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Archiv "Gottfried Benn — Zerrissene Existenz" (28.03.1991)

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Gottfried Benn — Zerrissene Existenz

SCHWINDEL

Leitsymptom für Durchblutungsstörungen

OHREN- SAUSEN

Leitsymptom für Durchblutungsstörungen DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

W

enn die Augen durch ein grelles Licht die Sicht der Einzelhei- ten verlieren, entsteht eine Blendung. Angesichts einer unerträglichen Wahrheit kön- nen sie gar erblinden. Aber auch ein täuschend angeneh- mer Anblick blendet. Aus dieser Erkenntnis versucht P.

Mertens, ein belgischer Lite- rarhistoriker und Literat, die Lebenszeugnisse des Arztes Gottfried Benn zu deuten.

Benn gehörte im Ersten

Weltkrieg zur Besatzung von Mertens' Heimatstadt Brüs- sel, schrieb später darüber,

„das war das Leben, der Rest war Bruch". Doch das allein erklärt nicht das Pathos, mit dem sich Mertens dieses im Ausland wenig bekannten Mannes annimmt. Benn, zeit- lebens der Melancholie, der Einsamkeit verfallen, dem Wüten der Natur, der Idiotie der Geschichte verpflichtet, huldigte 1933 für einige Mo- nate dem Nationalsozialis- mus. Geblendet, sah er einen neuen, „dorischen" Staats- und Kunstwillen aufleuchten.

Für seine Verehrer war der Irrtum unbegreiflich, für sei- ne Verächter, zu denen nur zu bald auch die Nazis gehör- ten, im Grunde noch mehr. 15 Jahre Schweigen, „innere Emigration". Dann ereilte ihn ein später Ruhm, auch er nicht mit weißen Flügeln.

Benns Werk ging in den Ka- non der deutschen Lyrik ein, in die Schullesebücher, die Festreden.

30 Jahre nach seinem Tod rollt Mertens das Leben die-

ses deutschen Dichters in sei- ner Zerrissenheit und Anrü- chigkeit erneut auf, vor einem frankophonen Publikum: Wie konnte der sich sonst allem Verweigernde so schlimm ir- ren? Warum wurde der durch sein Leben Verwüstete den- noch zu einem Stern der deutschen Nachkriegslitera-

tur? Und warum, so könnte man hinzufügen, rührt diese abgelebte Geschichte unsere westlichen Nachbarn heute so an? Das Buch wurde in Frankreich mit dem Prix Me- dicis ausgezeichnet, die deut- sche Übersetzung von U. Au- miller mit dem Celan-Preis.

Mertens scheut sich nicht, sein Nachsinnen über das Le- ben Benns einen Roman zu nennen. Es ist auch gewiß keine Biographie im landläu- figen Sinn, wie sie etwa H.-E.

Holthusen vorgelegt hat.

Eher ein mehr oder weniger dichtes Netz von Fakten, in dessen Maschen einige fette Fische von Fiktion zappeln.

Eine beklemmende Betrof- fenheit bleibt durchweg spür- bar. Die Widmung, „den Kin- dern derer, die sich geirrt ha- ben", gilt einem weit größe- ren Kreis als der deutschen Nachkriegsjugend.

In expressiven Wendun- gen versucht der Autor, das grelle Clairobscur der ersten Jahrhunderthälfte nachzu- zeichnen. Der Schriftsteller, dessen Wortgeflechte sich im-

mer wieder zu Ansätzen von Lyrik verdichten, umkreist den Lyriker, dem sich der Ro- man der Phase II nicht lösen wollte. Gemeinsam geben sie das Bewußtsein einer hoff- nungslosen Zwiespältigkeit der Welt und des sie wahr- nehmenden Ichs. Aus der Hoffnungslosigkeit Kunst- werke verfertigt zu haben, die zutiefst fragwürdig sind und doch zugleich wahrhaftig;

„sich geirrt haben und den- noch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen":

Diese zeitübergreifende, auch heute aktuelle Gültig- keit einer zerrissenen Exi-

stenz aus dem Wust der Ein- zelheiten aufgehoben zu ha- ben, ist Mertens Verdienst.

Dabei sind die offenkundi- gen Schwächen des Romans — seine historischen Ungenau- igkeiten, seine poetischen Uberspanntheiten, manche Konfabulation und Spitzfin- digkeit — zugleich seine ge- heimen Stärken. Sie frischen eine Wunde an, die keine Kruste verträgt. Wir erfahren etwas mehr, als wir schon lan- ge gewußt haben. Anstößige Vorgänge, skandalöse Auße- rungen. Aber suchte nicht eben dieser Benn das Anstö- ßige? Er, der „lieber lächer- lich als bürgerlich" sein woll- te, aber seinem Schicksal

nicht entrann, gelegentlich beides zu sein? Der in seinen Werken keine Spuren hinter- lassen wollte, aber sich jahr- zehntelang einen Briefpart- ner hielt, der sie einsammel- te? Der eine fast spießig wir- kende Fassade aufrichtete, nur um sie wiederholt mit Schroffheit und Schnoddrig- keit zu durchbrechen? Inso- fern sind gerade die auf die Spitze getriebenen Episoden des Buches — die Begegnun- gen mit Frauen etwa oder die Einzelheiten des Ärztlichen — erregende Vorstöße ins Dun- kel.

Jan Christians, Schöningen

Pierre Mertens: Der Ge- blendete, Argon Verlag, Ber- lin, 1989, 414 Seiten, 38 DM

Baedekers Allianz Reise- führer: Mexiko, Karl Baede- ker Verlag, Stuttgart, 3. Auf- lage, 639 Seiten.

In gewohnter Baedeker- Qualität präsentiert sich der 1989 in dritter Auflage er- schienene Reiseführer „Me- xiko". Mehr als 300 Farbbil- der dokumentieren Kultur und Schönheit des Landes.

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BUCHBESPRECHUNGEN

Dt. Ärztebl. 88, Heft 13, 28. März 1991 (103) A-1119

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