eiblich Lebenserwartung bei der Geburt
1881/90 1924/26 1949/51 1970/72 1984/86 1901/10 1932/34 1960/62 1982/84 2003
Quelle: Statistisches Jahrbuch
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DAS EDITORIAL
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Warum leben
Frauen länger als Männer?
Dieter Platt
an wenigen Ausnahmen (in einigen Ländern Afrikas und auf dem Indi- schen Subkontinent; im Tierreich:
Rattus natalensis, Elritze . . .) abgese- hen, lebt das weibliche Geschlecht länger als das männliche. Die Unterschiede schwanken zwischen etwa 150 Tagen bei der Ratte und et- wa sechs Jahren beim Menschen.
Vergleicht man die mittlere Lebenserwar- tung bei der Geburt zwischen 1890 und heute, so stellt man fest, daß sie sich fast verdoppelt hat. Stets zeigten die Frauen eine höhere Le- benserwartung als die Männer (Abbildung).
Wie kann man sich diese Geschlechtsunter- schiede in der Lebenserwartung erklären?
Biologische und medizinische Aspekte Bereits vor 25 Jahren wies der Genetiker und Gerontologe Medvedev (4) darauf hin, daß geschlechtsgebundene Gene offensichtlich nicht die Hauptrolle für die Langlebigkeit spielen. Viele genetische Informationen auf dem X-Chromosom sind mit Basisfunktionen verbunden, die sowohl Frauen als auch Männer betreffen (Aminosäuren- und Purinstoffwech- sel oder Blutgerinnung). In jeder weiblichen Zelle wird eines der beiden X-Chromosomen in der frühen Embryonalentwicklung inaktiviert, so daß Frauen zwei Arten von Zellen haben, mit unterschiedlich aktivem X-Chromosom.
Experimentelle Untersuchungen an Mäu- sen konnten kürzlich zeigen, daß einige der Gene auf den inaktivierten X-Chromosomen im höheren Lebensalter reaktiviert werden können — vielleicht ein potentieller Vorteil für Frauen, wenn eine bestimmte genetische In- formation zugänglich gemacht werden kann.
Darüber hinaus gibt es Hinweise, daß mögli- cherweise Gene auf dem Y-Chromosom — ne- ben den Genen für die testikuläre Differenzie- rung — im Hinblick auf eine Langlebigkeit ei- nen nachteiligen Effekt haben.
Zwei Forschergruppen (1, 8) konnten kürzlich zeigen, daß das Gen für das katalyti- sche Polypeptid der DNA-Polymerase-alpha dem X-Chromosom zuzuordnen ist. Es spricht A-2160 (38) Dt. Ärztebl. 88, Heft 24, 13. Juni 1991
viel dafür, daß dieses Enzym in eukaryoten Zellen für die DNA-Replikation und bei Re- paraturprozessen von wesentlicher Bedeutung ist. Das Gen für das katalytische Polypeptid der DNA-Polymerase-alpha könnte im Fall von Mutationen der Polymerase mit reduzier- ter Aktivität oder gesteigerter Labilität bei Frauen als Determinante der Langlebigkeit angesehen werden. Im Zusammenhang mit dem X-Chromosom spielen auch immunologi- sche Aspekte eine Rolle. Es gibt X-gebundene Gene, die sowohl für die Entwicklung als auch
die Funktion des Immunsystems von Bedeu- tung sind: B-Lymphozyten und Immunglobu- lin-Produktion. Mit zunehmendem Alter neh- men zahlreiche Funktionen des Immunsystems ab. Es gibt Hinweise, daß der Funktionsverlust beim Mann schneller ablaufen soll als bei der Frau. Auch soll die Immunantwort bei weibli- chen Tieren größer sein. Bei beiden Ge- schlechtern nimmt die Autoantikörperbildung im Alter zu.
Alle Organe altern — jedoch nicht zur glei- chen Zeit und nicht gleich intensiv. Somit ist es unwahrscheinlich, daß Alternsveränderungen eines Organs oder Systems die obere Grenze
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der Lebenserwartung bestimmen. Wahrschein- lich spielen Veränderungen integrierender Sy- steme, die zu einer Leistungsabnahme im Al- ter und schließlich zum Tod führen, eine wich- tige Rolle. Hier sind vorrangig das Immunsy- stem, das endokrine System und das Nervensy- stem zu nennen.
Zweifellos sind Geschlechtshormone für den Einfluß von Risikofaktoren (Lipide, Hy- pertonie) für chronische Krankheiten bei Frauen und Männern im mittleren und höhe- ren Alter von Bedeutung.
50 Prozent aller Todesursachen sind die Folgen von Erkrankungen des Herz-Kreislauf- systems. Grundsätzlich ist die Mortalitätsrate durch koronare Herzerkrankungen bei Män- nern höher als bei Frauen. Somit scheint die Arteriosklerose mit ihren Organerkrankun- gen eine zentrale Rolle bei der Betrachtung der geschlechtsunterschiedlichen Lebenser- wartung zu spielen. Alternsabhängige Ge- schlechtsunterschiede finden sich auch im Kohlenhydrat- und Lipidstoffwechsel sowie im Blutdruckverhalten (6).
Neben den Herz-Kreislauf-Erkrankungen spielen die malignen Tumore eine Hauptursa- che. Auch hier ist die Mortalität bei Männern höher als bei Frauen.
Einfluß von Verhalten und Umgebung
Neben den biologischen Aspekten spielen die unterschiedliche Situation von Mann und Frau in unserer Gesellschaft sowie die hormo- nelle Regulierung des Verhaltens eine Rolle.
So überwiegt bei der Gewalteinwirkung (zum Beispiel Verkehrsunfällen) das männliche Ge- schlecht — Hauptanteil der geschlechtsunter- schiedlichen Mortalität zwischen 15 und 27 Jahren in den USA (3) —, aber auch, wie be- reits erwähnt, durch Krankheiten. Ein über- zeugender Beweis für geschlechtsunterschied- liches Verhalten und der damit verbundenen Mortalität war — vor 15 bis 20 Jahren — das Zi- garettenrauchen von Frauen und Männern und das Auftreten von Lungenkrebs.
Neuere Untersuchungen zeigen mit dem vermehrten Zigarettenrauchen von Frauen ei- ne Zunahme der weiblichen Todesrate durch Lungenkrebs. Todesursachen als Folge eines chronischen Alkoholabusus spielen für die ge- schlechtsunterschiedliche Mortalität keine we- sentliche Rolle. Nach Nathanson (5) sind Ge- schlechtsunterschiede für Gesundheit und
Sterblichkeit auch eine Frage der persönlichen Einstellung zum Selbstschutz oder zur Selbst- zerstörung. So spielt zum Beispiel in Asien der unterschiedliche Zugang zur Gesundheitsvor- sorge in der frühen Kindheit für die ge- schlechtsunterschiedliche Sterblichkeit
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9) eine Rolle.
Eine gute Unterstützung für die Bedeu- tung des Gesundheitsverhaltens auf die Mor- talitätsrate liefern Daten einer neuen Jahres- follow-up-Studie, in der eine Vielzahl von Ver- haltensparametern sowie soziale und demo- graphische Daten berücksichtigt wurden. Die Ergebnisse zeigen eindeutig, daß persönliches Gesundheitsverhalten und soziale Bindungen mit der Mortalität korrelieren. Viele der un- tersuchten Charakteristika unterscheiden sich auch hinsichtlich des Geschlechts. Waldrow (7) diskutiert, daß für eine unterschiedliche Mor- talität zwischen Frauen und Männern ursäch- lich auch sozialer und psychischer Streß in Frage komme, vor allem bei kardiovaskulären Erkrankungen. Hier ist auch besonders auf das Typ-A-Verhaltensmuster hinzuweisen: Zeit- druck, zu große Verpflichtungen im Beruf, übertriebene Aktivitäten . . .
Zusammenfassend ist zu sagen, daß weder biologische noch andere Faktoren zur Zeit ei- ne eindeutige Erklärung für die höhere Le- benserwartung der Frau gegenüber dem Mann liefern. Trotzdem spricht einiges dafür, daß biologisch-medizinische Aspekte überwiegen.
Literatur
1. Hanaoka, F., M. Tandi, H. Miyazawa, T. A. Hori and M. A. Ya- mada: Assignment of the human gene for DNA polymerase al- pha to the X-chromosome. Jpn. J. Cancer Res. 76, (1985), 441-444
2. Heckers, H. und D. Platt: Lipide und Lipoproteine im Alter und hohem Alter: Einflußfaktoren, Prävalenzen von Abnormitäten und prognostische Bedeutung. Akt. Endokr. Stoffw. 6 (1985), 11-24
3. Lopez, A. D. and L. T. Ruzucka, eds. Sex Differential in Mortal- ity, Canberra, Aust. Natl. Univ. Press, 1983
4. Medvedev, Zh. A.: Protein Biosynthesis and Problems of Hered- ity, Development and Aging. Plenum Press, New York, 1966 5. Nathanson, C. A., Sex, illness, and medical care. Soc. Sci. Med.
11 (1977), 13-25
6. Omae, T. und A. Zanchetti, (eds.): How should Elderly Hyper- tensive Patients be Treated? Springer-Verlag, Tokyo, Berlin- Heidelberg, New York, London, Paris, Hongkong, 1989 7. Waldron, J., Why do women live longer than men? Soc. Sci.
Med. 123 (1976), 167-170
8. Wang, T. S. F., B. E. Pearson, H. A. Soumalin: Assigument of the gene for DNA polymerase & to the x-chromosome. Proc.
Natl. Acad. Sci., USA 82 (1985), 5270-5274
Professor Dr. med. Dieter Platt
Lehrstuhl Innere Medizin — Gerontologie Universität Erlangen—Nürnberg
Flurstraße 17 W-8500 Nürnberg
Dt. Ärztebl. 88, Heft 24, 13. Juni 1991 (39) A-2161