügliche Entscheidung ihrem Inhalt nach auch auf andere medizinische Bereiche übertrag- bar sein müsse —, doch sei gerade dies hier versuchsweise einmal unternommen. Dann stellt sich meiner Ansicht nach heraus, daß weder eine rein präventive Strate- gie noch eine ausschließlich nach- sorgende Medizin dem Selbstver- ständnis der meisten Ärzte ent- sprechen dürfte. Prophylaxe und Therapie sind die beiden Grund- pfeiler ärztlichen Handelns, wobei freilich im Bereich der Medizin die Sekundärprävention nach einge- tretener Erkrankung traditionell (bisher) eine größere Bedeutung hatte als die Primärprävention.

Doch, wie dem auch sei, eine Ein- seitigkeit entspricht nicht der Rea- lität: Auch die Hamburger heilen und die Kölner propagieren Vor- sorgeuntersuchungen und andere Präventivmaßnahmen — und letzte- res um so mehr, je größer die Be- drohung ist und je mehr Men- schen betroffen sind, wie bei- spielsweise bei den Herz-Kreis- lauf-Erkrankungen und den bösar- tigen Neubildungen.

Die gesellschaftliche Dimension So läßt sich die Frage nach der Funktion der Medizin in der Ge- sellschaft nicht einfach abweisen.

Erweisen sich — unter dieser Hin- sicht betrachtet — nicht gerade die Konservativen und Liberalen, die die Eigenständigkeit der einzelnen und der freien Berufsstände beto- nen, als „gesellschaftsgläubig", wenn sie die der Medizin von der Gesellschaft übertragene Heilauf- gabe wie selbstverständlich auch auf die apokalyptischen Horror- szenarios applizieren (ohne gleichzeitig dringender nach wirk- samer Prävention zu rufen)? Und erweisen sich umgekehrt die als

„Sozialisten" titulierten Ärzte als Kämpfer gegen das Diktat des Zeitgeistes und der Umstände, das alles in den Sog des immer schon wirtschafts-, militär- und außenpo- litisch Vorprogrammierten zwin- gen will — aber zugleich als „Politi- ker" (die sich scheinbar ihrer ärzt- lichen Verpflichtung entziehen wollen)? Muß also die Medizin po- litisch werden, muß sie sich gegen diese Gesellschaft wenden, ihr das Heft des Handelns aus humanitä- rem Protest aus der Hand nehmen und Friedenspolitik auf eigene Faust betreiben? Ist das die Aufga- be der Medizin?

Erneut scheint es sinnvoll innezu- halten. Eine Beschränkung auf die Not, speziell die Not der Krankheit, scheint wichtig, um den ärztlichen Auftrag nicht uferlos werden zu lassen. Gesundheit und Leben sind als Güter von überragender Bedeutung der Gesellschaft als ganzer überantwortet. Als ganze trägt sie auch die Verantwortung für ihre Realisierung. Es wäre eine unzumutbare Verabsolutierung des ärztlichen Auftrages, ihn an den Gütern Gesundheit und Leben (und Frieden) festzumachen. Zu welchem Zerrbild Medizin entar- ten würde (und manchmal scheint sie schon auf dem Wege dazu), wenn die in ihr vorhandenen Vor- stellungen von Gesundheit und Leben in der Gesellschaft domi- nierend würden, führte uns Ivan Illich in seinen Büchern vor Au- gen. Der Genetiker und Nobel- preisträger Hermann J. Muller tat dasselbe beim berühmten Ciba- Symposium „Man and his Future"

auf seine Weise. Für die ärztliche

„Rolle" sind Gesundheit und Le- ben (und Frieden als eine Qualität dieses Lebens) nur mittelbar ange- zielte Werte. Eine Akzeptanz der Verantwortung für diese Werte ist weder aus dem methodischen Ar- senal der Medizin her gerechtfer- tigt (was wissen wir schon wissen- schaftlich gesichert über Maßnah- men zur Gesunderhaltung oder was ließe sich aus medizinisch-na- turwissenschaftlicher Sicht zur

Lebensqualität sagen, was über ei- ne unzureichend verstandene kör-

perliche Gesundheit hinausgin- ge?), noch scheint es aus utilitari- stischen Gründen ratsam, eine Verantwortung zu übernehmen, der man nicht entsprechen kann und in deren Konsequenz es not- wendigerweise zu enttäuschten Erwartungen und zu einer Abnah- me des Vertrauens in die Ärzte- schaft kommen muß. So kann es abschließend nur heißen, daß eine politische Medizin sicher nicht des Rätsels Lösung ist.

Sind aber Leben und Gesundheit wirklich der Gesellschaft als gan- zer aufgetragene Werte, so ist es auch nicht zulässig, sie in from- mer Naivität allein bei den Politi- kern und Militärs gut aufgehoben zu glauben. Angesichts der totalen Bedrohung menschlichen Lebens durch die modernen Waffensyste- me kann der Arzt so wenig wie irgend jemand anderes schwei- gen. Ausbildung in Katastrophen- medizin (besser: Notfallmedizin) darf nicht allein bleiben; das En- gagement zahlloser Ärzte gegen den nuklearen (biologischen, che- mischen) Tod muß die ärztliche Motivation in dieser Sache un- zweideutig klarmachen, vor jedem Mißbrauch der Fortbildung im mi- litärischen Kalkül warnen und so den Frieden sichern helfen. Eine Politisierung (oder schlichter: eine Aktivierung) der Friedensstifter (in allen gesellschaftlichen Berei- chen) ist nötig, um diese Katastro- phe zu vermeiden. Es ehrt, wie mir scheint, die Ärzteschaft, wenn sie diese Aufgabe vor anderen Berufs- gruppen erkennt und wahrnimmt.

Die Arbeit am Frieden (zum Bei- spiel im Rahmen der „Internatio- nal Physicians for the Prevention of Nuclear War", aber auch bei

„Amnesty International" und ver- gleichbaren Organisationen) ist wohl auch eine Aufgabe des Chri- sten und ein Zeichen seiner Hoff- nung — auch und gerade ange- sichts der Schreckensvision durch die totale Bedrohung der Mensch- heit.

Der wunde Punkt bei den Diskus- sionen über die Ethik in der Kata- strophe scheint der Triagebegriff Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 5 vom 4. Februar 1983 77

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zu sein. Als Begriff stellt er viel- leicht auch in den katastrophen- medizinischen Lehrbüchern das einzige Novum für den Medizin- studenten dar. Die öffentliche Kri- tik hat den Triagebegriff der Kata- strophenmedizin in recht enger Anlehnung an seine Verwendung in der Militärmedizin als Selektion nach militärischer Wiederver- wendbarkeit interpretiert. Von ärztlicher Seite ist dagegengehal- ten worden, daß es zwar um eine Selektion gehe, jedoch aus- schließlich nach medizinischen Kriterien der Heilungs- und Über- lebenschance und nicht nach mili- tärischer Wiederverwendbarkeit.

Im Verteidigungsfall wird man (so- fern medizinische Hilfe überhaupt noch sinnvoll angreifen kann) ein Überwechseln zur wehrmedizini- schen Praxis wohl nicht mit Si- cherheit ausschließen können.

Aber selbst dann hängt es wohl von der militärischen Situation ab, ob sich eine solche Praxis ethisch rechtfertigen läßt oder nicht.

Der Sache nach ist das Problem der Selektion von Patienten der medizinischen Ethik nicht unbe- kannt. Ein Beispiel aus dem Zwei- ten Weltkrieg, bei dem ein be- grenzter Penicillinvorrat vorhan- den war und sich das Problem er- gab, ob man die geschlechtskran- ken oder die verwundeten Solda- ten damit heilen sollte wird immer wieder zitiert, um das Problem zu illustrieren. Im Grunde werfen aber natürlich schon zwei Patien- ten, die um einen Platz auf der Intensivstation oder am Dialysege- rät „konkurrieren", die Frage nach etwaigen Selektionskriterien auf.

Es handelt sich hierbei also um kein für die Katastrophenmedizin spezifisches Problem, stellt sich dort nur in größerem Umfang. Das Handeln in solchen Situationen kann durch zwei verschiedene Ar- gumentationsketten legitimiert werden, die beide sowohl von de- ontologischen als auch teleologi- schen Überlegungen Gebrauch machen. Die beiden Begrün- dungsweisen schließen sich auch nicht völlig aus, können sich viel- mehr sogar ergänzen.

Ohne auf Details eingehen zu wol- len, kann man festhalten, daß es in der einen Argumentation darum geht, Kriterien zu benennen, war- um ein Patient einem anderen vor- gezogen werden kann oder soll.

Die maßgeblichen Gesichtspunkte sind vielfältig. Die größte Überein- stimmung innerhalb der Medizin besteht hinsichtlich der medizini- schen Erfolgsaussicht, am willkür- lichsten erscheinen scheinbar wertfreie Kriterien wie Alter, Ge- schlecht, und am schwierigsten sind wohl die sogenannten social- worth-criteria, die vor allem die Rolle in der Familie (und der Ge- sellschaft) berücksichtigen, aber auch frühere Verdienste und den in der Zukunft erwartbaren Nut- zen. Die Einwände gegen diese Kriterien betreffen die Schwierig- keit medizinischer Prognostik ebenso wie die Unmöglichkeit, in der konkreten Situation Kriterien des Sozialwertes anzuwenden.

Für eine Bewertung der um Thera- piemittel konkurrierenden Patien- ten spricht die Überlegung, daß der Mensch gerade auch als ethi- sches Wesen sich der Bewertung, der Wertfindung und Wertanwen- dung nicht entziehen dürfe. Der Rückzug aus dem Bemühen um Kriterienfindung wäre geradezu eine Mißachtung einer genuin menschlichen Aufgabe.

Trotz dieser ernst zu nehmenden Anfrage läßt sich aber sehr wohl und mit guten Gründen auch ein Lotterieverfahren denken, z. B.

nach dem Motto: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst." Eine solche Methode wahrt mehr als die erste die Chancengleichheit, stört das Vertrauensverhältnis zum Arzt nicht durch die Angst vor den von ihm angewandten Auswahlkrite- rien und erlaubt es den abgewie- senen Patienten wesentlich bes- ser, mit ihrem Schicksal fertig zu werden, als wenn sie aufgrund ih- res „sozialen Wertes" abgewiesen worden wären. Anders als die oben genannten Kriterien wäre ein Losverfahren auch „transparen- ter", weil von jedermann über- wachbar, würde möglicherweise in summa einen größeren Nutzen

zeitigen, weil sich reiche Patienten dem für sie ungünstigen Losver- fahren wahrscheinlich entziehen würden und dadurch für andere Patienten Platz machen würden, und — als theologisches Argument

— würde durch ein solches Verfah- ren die Menschenwürde des Kran- ken weit weniger (wenn über- haupt) verletzt, die ja nicht auf sei- ne Sozialfunktion reduziert wer- den kann, sondern sich nach christlichem Verständnis von dem Geschenk der Gotteskindschaft herleitet. Allerdings, die Praxis des Losverfahrens kann auch als Aus- weichen vor einer geforderten sach- und persongerechten Ent- scheidung interpretiert werden, weswegen manche Ethiker trotz seiner Vorzüge die Anwendung bestimmter Auswahlkriterien be- fürworten, die freilich, um Miß- trauen zu verhindern, transparent gemacht werden müßten.

Wo immer selektioniert wird, geht man wohl in der Tat auch in zwei Schritten vor: Zuerst legt man die Ausschlußkriterien fest (und damit den weiteren Kreis der Anspruchs- berechtigten), sodann die endgül- tigen Aufnahmekriterien. Gerade für die Medizin, so scheint es, legt sich als endgültiges Kriterium eine Art von Losverfahren (und nicht eine weitere Qualifizierung wie bei Stellenausschreibungen) nahe.

Für den Selektionsprozeß im Kriegsfall erweist sich dann be- reits bei den Ausschlußkriterien (Akzeptanz), ob es sich um eine wehrmedizinische Triage (nur Sol- daten, Kriterium der Wiederver- wendbarkeit) oder um eine medizi- nisch motivierte Selektion han- delt, die die Zivilbevölkerung, ob alt, ob jung, in gleicher Weise mit- berücksichtigt. Gegen eine solche medizinische Triage sind dann aber gerade für den Katastrophen- fall keine ethisch relevanten Ein- wände zu sehen.

Literatur beim Sonderdruck Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Helmut Piechowiak Eduard-Schmid-Straße 329 8000 München 90

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