Menschenrechtsverletzungen
Opfer und Täter in der Ärzteschaft
Unterdrückung, Verfolgung und Folter, illegale wie staatlich sanktionierte Tötung
— das ist in vielen Ländern an der Tagesordnung. Und Mediziner sind von Berufs wegen ganz besonders oft Opfer, Mitwisser oder auch Täter. Was kann die Ärzte- schaft dagegen tun? Diese Frage stand im Zentrum einer internationalen Podi- umsdiskussion in der Berliner Charitä, veranstaltet vom Berlin-Brandenburger Arbeitskreis Medizin/Psychologie von Amnesty International gemeinsam mit dem Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer und der Ärztekammer Berlin.
THEMEN DER ZEIT
Nichtbehandlung oder Zwangs- ernährung Gefangener; Amputatio- nen gesunder Extremitäten nach is- lamischem Recht; medizinische Be- handlung Gefolterter und zum To- de Verurteilter mit dem einzigen Ziel, sie wieder „fit for torture"
oder „fit for execution" zu machen;
sogar Entwicklung neuer Folterme- thoden mit Hilfe medizinischen Sachverstands: Erschreckend, was ausländische Kollegen über Men- schenrechtsverletzungen zu berich- ten hatten, in die häufig Mediziner verwickelt sind. Vielfach würden sie massiv unter Druck gesetzt, und nicht selten riskierten sie selber Freiheit und Leben, wenn sie, ge- treu den Grundsätzen ärztlicher Ethik, verletzte Regimegegner be- handelten, sich weigerten, eine fin- gierte Todesursache zu bezeugen, um politische Morde zu verschlei- ern, oder gegen Verschleppungen und Folterungen öffentlich Ein- spruch erhoben — Ärzte nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer.
Wie nimmt die deutsche Ärzte- schaft angesichts dessen ihre Ver- antwortung wahr? Die diesbezügli- chen Aktivitäten der Bundesärzte- kammer (BÄK) umriß Norbert Ja- chertz, Chefredakteur des Deut- schen Ärzteblattes, auf dem Berli- ner Podium: Was begangene „medi- zinische" Menschenrechtsverlet- zungen betrifft, so hat die Ärzte- schaft hier noch immer genügend mit dem zu tun, was im eigenen Lande geschah. Jachertz erinnerte
TAGUNGSBERICHT
an die Nürnberger Prozesse und ih- re Beschreibung durch Mitscherlich und Mielke, an das darauf folgende jahrzehntelange Verdrängen der Beteiligung von Medizinern an den NS-Verbrechen, aber auch an die Artikelserie von 1988/89 in dieser Zeitschrift und das daraus entstan- dene Buch (1). Schließlich verwies er auf die Beschäftigung Deutscher Ärztetage mit der Schuld, die Ärzte als Täter oder doch als untätige Mitwisser unter der ersten deut- schen Diktatur dieses Jahrhunderts auf sich luden. Was die zweite anbe- langt, so überwiege bei dem von der Ärzteschaft geförderten zeitge- schichtlichen Projekt an der Uni- versität Hannover „Ärztliches Han- deln und politische Verfolgung in SBZ und DDR" (2) die Rolle von Ärzten als Opfer.
Und heute? Gegenüber Men- schenrechtsverletzungen im Aus- land verhalte sich die Bundesärzte- kammer „eher diplomatisch". In Einzelfällen setze sie sich diskret, aber wirkungsvoll ein — wobei Ja- chertz sich ein intensiveres Engage- ment in der Zukunft durchaus vor- stellen könnte. Es sei aber auch Sa- che jedes einzelnen Arztes, die Menschenrechte zu verteidigen und auf Fehlentwicklungen hinzuwei- sen. Hierbei seien auch Probleme
(1) J. Bleker u. N. Jachertz: Medizin im Drit- ten Reich, Köln 1993
(2) K.-D. Müller: Zwischen Hippokrates und Lenin, ersch. in Köln 1994 als 1. Bd. der Reihe „Arzt und Politik in SBZ und DDR"
in der biomedizinischen Forschung stärker einzubeziehen. Sollten Ver- stöße auch in Deutschland noch vorkommen, hätte die Ärzteschaft dagegen anzugehen. In der Diskus- sion wurde darauf hingewiesen, daß zum Beispiel einige deutsche Poli- zeiärzte kranke Abschiebehäftlinge zu Unrecht für reisefähig erklärten.
In der Prävention von Men- schenrechtsverletzungen sieht Ja- chertz das eigentliche Arbeitsgebiet der Bundesärztekammer. Als Mit- glied des Weltärztebundes hat sie an dessen Deklarationen gegen menschenrechtswidrige Handlun- gen aktiv mitgearbeitet. Aber was nützen Regeln, Deklarationen, Ab- sichtserklärungen?
Im Kampf gegen die Verlet- zung der Menschenrechte durch Mediziner müsse diese Vereinigung als ziemlich „zahnlos" gelten, for- mulierte Dr. Christian Pross, Leiter des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer. Zwar wurden in der Erklärung von Tokyo die Ärzte schon 1975 aufgefordert, Mißhand- lungen weder zu dulden noch sich daran zu beteiligen; zwar habe der Weltärztebund sich verpflichtet, Ärzte vor Repressalien zu schützen, die ihre Teilnahme an Menschen- rechtsverletzungen verweigern und sie öffentlich brandmarken. Er ha- be aber bisher kaum etwas unter- nommen, Verstöße festzustellen und Ärzte oder nationale Ärztever- einigungen deswegen abzumahnen oder zu ächten.
Auch die Madrider Erklärung von 1989, in der alle Ärzteverbände der Welt aufgefordert werden, die Deklaration von Tokyo umzuset- zen, habe in Deutschland keine Folgen gehabt. Pross hält es für überfällig, daß die deutsche Ärzte- schaft sich mehr engagiert, wie an- dere nationale Standesvereinigun- gen dies täten. In Großbritannien wie auch in Dänemark (und sogar in Uruguay) haben die Ärztevertre- tungen zum Beispiel Menschen- rechtsbeauftragte. Er forderte die BÄK unter Beifall auf, ebenfalls einen Beauftragten zu ernennen, dessen Aufgabe es wäre, etwas ge- gen die Folter in der Welt wie auch gegen die Beteiligung von Ärzten zu tun. Rosemarie Stein A-3410 (26) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 49, 9. Dezember 1994