Soll das
Psychiatrie sein?
Zum Schicksal des sowjetrussi- schen Psychiaters Dr. Anatoly I.
Koryagin
Dr. A. I. Koryagin wurde 1938 geboren, war bis zu seiner Ver- haftung am 13. Februar 1981 konsultierender Psychiater an der Psychiatrischen Klinik in Charkov, gehörte seit 1979 zu einer Arbeitskommission, die sich innerhalb der Sowjetunion die Aufklärung des Mißbrau- ches der Psychiatrie zu politi- schen Zwecken zum Ziel ge- setzt hatte. Aufgrund eigener Untersuchung und Exploration stellte er fest, daß in der UdSSR eine Reihe von psychisch ge- sunden Personen, denen anti- sowjetische Aktivitäten vorge- worfen wurden, für geistes- krank erklärt und einer psychia- trischen Zwangsbehandlung unterworfen wurde.
Dieser Sachverhalt ist minde- stens seit den Weltkongressen für Psychiatrie in Mexiko 1971 und in Honolulu 1977 weltbe- kannt und wird von Koryagin aufgrund von weiteren konkre- ten Fällen erneut bestätigt. Er hat darüber in der britischen me- dizinischen Zeitschrift „The Lancet" am 11. April 1981 unter dem Titel „Unwilling Patients"
einen Artikel veröffentlicht (Sei-
ten 821 bis 824), der auf diesen Seiten in deutscher Überset- zung wiedergegeben wird.
Die als antisowjetisch angese- hene Tätigkeit des Dr. Koryagin führte am 3. Mai 1981 zu seiner Verurteilung zu sieben Jahren Straflager und fünf Jahren Ver- bannung. Als diese Zeilen ge- schrieben wurden, verbüßte er die Strafe im Zwangsarbeitsla- ger Nr. 37 im Gebiet von Perm im Ural. Im Sommer vorigen Jahres gelang es ihm, einen offenen Brief an die Psychiater der Welt herauszuschmuggeln, der an die „International Association an Political Use of Psychiatry"
(IAPUP) gelangte und der von dieser Vereinigung, der auch die Deutsche Vereinigung gegen politischen Mißbrauch der Psychiatrie e. V. (DVpMP) ange- hört, verbreitet wird. In diesem Brief appelliert Koryagin an sei- ne Kollegen, alles nur Mögliche zu tun zur Befreiung jener fälschlich für geisteskrank er- klärten und einer Zwangsbe- handlung unterworfenen Men- schen. Zweifellos sollte auch die deutsche Ärzteschaft in diesem Kampfe nicht zurückstehen.
Walter von Baeyer Prof. Dr. med. Walter Ritter von Baeyer ist emeritierter Ordinarius für Psychia- trie und Neurologie der Universität Heidelberg; er hat Koryagins Artikel vom Englischen ins Deutsche über- setzt. Die Red.
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Politische Psychiatrie
angehörigkeit Verzicht leistete, die des Ingenieurs A. Paskauskie- ne, als er nationalistische Flug- blätter zirkulieren ließ.
Der Weg zur Internierung
In weitem Umfang bestimmt der erste Kontakt mit einem Psychia- ter über das folgende Schicksal.
Normalerweise kommt es zu ei- nem solchen Kontakt auf Wunsch des Patienten selbst oder auf Wunsch seiner Familie, wenn die- se Abnormitäten in der Sprache und im Verhalten des Patienten bemerkt. In Fällen von plötzlicher Manifestation von psychischer Störung (wenn der Patient sozial gefährlich wird) wird er von ir- gendwoher, wo immer er sich be- findet, in ein psychiatrisches Hos- pital gebracht, gewöhnlich unter polizeilicher Begleitung. Nichts von dieser Art passierte bei den Leuten, die ich untersuchte. Kei- ner von ihnen suchte selbst medi- zinische Hilfe, ihre Familien such- ten keinen psychiatrischen Bei- stand, ihre Sprech- und Verhal- tensweise bedeutete keine Bedro- hung für irgendjemand; nichtsde- stoweniger wurden sie mit Gewalt oder List in psychiatrische Inter- nierung geschafft. Ihr Schicksal hing von Personen ab, die ihre persönliche Freiheit unter Kontrol- le hatten: Beamte der politischen Polizei (KGB), der Staatsanwalt- schaft und des Ministeriums des Inneren. Diese Amtspersonen stellten fest, daß die von mir unter- suchten Personen sich in einer Weise benommen hätten, die mit geistiger Gesundheit unvereinbar war, und allein aus diesem Grund wurden sie gezwungen, sich von Psychiatern untersuchen zu las- sen, die dann für sie verantwort- lich wurden. Manche von denen, die ich untersuchte, sagten, daß sie anfangs mit folgender Alterna- tive konfrontiert wurden: entwe- der Verleugnung ihrer Ansichten und Aktivitäten oder Internierung in einem psychiatrischen Hospital.
Am verbreitetsten waren folgende Methoden der Unterbringung die- ser „Dissidenten" in psychiatri- schen Hospitälern der UdSSR:
Die Ermittlungsorgane bringen Anschuldigungen vor aufgrund der Anti-Sowjet-Bestimmungen des Strafgesetzbuches. Auf An- ordnung des Ermittlers wird man einer forensisch-psychiatrischen Untersuchung unterworfen und für geisteskrank erklärt. Das näch- ste Stadium ist Zwangsbehand- lung in einem speziellen oder ge- wöhnlichen psychiatrischen Hos- pital. A. Nikitin stellt fest, daß er 1972 und 1977 ohne vorherige Un- tersuchung durch einen forensi- schen Psychiater einer Zwangsbe- handlung unterworfen wurde und daraufhin in Hungerstreik trat.
© Man wird zur militärischen Mu- sterungsbehörde vörgeladen und von einer militärischen Kommis- sion examiniert. Man kommt dort
an. Man wird von einem Polizeibe- amten zum Zwecke der Beobach- tung in ein psychiatrisches Hospi- tal gebracht. Die Rolle der militäri- schen Musterungsbehörde spielte manchmal auch ein Komitee des Distrikt-Sowjets, der Städtischen Partei, der Polizei oder der staatli- chen Inspektion für Motorfahrzeu- ge, wo man unter irgendeinem Vorwand vorgeladen wurde.
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Veranlaßt von Umständen, mit denen man nichts zu tun hat, bricht ein Krawall aus zwischen einem und dem Nachbarn zu Hau- se oder mit Arbeitskollegen. Die Polizei wird gerufen und man wird zur Polizeistation gebracht und von da aus in ein psychiatrisches Hospital. Der 7-Tage-Adventist V.Kushkun berichtet, daß er bei der
Ausgabe B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 48 vom 3. Dezember 1982 61