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Archiv "Diagnose: schizophren. Mißbrauch der Psychiatrie in der UdSSR am Beispiel des Dissidenten Wladitnir Titow" (22.09.1988)

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ach 18 Jahren Straflager, Verbannung und Psychia- trie wurde am 9. Oktober 1987 der Sowjetbürger Wladimir Titow aus der Allgemei- nen Psychiatrischen Klinik Kaluga entlassen und aus der UdSSR ausge- wiesen. Professor Dr. Rudolf Degk- witz, ehemaliger Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg, und der sowjetische Psychiater (und Dissident) Dr. Ana- tolij Korjagin, der heute in der Schweiz lebt, untersuchten ihn im Westen. Sie standen vor der Frage, ob es sich bei Titow tatsächlich um einen behandlungsbedürftigen, chronisch schizophrenen Kranken handelte, oder ob vielmehr ein psy- chisch gesunder Dissident in den Westen abgeschoben worden war.

Über ihr Ergebnis berichten die bei- den Psychiater in Heft 3/88 des

„Spektrum der Psychiatrie und Ner- venheilkunde".

Die Ärzte stellten zunächst fest, daß der Patient zwar körperlich ge- schwächt war, aber bei den beiden vierstündigen Untersuchungen Ende 1987 und Anfang 1988 jeweils ein angemessenes und unauffälliges Verhalten zeigte.

Zusammenhängend und geord- net erzählte er seinen Lebenslauf:

Geboren 1938 in einem Dorf 300 Ki- lometer westlich Moskaus, war Ti- tow schon in der Schule für die Par- tei aktiv. Nach der Schulzeit wurde er vom KGB angeworben und mit der Bespitzelung von Gefangenen im Arbeitseinsatz bei verschiedenen Unternehmen beauftragt. Er absol- vierte eine Ausbildung in Bergbau- technik und Hüttenkunde und er- hielt 1959 einen Schnellkurs im KGB-Institut in Moskau. Sein wei- terer Aufstieg ging einher mit der Bespitzelung, Einschüchterung und Verhaftung von Komsomol-Arbei- tern, bis Titow 1961 „aus gesund- heitlichen Gründen" den KGB- Dienst quittierte.

In Wahrheit, so berichten Degk- witz und Korjagin, schämte er sich,

„ehrliche Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Überzeugung zu verfolgen". Er begann ihnen heimlich zu helfen, wobei auch sein Glaube an Gott eine Rolle spielte,

„vor dessen Zorn er sich mehr

fürchtete als vor dem KGB". Seine Kündigung wurde jedoch nur unter der Bedingung weiterer geheimer Mitarbeit angenommen.

In der Folge lernte Titow als Techniker auf verschiedenen Bau- stellen das Ausmaß des Gefange- nen-Einsatzes in der UdSSR ken- nen, unter ihnen viele politische Häftlinge. Als er damit begann, Be- schwerden an Vorgesetzte zu rich- ten, wurde er 1968 vom KGB festge- nommen und in das Serbskij-Institut eingewiesen, aber nach zwei Mona- ten als geistig gesund entlassen.

Nach dieser ersten Warnung wurde Titow bei dem Versuch, in

Diagnose:

schizophren

Mißbrauch der Psychiatrie in der UdSSR

am Beispiel des Dissidenten Wladitnir Titow

die US-Botschaft zu gelangen, er- neut verhaftet. Angeklagt der anti- sowjetischen Propaganda, erhielt er am 28. Januar 1969 das Urteil: fünf Jahre Lager und zwei Jahre Verban- nung. Auch in der Haft gab Titow seine Proteste nicht auf, so daß er als

„unverbesserlich" in eine psychia- trische Klinik des Innenministeriums überwiesen wurde. Dort fesselte man ihn einen Monat lang an seine Pritsche und behandelte ihn mit star- ken Dosen verschiedener Neurolep- tika , bis er schließlich nicht mehr klar denken konnte. Sein Name je- doch wurde von Mitgefangenen in den Westen geschmuggelt, und nach westlichem Druck wurde Titow 1976 zunächst freigelassen.

In den folgenden Jahren kam es zu weiteren Klinikaufenthalten, zu- letzt wegen des Fotografierens von Straflagern. Im Sommer 1987 ver- legte man Titow nach „Verschlim- merung seiner schizophrenen Er-

krankung" in die Klinik von Kaluga.

In einem Appell an humanitäre Or- ganisationen und „alle Christen, die für mich beten" schrieb Titow den- noch ungebrochen: „Man muß das Böse und seine Propaganda be- kämpfen".

In dem Lebensbericht Titows war nach Ansicht von Degkwitz und Korjagin „alles normalpsycholo- gisch nachvollziehbar und der allge- meinen Lebenserfahrung entspre- chend". Alles sprach gegen eine psychische Erkrankung des Patien- ten. In dieses Bild paßte auch die Tatsache, daß laut Titow die russi- schen Ärzte ganz offen mit ihren Patienten darüber sprachen, daß man die Diagnose „schizophren"

bei einem Reue-Bekenntnis, das sie im Fernsehen öffentlich abge- ben müßten, auch zurücknehmen könne.

In ihrem Untersuchungsbericht halten Degkwitz und Korjagin fest, daß Titow nicht mit Elektroschocks oder Insulin behandelt worden war, wohl aber mit Sulphasin, einer in Deutschland unbekannten Suspen- sion von Schwefel in Öl, die Fieber und Schmerzen an der Injektions- stelle verursacht. Bleibende körper- liche Schäden hatte die „Behand- lung" mit diesem Mittel dennoch nicht hinterlassen.

Die beiden Psychiater kamen zu einem eindeutigen Gesamtergebnis:

Bei Titow lag keine Schizophrenie, keine psychische Anomalie vor.

Und sie folgerten, daß sich der Miß- brauch der Psychiatrie in der UdSSR am Beispiel des Dissidenten Titow anders darstelle, als dies vielfach im Westen angenommen werde. Deg- witz und Korjagin zufolge werden Andersdenkende in der Sowjet- union nicht etwa durch die Einwei- sung in psychiatrische Kliniken vor der Staatssicherheit geschützt, wie hierzulande oft angenommen werde.

Die „Sonderanstalten" der Psychia- trie unterstünden im Gegenteil selbst dem Staatssicherheitsdienst, und „bei der Diagnose Schizophre- nie handelt es sich im Grunde nicht um einen medizinisch-psychiatri-

schen Begriff. Sie ist vielmehr eine

Handhabe, die es erlaubt, Dissiden- ten ohne Verurteilung auf unbe- stimmte Zeit zu internieren". OD Dt. Ärztebl. 85, Heft 38, 22. September 1988 (35) A-2579

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