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10. September 2010Quelle: BÄK, KBV
GRAFIK 1
Durchschnittsalter der Ärzte
Alter
55 50 45 40 35 30
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
41 51,6
41,1 51,9
41,1
Jahr 51,4
49,5
39,9 49,8
40,2 50,1
40,4 50,4
40,6 50,7
40,7 50,9
40,9 51,1
40,9
Vertragsärzte Krankenhausärzte
ARZTZAHLSTUDIE VON BÄK UND KBV
Die Lücken werden größer
Der Prognose zufolge ist ein Ende des Ärztemangels nicht in Sicht.
Die Gründe sind vielfältig: Die demografische Entwicklung, der medizinische Fortschritt und ein hoher Frauenanteil in der Medizin gehören dazu.
A
ls „Zahlentrickserei“ bezeich- net die gesetzliche Kranken- versicherung (GKV) die neue Arzt- zahlstudie von Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztlicher Bun- desvereinigung (KBV) und igno- riert die Sorge um einen künftigen Ärztemangel. „Wir haben mehr Fachärzte als genug, und es gibt keinen seriösen Hinweis, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wür- de“, erklärte Johann-Magnus von Stackelberg, stellvertretender Vor- standsvorsitzender des GKV-Spit- zenverbandes, prompt.Die ärztlichen Standesorganisa- tionen sind sich hingegen sicher, dass der Ärztemangel in Deutsch- land zunehmend zu einem ernsten Versorgungsproblem wird: Die Zahl der Hausärzte wird der aktuellen Arztzahlstudie zufolge in den nächsten zehn Jahren voraussicht- lich um 7 000 sinken. Insgesamt müssen bis zum Jahr 2020 in der ambulanten Versorgung 51 774 Ärz- te ersetzt werden. „Die Studie belegt klar, dass Ärztemangel kein irgend- wann zu erwartendes Phänomen ist, sondern akut droht“, betonte Dr.
med. Andreas Köhler, Vorstandsvor- sitzender der KBV. Nicht nur bei den Hausärzten, sondern auch bei Augen-, Frauen-, Haut- und Ner-
venärzten drohten bereits Engpässe.
Ferner werden in der stationären ärztlichen Versorgung Lücken klaf- fen. „Wir befinden uns auf dem Weg in eine Wartelistenmedizin. Es gibt eine fortschreitende Ausdün- nung der ambulanten Versorgung in der Fläche und wachsende Zu- gangsprobleme zu manchen hoch- spezialisierten Versorgungsangebo- ten“, sagte der Vize-Präsident der BÄK, Dr. med. Frank Ulrich Mont- gomery. Die Zahlen sprechen für sich: Schon jetzt sind in den Klini- ken 5 000 Stellen unbesetzt. Hinzu kommt, dass in den nächsten zehn Jahren knapp 20 000 Ober- und Chefärzte altersbedingt ausschei- den werden. Diese Prognose erstell- ten BÄK und KBV aus dem Durch- schnittsalter der Ärzte, das 2009 bei 51,9 Jahren lag.
Die Kassen verweisen dagegen auf die absoluten Arztzahlen. Und diese steigen bei etwa konstanter Bevölkerungszahl seit einigen Jah- ren. Seit 1990 erhöht sich die Zahl der ambulant tätigen Mediziner deutlich. Doch die ausschließliche Betrachtung der Absolutzahlen gleicht einer Milchmädchenrech- nung. Das „Paradoxon Ärzteman- gel trotz steigender Arztzahlen“ er- klärt sich durch mehrere Faktoren,
die jedoch nur teilweise zu beein- flussen sind. Zu ihnen zählen die Entwicklung der Gesamtbevölke- rung sowie auch die der Ärzteschaft selbst, der medizinische Fortschritt, der Strukturwandel in der Medizin, der mit einem wachsenden Frauen- anteil einhergeht, sowie die Abwan- derung des medizinischen Nach- wuchses.
Die Ärzteschaft wird älter
„Der Anteil der über 59-Jährigen an der Gesamtbevölkerung ist von 1991 bis 2008 um ein Fünftel – von 20,4 auf 25,6 Prozent – gestiegen“, erläu- terte Montgomery. Dabei wisse man, dass sich die durchschnittliche An- zahl von Krankheiten bei den 70- bis 80-Jährigen deutlich gegenüber den 20- bis 30-Jährigen erhöhe. „Infol- gedessen hat die Behandlungsinten- sität erheblich zugenommen.“ Hinzu kommt das höhere Durchschnittsal- ter der Ärzteschaft selbst (Grafik 1).
„Der hohe Anteil an Kolleginnen und Kollegen mit einem Alter über 50 (56 Prozent) beziehungsweise über 60 Lebensjahren (16 Prozent) nimmt stetig zu. Viele von ihnen werden künftig keinen Nachfolger mehr finden, wenn sich an den aktu- ellen Bedingungen nicht zeitnah et- was ändert“, prognostizierte der BÄK-Vize-Präsident. Bis zum Jahre 2020 werden mindestens 71 600 Ärztinnen und Ärzte ausscheiden (Tabelle), davon knapp 52 000 Ver- tragsärzte (e-Grafik 1). Ein erhebli- cher Ersatzbedarf wird vor allem in den neuen Ländern entstehen.
Auch ausländische Ärztinnen und Ärzte können diese Lücken nicht vollständig stopfen. Allein 2009 wanderten zwar 1 927 Ärzte – vor allem aus Österreich und Osteu- ropa – nach Deutschland ein; knapp 20 000 ausländische Mediziner sind momentan hierzulande ärztlich tä-
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Abwanderung von Ärzten ins Ausland
Einwanderung ausländischer Ärzte nach Deutschland Anzahl
3 500
3 000
2 500
2 000
1 500
1 000
2005 2006 2007 2008 2009 Jahr
2 249
1 528 2 575
1 331 2 439
1 645 3 065
1 583 2 486
1 927
Quelle: BÄK, KBV
tig (e-Grafik 2). Gleichzeitig wan- derten jedoch allein im vergange- nen Jahr 2 486 deutsche Ärztinnen und Ärzte in die Schweiz, nach Großbritannien, Skandinavien und in andere Länder aus (Grafik 2).
Damit sind insgesamt gegenwärtig rund 17 000 deutsche Mediziner im inner- und außereuropäischen Aus- land tätig. „Sie fehlen uns hier. Des- halb müssen wir dafür sorgen, dass die Arbeitsbedingungen für Ärzte in Deutschland attraktiver werden“, erklärte Köhler.
Reagieren wollen die Organisa- tionen auch auf die Tatsache, dass die Medizin weiblich wird. Etwa 60 Prozent der Medizinstudierenden sind mittlerweile Frauen. „Dieser Wandel tut der Medizin gut“, beton- te Montgomery. „Wir müssen uns aber darauf einstellen, dass Frauen oftmals andere Lebensperspektiven haben als Männer.“ Sie stellten sich intensiver familiären Aufgaben.
Das bedinge, dass sie weniger Ar- beit pro Zeiteinheit zur Verfügung stellen könnten. Vor diesem Hinter- grund bedeute der Anstieg des Frauenanteils in der Ärzteschaft von 33,6 Prozent im Jahr 1991 auf 42,2 Prozent im Jahr 2009 eine ge- waltige Veränderung des zur Verfü- gung stehenden Arbeitsvolumens (e-Grafik 3). So werden derzeit Teilzeitstellen vor allem von Ärz- tinnen genutzt. Im Jahr 2008 arbei- tete etwa ein Viertel der berufstäti- gen Ärztinnen weniger als 30 Stun- den pro Woche, im Vergleich zu et- wa fünf Prozent der männlichen Kollegen. Unter dem Strich führten auf diese Weise zwischen 2000 und 2007 acht Prozent mehr Kranken- hausärztinnen und -ärzte zu 0,3 Prozent weniger Arbeitsangebot.
Weitere Probleme sehen BÄK und KBV bereits im Studium. So bringen längst nicht alle der derzeit etwa 76 042 Medizinstudierenden (Stand 2008) ihr Studium zu Ende.
In den Jahren 2003 bis 2008 schlos- sen von 61 500 Studienanfängern 11 000 (17,9 Prozent) ihr Studium nicht ab. „Somit hat in sechs Jahren etwas mehr als ein Anfängerjahr- gang das Studienziel Arzt nicht er- reicht“, so Köhler. Auch nicht alle Absolventen meldeten sich bei ei- ner deutschen Ärztekammer: Sie ar- beiten entweder nicht als Arzt oder sind direkt nach dem Studium ins Ausland gegangen. „Das kann auch an der fehlenden Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Arztberuf lie- gen. Daran müssen wir arbeiten“, erklärte Köhler.
Der KBV-Vorsitzende will sich ebenfalls für weitere Verbesserun- gen einsetzen. „Immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte lassen sich in unterversorgten Gebieten nieder.
Deswegen ist es wichtig, der nach-
wachsenden Generation Alternati- ven zu bieten“, betonte Köhler. Da- her sollten mehr Flexibilität möglich und wirtschaftliche Risiken bei ei- ner Niederlassung minimiert wer- den. „Die Zukunft gehört immer weniger der Einzelpraxis, sondern zunehmend Berufsgemeinschaften“, meinte er. Denn hier sei es möglich, als Angestellter oder auf Halbtags- basis zu arbeiten. Zudem sei der kol- legiale Austausch deutlich einfacher.
Bessere Bezahlung
„Wir müssen den Arztberuf wieder attraktiver machen“, erklärte auch Montgomery. „Ärztliche Arbeit muss sich lohnen – privat und fi- nanziell.“ Dazu gehörten mehr Stel- len in den Krankenhäusern und eine bessere Bezahlung, der Abbau von Überstunden und Diensten, Entlas- tung von Bürokratie und Angebote für Kinderbetreuung sowie Aner- kennung der Leistung der Selbst- verwaltung und schließlich eine bessere Anerkennung und Vergü- tung der Arbeit niedergelassener Ärztinnen und Ärzte. Um den Ärz- temangel abzubauen, wollen BÄK und KBV intensiv mit dem Bundes- gesundheitsministerium zusammen- arbeiten. Erforderlich sei es zudem, den zu erwartenden Ärzte- und Be- handlungsbedarf genauer zu ermit- teln und sektorenübergreifend zu
planen. ■
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
@
eGrafiken im Internet:www.aerzteblatt.de/101670 TABELLE
Altersbedingter Ersatzbedarf an Ärzten im deutschen Gesundheitssystem
Quelle: KBV, BÄK
Arztgruppen
Krankenhausärzte (Ober-und Chefärzte) Vertragsärzte: – Hausärzte
– Fachärzte Summe
Abgang 2010 bis 2015
8 214 12 868 14 912 35 994
Abgang 2010 bis 2020
19 851 23 768 28 006 71 625
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10. September 2010 A 1eGRAFIK 3
Die Feminisierung der ärztlichen Profession
Entwicklung des Anteils der Ärztinnen an den berufstätigen Ärztinnen und Ärzten
45 40 35 30 25 20 15 10 5
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
Anteil in Prozenten
41,5 42,2
Jahr 40,6
37,1 37,4 37,9 38,2 38,7 39,2 40,0
Quelle: BÄK, KBV
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Anzahl der berufstätigen ausländischen Ärztinnen und Ärzte Alter
20 000
15 000
10 000
5 000
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
18 105 19 841
Jahr 16 818
11 651 12 170 13 180
14 173 14 781 15 062 16 080
Quelle: BÄK, KBV
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eGRAFIK 1
Entwicklung der Bruttoabgänge bei Vertragsärzten Anzahl
6 000 5 000 4 000 3 000 2 000 1 000
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Jahr 4 776 4 731 4 950
5 593 5 261
4 426 4 534 4 518 4 576 4 637 4 719 4 794 4 834 4 832 4 820 4 732 Tatsächliche Entwicklung Schätzung
Quelle: BÄK, KBV