A 2454 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 49|
10. Dezember 2010BLUTTR AN SFU SIONEN
Der 31. Weltkon- gress für Bluttrans- fusionen befasste sich mit der Be- darfssteigerung an Blut und Blutproduk- ten infolge der Alte- rung der Bevölkerung (DÄ 37/2010:
„Transfusionsmedizin und Immunhäma- tologie: Ein Engpass an Blut ist abseh- bar“ von Barbara Nickolaus).
Ziel verfehlt
In dem Artikel wird das extrem ge- ringe Risiko einer Infektion mit He- patitis C (1 : 10,9 Millionen) oder HIV (1 : 4,3 Millionen) geschildert und im Zusammenhang dazu das Sterberisiko (!) im Straßenverkehr ca. 500-fach höher angegeben.
Zahlen , die gut wissenschaftlich zu belegen sind. Ich frage mich immer wieder: Warum muss ich als Arzt Patienten über dieses Minimalrisiko bei Bluttransfusionen aufklären, die ja schließlich nur bei gegebener In- dikation wohlüberlegt angewandt werden? Wo doch auf der anderen Seite weder der Autohändler, der Tankwart oder der Fiskus (als Ein- treiber der Kfz-Steuer) mich auf die Lebensgefährlichkeit des Kaufes und die Benutzung eines Autos oder Motorrades hinzuweisen und mit Durchschlag schriftlich aufzuklären haben?
Kann an dieser Stelle nicht einmal wieder etwas Ratio in unser Han- deln einziehen und die überborden- de Bürokratie durch weltfremde ju- ristische Einflüsse zurückgedrängt werden? Während vor einigen Jah- ren klinische Studien mit zwei bis drei Seiten Patienteninformation auskamen, sind es heute eher zwölf bis 15 Seiten, die ein durchschnittli- cher Mensch inhaltlich gar nicht mehr erfassen kann – Ziel verfehlt!
Aber diversen juristischen Anforde- rungen wird Folge geleistet, was dann auch noch vielfach als QM er- fasst und dokumentiert werden kann. Ich wünschte mir ein „back to the roots“ und die Unterstützung dazu durch unsere Standesvertreter, wo es die Politik schon nicht schafft.
Dr. med. Burkhard Muche, 14109 Berlin
U S
D g f s d B t rung der Bevölkerun
Die große Monografie über den als Euthanasie bezeichneten Kranken- mord im NS-Staat steht noch aus.
Es wäre an der Zeit. Bis dahin bietet dieser Sammelband indes eine gute, wissenschaftlich seriöse Übersicht, zumindest über den zentral organi- sierten Mord an (zumeist) Erwach- senen, der unter der Chiffre T4 lief.
Die „AktionT4“ war gründlich organisiert: Die Reichsarbeitsge- meinschaft für Heil- und Pflegean- stalten kümmerte sich um die Erfas- sung der Patienten mittels Melde- bögen, die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege sorgte für Ge - bäude und Personal, die Gemein- nützige Krankentransportgesellschaft fuhr die Patienten quer durch das Deutsche Reich von den Pflegean- stalten über diverse Zwischensta- tionen zu den Gaskammern in den
sechs Tötungsanstalten, die Zentralverrechnungsstelle rechnete die Pflegekosten der dort Umgebrachten pe- nibel ab. Zusammengefasst war dieser bürokratische Apparat in der Tiergarten- straße 4, Berlin W 35 (dort, wo inzwischen die Philhar- monie steht), weshalb der zentral organisierte Krank- mord der Nationalsozialis- ten heute als „Aktion T4“
bezeichnet wird. T4 dauerte von Januar 1940 bis August 1941 und kostete 70 000 Patienten das Leben.
In diesem Sammelband beschrei- ben 46 Autoren präzise, wie es zu den Krankenmorden kam, wie sie organisiert wurden, wer die Täter waren und was aus ihnen wurde.
Sie befassen sich mit den ideologi- schen, wissenschaftlich daherkom- menden Vordenkern und versuchen, die Motive der Mörder an den Schreibtischen und in den Anstalten zu ergründen; sie suchen nach Spu- ren des Widerstandes. Nicht zuletzt schlagen sie den Bogen zur Gegen- wart: Könnte es sein, dass in einer Krise die schwächsten der Kranken wieder zu den Verlierern gehören?
Gibt es eine gedankliche Verbin- dung von der „Erlösung“ einzelner KRANKENMORD IM NS-STAAT
Opfer und Täter
Kranker von ihren Schmerzen über die Rechtfertigung systematischer Tötung Schwerstkranker aus Mit- leid bis zum Krankenmord aus Nützlichkeitserwägungen? Eine heikle Frage, die viele Tabus be- rührt.
Die NS-Aktionen war zwar ge- heim, aber weithin bekannt, zumin- dest ahnte die Bevölkerung, was vorging, ohne es sich vielleicht ein- gestehen zu wollen. Widerstand kam, abgesehen von einigen muti- gen Angehörigen und von wenigen Verantwortlichen in Krankenhäu- sern und Verwaltungen, von den Kirchen, wenn auch zunächst zö- gerlich.
Das Buch geht auf eine Heidel- berger Tagung im Jahr 2006 zurück.
Die wiederum schloss ein von der DFG gefördertes Projekt Heidelber- ger Psychiater und Historiker ab, bei dem überraschend aufgefunde- ne Akten von T4-Opfern ausgewer- tet wurden. Lange galten die Akten der 70 000 Opfer als vernichtet.
Doch 30 000 Akten gelangten auf verschlungenen Wegen nach Thü- ringen, wo sie 1960 von der Stasi sichergestellt wurden. Die hielt sie geheim und legte eine Täterkartei an, wohl um im Bedarfsfall Belas- tungsmaterial zur Hand zu haben.
Für das Heidelberger T4-Projekt sind 3 000 dieser Akten ausgewählt und sowohl systematisch (etwa:
Nach welchen Kriterien wurden die Meldebögen ausgefüllt und die Pa- tienten schließlich selektiert?) als auch individual-biografisch er- schlossen. Entstanden sind aus den spärlichen Zeugnissen eine Reihe von Opferbiografien, einige sind in diesem Band versammelt, weitere in einem bereits 2007 publizierten Buch („Das Vergessen der Vernich- tung ist Teil der Vernichtung selbst“). Somit konnte den vielfach vergessenen Opfern Gesicht und Stimme verliehen werden. Gleich- wohl, dieser Sammelband nimmt unweigerlich vornehmlich die Täter in den Blick. Denn sie haben mit ih- rer peniblen Buchhaltung, ihren Aktenvermerken und Korrespon- denzen ihre Spuren hinterlassen und: Sie haben die Morde began- gen. Ohne schlechtes Gewissen üb- rigens. Norbert Jachertz Maike Rotzoll,
Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter, Christoph Mundt, Wolfgang. U. Eckart (Hrsg.): Die national-
sozialistische
„Euthanasie“–Aktion
„T4“ und ihre Opfer.
Schöningh, Paderborn 2010, 463 Seiten, gebunden, 48 Euro
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