Spektrum der °ehe Aufsätze • Notizen THEMEN DER ZEIT
1. Was bedeuten Krankengeschichten?
1.1 Ärztliche Aufzeichnungen dienen
1> der Zuverlässigkeit und Konti- nuität diagnostischer und thera- peutischer Maßnahmen im Inter- esse des Patienten,
D der Klarstellung von Verant- wortlichkeiten gegenüber vorge- setzten Ärzten, Krankenhausträ- gern und Kostenträgern
I> sowie (besonders in Universi- tätskliniken) der Forschung und Lehre.
1.2 Die Berufsordnung verpflich- tet den Arzt, „über die in Aus- übung seines Berufs gemachten Feststellungen und getroffenen Maßnahmen die erforderlichen Aufzeichnungen zu machen". Ei- ne gesetzliche Verpflichtung zur Führung von Krankengeschichten gibt es dagegen nicht (abgesehen von speziellen Regelungen im Bundesseuchengesetz und in der Strahlenschutzverordnung).
1.3 Eines war nie der Hauptzweck ärztlicher Aufzeichnungen: Die vorsorgliche Erstellung prozeß- fester Rechtfertigungen für den Streitfall mit dem Patienten!
1.4 Der Bundesgerichtshof hat im Urteil vom 27. Juni 78 (in Abkehr von der bisherigen Spruchpraxis) festgestellt, daß dem Arzt gegen- über dem Patienten eine Ver-
pflichtung zur ordnungsgemäßen Dokumentation seiner Untersu- chungen und Behandlungsmaß- nahmen obliegt. Ob dem Patien- ten daraus das Recht entsteht, sei- ne Krankenblätter dann einzuse- hen, wenn er zivil- oder strafrecht- liche Schritte gegen den Arzt un- ternehmen will oder wenn er außerprozessual die Aussicht von Haftpflichtansprüchen oder Straf- anzeigen, z. B. wegen Behand- lungs- oder Aufklärungsfehler oder grober Fahrlässigkeit, über- prüfen will, ist in der BGH-Ent- scheidung noch offengelassen, in Folgeentscheidungen erst- und zweitinstanzlicher Urteile jedoch einhellig bejaht worden.
1.5 Bis zu diesem BGH-Urteil gal- ten ärztliche Aufzeichnungen als persönliche Gedächtnisstützen des Arztes, in die der Patient kein Einsichtsrecht hatte und die auch richterlich nicht beschlagnahmt werden durften (es sei denn, daß diese Krankengeschichten als Be- weismittel in einem Strafverfahren gegen den Arzt erforderlich sind [gern. §§ 94, 95, 97 StPO] ).
1.6 Mit einem Einsichtsrecht des Patienten mußte konsequenter- weise eine rechtliche Aufwertung der Krankengeschichten von per- sönlichen Gedächtnisstützen zu prozeßgeeigneten Dokumenten einhergehen, die „sorgfältig und vollständig" zu führen sind.
Diese außerordentliche Erhöhung des juristischen Anspruchs an die Krankengeschichtsführung, der
angesichts der Realitäten eine um- fassende Erfüllung ausschließt, dürfte in den nächsten Jahren eine erhebliche weitere Zunahme juri- stisch-medizinischer Konflikte bringen, wenn es nicht gelingt, die berechtigten Anliegen beider Sei- ten im Interesse der Patienten in Einklang zu bringen: Dies sind einmal die Idee der Waffengleich- heit im Arzt-Haftpflicht-Prozeß und im Strafverfahren gegen Ärz- te, zum anderen die Sicherung des Vertrauens als Grundlage des Arzt-Patienten-Verhältnisses.
1.7 Kritisch auseinandergesetzt mit der neuen Rechtslage haben sich bereits die Arbeitsgemein- schaft Medizinisch-Wissenschaft- licher Fachgesellschaften (AWMF), Schimmelpennig, Ah- rens, Haring und Kindt, Heimchen.
2. Eine differenzierte Bewertung unterschiedlicher ärztlicher Auf- zeichnungen ist nötig!
Im Interesse der vernünftigen Aus- gestaltung eines Einsichtsrechtes der Patienten durch die Spruch- praxis der Gerichte der nächsten Zukunft sollten ärztlicherseits fol- gende Hinweise auf die Realitäten der verschiedenen Anteile von Krankengeschichten und deren verschiedene Funktionen zur Dis- kussion gestellt werden:
2.1 Vollen Dokumentenwert soll- ten folgende Teile von Krankenge- schichten haben, weil die Verfas- ser für sie vollverantwortlich ein- zustehen haben: Arztbriefe, Epi- krisen, Atteste, Gutachten, Indika- tionen für besondere, nicht unge- fährliche diagnostische Eingriffe sowie alle Befunde.
2.2 Krankengeschichten enthal- ten unvermeidlich Notizen als per- sönliche Gedächtnisstützen, die ohne Kommentar des Verfassers nicht interpretierbar sind. Sie die- nen der Vorbereitung der eben ge- nannten verantwortlichen Doku- mente, können aber weder voll- ständig noch immer richtig, noch sorgfältig und häufig nicht einmal leserlich geführt sein. Diese Ge-
Einsicht des Patienten in seine Krankenpapiere
Folgen juristischer Umwertung persönlicher Gedächtnisstützen des Arztes in prozeßgeeignete Dokumente
Hans Joachim Bochnik und Cornelia Gärtner-Huth
Ausgabe A/B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 10 vom 12. März 1982 97
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Krankenpapiere
dächtnisstützen in Krankenge- schichten werden in der Regel we- der korrigiert noch ergänzt.
2.3 Aus betrieblichen Gründen enthalten Krankengeschichten Eintragungen von Studenten, An- fängern, Praktikanten (auch manchmal aus nichtärztlichen Be- rufen), deren Kompetenz ohne Kommentar des verantwortlichen Arztes unerkennbar ist und deren Fehler, Lücken und Einseitigkei- ten allenfalls aus dem Vergleich mit den o. g. verantwortlichen Zu- sammenfassungen zu erschließen sind.
2.4 Die prozessuale Verwertbar- keit der Angaben von Patienten über ihre Beobachtungen und Lei- den wie diejenigen Dritter über den Patienten ist höchst proble- matisch, da sie praktisch nie auto- risiert werden (wie zum Beispiel polizeiliche Vernehmungsproto- kolle durch den Satz „vorgelesen und genehmigt"). Nachträgliche Autorisierungen oder Korrekturen während eines Rechtsstreites kön- nen diesen Mangel an Dokumen- tenwert im Zweifelsfall nicht be- heben.
2.5 Der Dokumentarwert von Da- tierungen ärztlicher Aufzeichnun- gen, die aus dem Gedächtnis oder von Zetteln übertragen werden, sagt aus betrieblichen Gründen (wie Arbeitsüberlastung oder Schreibkraftmangel) meist nichts über den Zeitpunkt der meist späteren Eintragung aus. Irrtümer über den Zeitpunkt einer Beob- achtung, die ärztlich meist unwe- sentlich sind, die aber prozessual entscheidend sein können, lassen sich nicht ausschließen.
2.6 Besonders in psychiatrischen Krankengeschichten spielen An- gaben Dritter (zum Beispiel Ehe- partner, Freunde usw.) eine quan- titativ erhebliche Rolle. Diese An- gaben sind praktisch nie autori- siert, sie stehen auch dem Patien- ten gegenüber unter dem Schutz der Schweigepflicht gern. § 203 StGB, also auch bei im übrigen befugter Einsichtnahme.
3. Diese Rechtsentwicklung fördert Defensivmedizin!
Ärztliche Aufzeichnungen können wegen der genannten Besonder- heiten nicht primär als prozeßfeste Dokumente der Rechtfertigung des Arztes gegen mögliche Straf- anZeigen oder Schadensersatzan- sprüche des Patienten geführt werden, ohne daß erhebliche schädliche Nebenwirkungen auf- treten. Dabei ist noch zu berück- sichtigen, daß der Arzt im Strafver- fahren (wie jeder andere Beschul- digte) nicht verpflichtet ist, sich durch das Sagen der Wahrheit selbst zu belasten. Es wäre schlimm, wenn die vorsorgliche (strafrechtlich legitime) Lüge auch als ein Prinzip der Krankenge- schichtsführung legitimiert wer- den würde.
Die neue Rechtsprechung zum Einsichtsrecht begünstigt eine pa- tientenfeindliche defensive „Alibi- Medizin", weil sie dem Arzt nahe- legt, den Patienten primär als po- tentiellen Kläger oder Prozeßgeg- ner zu sehen. Eine ähnliche Fehl- entwicklung unter juristischem Druck scheint die Aufklärungspra- xis zu nehmen (s. Bochnik, Gärt- ner und Richtberg). Diese inhuma- ne Tendenz gefährdet das Vertrau- ensverhältnis zwischen Arzt und Patient, das als Grundlage unent- behrlich ist, weil der Patient ärztli- che Hilfe nur durch Anvertrauen an den Arzt oder sogar Ausliefe- rung an den Arzt erlangen kann (vgl. Bochnik, Gärtner, Richtberg).
4. Ärztliche Mitgestaltung des Einsichtsrechtes ist erforderlich Zu einer vernünftigen Rechtsent- wicklung, die den Tendenzen der
Defensiv-Medizin entgegenwirkt, sollte daher durch inhaltliche Mit- gestaltung der Bedingungen des Einsichtsrechtes von Patienten in ihre Krankengeschichten im Kon- fliktfalle beigetragen werden. Dies bedeutet:
4.1 Die Forderung nach Einsicht in die eigene Krankengeschichte
(zum Zweck der Einleitung prozes- sualer Maßnahmen gegen den Arzt oder der außerprozessualen Prüfung der Chancen solcher Maßnahmen) ist in der Regel als eine Aufkündigung der Vertrau- ensbasis zwischen Patienten und Arzt anzusehen. Sie ist mit dem Weiterbestehen eines Behand- lungsvertrages daher nicht zu ver- einbaren.
4.2 Die unvermeidlich verschiede- nen Funktionen der Krankenge- schichtsanteile setzen eine diffe- renzierte Bewertung für Prozeß- zwecke voraus: Neben verantwort- lichen Eintragungen von unzwei- felhaftem Dokumentarwert wie Arztbriefe, Gutachten, Befunde usw. sollte anerkannt werden, daß ärztliche Aufzeichnungen, die nur als persönliche Gedächtnisstützen dienen oder die von minder quali- fizierten und minder verantwortli- chen Autoren stammen, ebenso wie unautorisiert übernommene Informationen von Patienten oder Dritten über Patienten keinen Do- kumentarwert haben und daher vom Einsichtsrecht auszuschlie- ßen sind.
4.3 Angaben Dritter, die der Schweigepflicht des Arztes auch dem Patienten gegenüber unter- liegen, schließen die Einsichtnah- me durch den Patienten aus.
4.4 Eine Rechtsprechung, die nur das „therapeutische Privileg"
(Deutsch) des Patienten aner- kennt, das ihn vor erschreckenden Informationen, die in einer Kran- kengeschichte enthalten sind, ver- schont, würde dazu führen, daß der Patient die Verweigerung der Einsichtnahme als Bestätigung schlimmer Befürchtungen werten müßte. Aus humanitären Gründen sollte daher das Einsichtsrecht in Krankengeschichten grundsätz- lich nicht dem Patienten selbst, sondern nur autorisierten Ärzten ihres Vertrauens (die sich an be- stimmte noch weiter zu ent- wickelnde Regeln der Offenba- rung zu halten hätten), gegeben werden: 1>
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Das siebzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert mathematisch-natur- wissenschaftlicher Genies: Des- cartes, Galilei, Boyle, Newton for- men ein neues Weltbild. Die exakten Wissenschaften erleben einen Auf- schwung wie nie zuvor. Naturwis- senschaftliches Denken beeinflußt die Medizin. Harvey entdeckt den Blutkreislauf, Brunner, Lower, Willis begründen eine Experimentapatho- logie; Sektionen menschlicher Lei- chen werden jetzt öffentlich durch- geführt. das Wissen über Anatomie,
Abbildung 1: Vignette der Historiarum anatomicarum rariorum (1654) mit dem Bildnis des Thomas Bartholinus. Aus der Sammlung der Universitätsbibliothek Er- langen—Nürnberg
Physiologie und Pathologie wächst exponentiell. Europas Universitäten erleben eine neue Blüte. Dabei ist oft die Prosperität einer Universität, ihr Ruf, das Verdienst eines oder weni- ger Männer, die neben der Gelehr- samkeit auch die Fähigkeit besitzen, das Interesse der Öffentlichkeit — besser noch: der öffentlichen Hand
— an der Universität wachzuhalten.
Eng verbunden
mit der Universität Kopenhagen
Wohl keine Familie ist dabei so eng mit dem Aufblühen einer Universität und so nachhaltig mit ihrer Ge- schichte verbunden wie die Mitglie- der der Bartholin-Sippe mit der Uni- versität von Kopenhagen. Sie stellen über mehr als ein Jahrhundert viele Professoren verschiedener Fakultä- ten und haben einflußreiche politi- sche Ämter inne. Ganz Europa kennt ihren Namen, und noch heute hängt in der Universität von Padua eine Gedenktafel für Thomas Fincke, dem Begründer der Familie und Großvater Thomas Bartholinus'.
Herkunft und Werdegang
Thomas Bartholinus wird am 20. Ok- tober 1616 in Kopenhagen geboren.
Sein Vater, Caspar Bartholinus (sen.) ist ein Universalgelehrter:
Lehrstühle für Philosophie, Anato- mie, griechische Sprache an ver- schiedenen europäischen Universi- täten schlägt er aus. In Kopenhagen Krankenpapiere
4.5 Zuletzt: Es sollte vermieden werden, daß durch rechtliche An- forderungen, die teils funktions- widrig, teils unerfüllbar sind, die Vertrauensmöglichkeiten zwi- schen Arzt und Patient weiter ein- geschränkt werden und die dem Arzt eine ebenso illegale wie un- würdige doppelte Buchführung als pragmatischen Ausweg nahe- legen.
Unsere Hoffnungen richten sich mehr auf eine problembewußte Entwicklung der Rechtsprechung als auf legislative Maßnahmen.
Literatur
Ahrens, W.: Krankenpapiere — Pflichten des Arztes und Rechte des Patienten, Hamburger Ärzteblatt 5, 170, 1981 — Ar- beitsgemeinschaft medizinisch-wissen- schaftlicher Fachgesellschaften (AWMF), H. E. Ehrhardt, H. Kuhlendahl, H. L.
Schreiber und E. Samson: Einsichtsrecht in ärztliche Krankenunterlagen und Do- kumentationspflicht des Arztes, Resolu- tion Dez. 1979, Spektrum der Psychiatrie und Nervenheilkunde 5, 160, 1980 — Bochnik, H. J.; Gärtner, H., und Richt- berg, W.: Zerstörung des Vertrauensver- hältnisses Patient/Arzt durch Verrechtli- chung? Vertrauen, Anvertrauen, Vertrau- enswürdigkeit, in: Bergener, M. (Hrsg.):
PSychiatrie und Rechtsstaat, Luchter- hand, Neuwied 1981 — Bochnik, H. J.;
Gärtner, H., und Richtberg, W.: Ärztliche Aufklärung zwischen Vertrauen und Ali- bi, Versicherungsrecht 32, 793, 1981 — Heimchen, H.: Zur Problematik des Ein- sichtsrechts in psychiatrische Kranken- unterlagen. Spektrum der Psychiatrie 10, 228, 1981 — Kindt, H., und Haring, C.: Die Problematik des Einsichtsrechts in psychiatrische Krankenunterlagen.
Spektrum der Psychiatrie 5, 160, 1981 — Schimmelpennig, G. W.: Zum Recht des Patienten auf Einsicht in die Kranken- blattunterlagen, Spektrum der Psychia- trie 5, 151, 1980
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med.,
Hans Joachim Bochnik Geschäftsführender Direktor des Zentrums der Psychiatrie im Klinikum der Universität Heinrich-Hoffmann-Straße 10 6000 Frankfurt am Main 71
GESCHICHTE DER MEDIZIN
Ehrenrettung
eines Universalgelehrten
Der Anatom und Pathologe Thomas Bartholinus:
Im 19. Jahrhundert überscharf kritisiert
Peter Stömmer
Ausgabe A/B DEUTSCHES ÄRZ 1EBLATT 79. Jahrgang Heft 10 vom 12. März 1982 101