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Archiv "Medizin in der NS-Zeit: Hirnforschung und Krankenmord" (11.05.2001)

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as formlose Schreiben, mit dem Hitler seinen „Begleitarzt“ Karl Brandt und den Chef der „Kanzlei des Führers“, Philipp Bouhler, ermäch- tigte, psychisch kranke und geistig behin- derte Menschen umbringen zu lassen, ist, obwohl erst im Oktober ausgefertigt, auf den 1. September 1939 zurückdatiert.

Damit, so vermutet man, sollte symbo- lisch zum Ausdruck gebracht werden, dass zeitgleich mit dem Krieg nach außen auch der Krieg nach innen eröffnet war – gegen alles, was schwach, elend und unnütz erschien. Den Auftakt bildete die

„Aktion T4“, die Vergasung von etwa 70 000 Psychiatriepatienten, vom Januar 1940 bis August 1941. Die neueste, von Heinz Faulstich vorgelegte Schätzung geht davon aus, dass – neben den Opfern der „Aktion T4“ – etwa 117 000 Patien- ten aus den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reichs (einschließlich der an- nektierten Gebiete) der NS-„Eutha- nasie“ zum Opfer fielen, sodass man auf eine Gesamtzahl von etwa 185 000 er- mordeten Psychiatriepatienten kommt.

Rechnet man die schätzungsweise 80 000 Toten in polnischen, sowjetischen und französischen Anstalten hinzu, erhöht sich die Opferzahl auf über 260 000. (1)

Dieser Genozid wurde von Ärzten in- itiiert, geplant, vorbereitet, gerechtfer- tigt, durchgeführt und wissenschaftlich begleitet. Man kann gar nicht deutlich genug hervorheben, dass diese Ärzte nicht trotz, sondern wegen ihres ärztli- chen Berufsethos zu Vollstreckern eines historisch beispiellosen Aktes der Bar- barei wurden. Im Ideenhaushalt des ärzt- lichen Expertenstabes, der bei dem Mas- senmord die Fäden zog, waren Heilen und Vernichten eng verknüpft. Diese

Ärzte, von denen nicht wenige in der Weimarer Republik als Verfechter einer grundlegenden Psychiatriereform her- vorgetreten waren, betrachteten die

„Euthanasie“ als eine Chance, ihr Re- formkonzept in die Wirklichkeit umzu- setzen: Im Zuge der „Euthanasie“ sollte die Masse der chronisch kranken und be- hinderten Patienten, bei denen alle da- mals bekannten Therapieformen ver- sagten, vernichtet und so der Weg freige- macht werden für eine Umstrukturie- rung der Anstaltspsychiatrie, in deren Mittelpunkt die Trennung von Heil- und Pflegeanstalt stehen sollte.

Eugenik als komplementäres Element der Psychiatrie

Auf der Basis dieser Reorganisation des Anstaltswesens sollten dann die in den 20er- und 30er-Jahren neu entwickelten Therapieformen – die „Aktivere Kran- kenbehandlung“ sowie die Insulin-, Car- diazol- und Elektroschocktherapie – auf breiter Front eingesetzt werden. Durch die enge Verschränkung von Anstalts- praxis und Grundlagenforschung hoffte man, das therapeutische Instrumentari- um weiter verfeinern zu können. Die Psychiatrie sollte, wie Prof. Carl Schnei- der es ausdrückte, „eine im echten Sinne des Wortes ärztlich heilende Disziplin“

werden. Man war zuversichtlich, die Be- handlungsmöglichkeiten in naher Zu- kunft noch erheblich ausweiten zu kön- nen: „Die Zeit wird nicht mehr fern sein, da man selbst die so genannte unheilbare Geisteskrankheit der therapeutischen Bemühung zugänglich gemacht haben wird und den Kranken ebenso vor Siech-

tum wie vor lebenslanger Anstaltsinter- nierung bewahren kann, sodass er trotz seiner Erkrankung (nach seiner Un- fruchtbarmachung) ein tätiges Glied der Volksgemeinschaft bleiben kann.“ (2) Die Eugenik bildete bei der Therapie erblicher Krankheiten und Behinderun- gen stets ein komplementäres Element – durch die Sterilisierung sollten geneti- sche Defekte in der Generationenfolge

„ausgemerzt“ werden.

Die Trias von Therapie, Eugenik und

„Euthanasie“ rückte die psychiatrische Erbforschung in den Brennpunkt des In- teresses. Der ärztliche Expertenstab an der Spitze des „Euthanasie“-Apparates war sich darüber im Klaren, dass die dia- gnostischen Möglichkeiten, die zur Ver- fügung standen, kaum ausreichten, um den Erbgang von psychischen Krankhei- ten und geistigen Behinderungen zwei- felsfrei zu klären. Die Krankenmorde eröffneten nun der psychiatrischen For- schung ganz neue Möglichkeiten: Men- schen, die im Zuge des von der „Eu- thanasie“-Zentrale durchgeführten Se- lektionsverfahrens aussortiert und zur Vernichtung freigegeben worden waren, die als „interessante Fälle“ aber die Auf- merksamkeit der Forscher auf sich gezo- gen hatten, konnten zunächst klinisch be- obachtet werden, bevor man sie ermor- dete, um sodann ihre Gehirne zu sezie- ren und pathologisch zu untersuchen.

Dies setzte freilich voraus, dass sich die beteiligten Forscher über elementare all- gemein- und berufsethische Normen hin- wegsetzten. Wie sich zeigte, hatten viele Forscher damit keine Probleme – es scheint, als sei dadurch, dass man sich grundsätzlich auf das Kategorisieren von Patienten in „lebenswert“ und „lebens- T H E M E N D E R Z E I T

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A1240 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 19½½11. Mai 2001

Medizin in der NS-Zeit

Hirnforschung und Krankenmord

Von 1940 bis 1945 wurd en am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin etwa 700 Gehirne untersucht,

die von Opfern des Massenmordes an psychisch Kranken und geistig Behinderten stammten.

Hans-Walter Schmuhl

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unwert“ eingelassen hatte, ein Damm ge- brochen.

Zu Beginn des Jahres 1941 – wahr- scheinlich am 23. Januar – fand eine Kon- ferenz beim Reichsdozentenführer statt, bei der ein groß angelegter Forschungs- plan in Verbindung mit der „Euthanasie“

entworfen wurde. In die vorgesehenen Massenuntersuchungen sollten 14 der 30 anatomischen Institute des Deutschen Reiches einbezogen werden.

Zwar ließ sich dieser ambitionier- te Plan aufgrund der Kriegsent- wicklung nicht verwirklichen, doch unterhielt die „Euthana- sie“-Zentrale von 1942 an zwei Forschungsabteilungen: die eine in der Anstalt Brandenburg-Gör- den unter Leitung von Prof. Hans Heinze (seit Januar 1942), die an- dere in der badischen Anstalt Wiesloch (seit Ende 1942) bezie- hungsweise in der Universitäts- klinik Heidelberg (seit August 1943) unter Leitung von Prof.

Carl Schneider. Gehirne von getöteten Patienten gelangten in verschiedene neuropathologi- sche Laboratorien, unter ande- rem in die Deutsche Forschungs- anstalt für Psychiatrie in Mün- chen über die ihr vorgeschaltete Prosektur in der Anstalt Eglfing- Haar und das Kaiser-Wilhelm-In- stitut (KWI) für Hirnforschung über die Prosektur in der Landes- anstalt Brandenburg-Görden un- ter Prof. Julius Hallervorden.

Vom gesunden zum kranken Gehirn

Das KWI für Hirnforschung, eine Schöp- fung des Forscherehepaares Oskar und Cécile Vogt, hatte sich über Jahrzehnte hinweg mit Fragen der Hirnarchitekto- nik befasst. Die Vogts bemühten sich dar- um, den vielen von ihnen entdeckten Rindenfeldern bestimmte Hirnfunktio- nen zuzuordnen, wobei sie auf eine Fein- analyse der individuellen Physiognomie der Hirnrinde abzielten. Der Königsweg dahin schien im Vergleich zu liegen, in der Untersuchung der Gehirne von Men- schen, die in irgendeiner Form von der Norm abwichen, Gehirnen von „Aus- nahmemenschen“, Verbrechern, Hirn-

kranken und „Schwachsinnigen“ und von Angehörigen „kulturell zurückge- bliebener“ Menschenrassen. Es ging um eine typologisierende Untersuchung der Extreme: Die Erforschung neurologi- scher Erkrankungen stand immer im Zu- sammenhang mit den Forschungen zu den „Elitegehirnen“. Praktische Proble- me der Neurologie und Psychiatrie spiel- ten im Forschungskonzept der Vogts

kaum eine Rolle – und auch die Eugenik lag am Rande ihres Blickfeldes.

Seit Ende der 20er-Jahre, mit der Ein- richtung einer institutseigenen For- schungsklinik, nahm am KWI für Hirn- forschung das Interesse an der psychiatri- schen Praxis zu. Die Verzahnung von Hirnforschung und Anstaltspsychiatrie kam aber zunächst nur schleppend vor- an. Das änderte sich im Jahre 1937, als Oskar und Cécile Vogt das Institut unter dem Druck der braunen Machthaber verlassen mussten und Prof. Hugo Spatz, bis dahin Leiter des neuropathologi- schen Labors an der Psychiatrischen und

Nervenklinik in München, den Direkto- renposten übernahm. Spatz, der ausge- prägt pathologische Interessen verfolgte, verlagerte den Forschungsschwerpunkt des Instituts vom gesunden zum kranken Gehirn, wobei die Pathogenese einzelner Krankheiten und Behinderungen in den Vordergrund rückte und auch die Frage nach Anlage und Vererbung merklich an Bedeutung gewann.

Spatz richtete drei neue Abteilungen ein – für Expe- rimentelle Pathologie und Tumorforschung, Allgemei- ne Pathologie und Histopa- thologie – und trieb die Ver- flechtung des Instituts mit der Anstaltspsychiatrie im Großraum Berlin, insbeson- dere mit der benachbarten Heil- und Pflegeanstalt Ber- lin-Buch, energisch voran. In diesem Zusammenhang ist auch die Berufung von Prof.

Julius Hallervorden, dem Leiter der Zentralprosektur der psychiatrischen Anstal- ten der Provinz Branden- burg, zum Leiter der Histo- pathologischen Abteilung zu sehen. Die Prosektur, die 1938 in die Landesanstalt Brandenburg-Görden ver- legt wurde, war fortab eine Außenstelle des KWI.

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs markierte eine weitere Zäsur in der Instituts- geschichte. Es entstand eine militärische Parallelstruktur, bestehend aus drei Komple- xen: der „Sonderstelle zur Er- forschung der Kriegsschäden des Zentralnervensystems“ unter Julius Hallervorden, der „Außenabteilung für Gehirnforschung“ des Luftfahrtmedizi- nischen Forschungsinstituts unter Hugo Spatz und der „Forschungsstelle für Hirn-, Rückenmark- und Nervenverletz- te“ unter Wilhelm Tönnis. Die militäri- sche Überformung der zivilen Struktu- ren sicherte zwar kurzfristig den Bestand des Instituts, drohte aber langfristig den zivilen Forschungssektor zu überwu- chern. Finanziell hing das Institut schon bald am Tropf der Militärs. Die militäri- sche Auftragsforschung überschnitt sich zwar auf manchen Feldern mit dem zivi- T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 19½½11. Mai 2001 AA1241

Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer „Eut- hanasie“-Verbrechen auf dem Campus Berlin-Buch

Foto: Thomas Müller

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len Forschungsprogramm, andere Ar- beitsschwerpunkte der Vorkriegszeit – vor allem die Untersuchungen zum angeborenen und früh erworbenen

„Schwachsinn“ – ließen sich jedoch nicht fortführen. Die Einbindung in die Be- gleitforschung zur „Euthanasie“ bot nun die Möglichkeit, diese Forschungsrich- tung auch unter Kriegsbedingungen wei- ter zu betreiben. Gleichzeitig eröffnete sich hier die Möglichkeit, unabhängig von den Militärs Drittmittel ein- zuwerben und das zivile For- schungsprogramm zumindest notdürftig aufrechtzuerhalten.

Verstrickung in die

„Euthanasie“

Das wichtigste Bindeglied zwi- schen dem KWI für Hirnfor- schung und der „Euthanasie“- Aktion bildete die Landesan- stalt Brandenburg-Görden un- ter Prof. Hans Heinze. Sie war Sitz der ersten „Kinderfachab- teilung“ des Deutschen Reiches.

Die 60 bis 80 Betten umfassen- de, großzügig ausgestattete Ab- teilung diente ab 1940 als

„Reichsschulstation“ zur Aus- bildung der Ärzte, die als Leiter weiterer „Kinderfachabteilun- gen“ vorgesehen waren. Die Vorreiter-Funktion Branden- burg-Gördens bei der Kinder-

„Euthanasie“ kam nicht von un- gefähr: Heinze gehörte dem

„Reichsausschuss zur wissen- schaftlichen Erfassung schwerer erb- und anlagebedingter Lei- den“ an und war somit an den Beratungen zur Planung der Kinder-„Euthanasie“ unmittel- bar beteiligt. Ferner war er Mit-

glied des dreiköpfigen Gutachtergremi- ums, das über Leben und Tod der ange- zeigten Kinder entschied. Wie viele Kin- der und Jugendliche in Görden getötet wurden, ist ungewiss. Hans-Hinrich Knaape gibt an, dass Kinder in fünf Transporten, im Mai und Juni 1940, in die Gaskammer der so genannten „Pflege- anstalt Brandenburg“, die im Zuchthaus der Stadt Brandenburg eingerichtet wor- den war, verschleppt und ermordet wur- den. (3)

Schon 1940 wurde das KWI für Hirn- forschung unmittelbar in die Begleitfor- schung zur „Euthanasie“ eingebunden.

Am 29. April 1940 wurde Julius Haller- vorden – zusammen mit anderen Profes- soren – über die „Aktion T4“ offiziell in Kenntnis gesetzt (es ist freilich mehr als wahrscheinlich, dass er über Heinze be- reits viel früher über das „Euthanasie“- Programm Bescheid wusste). Bereits am 15. Mai 1940 erhielt er – im Rahmen der

Kinder-„Euthanasie“ – die ersten Gehir- ne von im Zuchthaus Brandenburg getö- teten Kindern. Bis in den Herbst hinein gingen diese Lieferungen weiter. Etwa 100 Kinder wurden aus Görden – ver- mutlich in zwei Transporten – in das Zuchthaus Brandenburg verlegt und dort vergast. Am 28. Oktober 1940 ging der letzte Transport mit 56 Kindern und Jugendlichen aus Görden in die Gaskam- mer von Brandenburg. Die Gehirne von etwa 40 Kindern aus diesem Transport

finden sich in der Sammlung Hallervor- den. Heinze und Hallervorden waren an Ort und Stelle an der Sektion dieser Kin- der beteiligt. (4)

Hallervorden und Spatz erhielten auch nach dem Herbst 1940 Gehirne von

„Euthanasie“-Opfern, teils aus der Pro- sektur in Brandenburg-Görden, teils aus den Tötungsanstalten Bernburg und Sonnenstein, teils aus der Anstalt Leip- zig-Dösen und anderen Anstalten, seit Anlaufen der „Aktion T4“

auch von Erwachsenen. Meh- rere Ärzte, die in Bernburg und Sonnenstein den Gashahn auf- drehten, so zum Beispiel Dr.

Heinrich Bunke, Otto Hebold und Dr. Kurt Borm, hatten sich als Gastwissenschaftler am KWI für Hirnforschung aufge- halten. Die Prosektur in der Anstalt Leipzig-Dösen, zustän- dig für die sächsischen Landes- anstalten, wurde nebenher von Dr. Georg Friedrich geleitet, der seit August 1939 in der Außenstelle der Militärärztli- chen Akademie zur Erfor- schung der Kriegsschäden des Zentralnervensystems arbeite- te. Als im Oktober 1940 die

„Kinderfachabteilung“ in Leip- zig-Dösen eröffnet wurde, übernahm Friedrich die patho- logische Untersuchung der hier ermordeten Kinder und ver- mutlich auch der Opfer der

„Kinderfachabteilung“ in der Leipziger Universitätskinder- klinik. Mehrere Leiter anderer

„Kinderfachabteilungen“ hat- ten am KWI für Hirnforschung hospitiert und schickten von sich aus Gehirne nach Berlin.

Besonders enge Verbindungen bestanden zu den Berliner An- stalten. So übernahm Dr. Gertrud Soe- ken, Oberärztin an der Forschungsklinik des KWI, nach der Umwandlung der Kli- nik in ein Reservelazarett im Jahre 1939 eine Kinderinfektionsstation am Lud- wig-Hoffmann-Hospital. Sie arbeitete nachweislich mit dem Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung schwe- rer erb- und anlagebedingter Leiden zu- sammen.

Verschiedene Verbindungslinien füh- ren vom KWI für Hirnforschung in die T H E M E N D E R Z E I T

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A1244 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 19½½11. Mai 2001

Heinrich Gross, Leiter der „Kinderfachabteilung“ Am Spiegelgrund in Wien, fertigte Präparate von Hirnen eines Großteils der 800 Kin- der an, die dort getötet wurden. Er nahm 1941 an einem Lehrgang in Görden teil und hatte vermutlich über die Außenstelle der Pro- sektur in Görden Kontakt zum KWI für Hirnforschung.

Foto: Associated

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„Euthanasie“-Zentrale in der Tiergar- tenstraße 4. Mehrere T4-Gutachter hat- ten einen direkten oder indirekten Bezug zum KWI: So war Dr. Walther Kaldewey 1930/31 als Assistent am KWI für Hirn- forschung tätig gewesen – Auseinander- setzungen mit Oskar Vogt führten zu sei- ner Entlassung. Kaldewey, der hernach als Direktor der westfälischen Provinzi- alanstalten Eickelborn und Niedermars- berg sowie der Bremer Nervenklinik tätig war, fungierte 1940/41 als Gutachter der Aktion T4 und nahm auch an den Be- ratungen zu einem „Euthanasie“-Gesetz im Jahre 1940 teil.

In der neueren Forschung setzt sich mehr und mehr die

Ansicht durch, dass die Gehirnlieferun- gen, die an das KWI für Hirnforschung gingen, nur in geringem Maße zentral gesteuert waren, sondern über die per- sönlichen Netzwerke liefen, in die das Institut und seine Mitarbeiter einge- bunden waren, sei es, dass T4-Ärzte, die am KWI oder in Brandenburg-Görden dafür geschult worden waren, in den Tötungsanstalten von sich aus Gehirne entnahmen und nach Berlin schickten, sei es, dass Ärzte in den Stammanstal- ten, die mit dem KWI in Verbindung standen, die Sektion in der Tötungsan- stalt veranlassten. Das KWI für Hirn- forschung hatte es gar nicht nötig, sich Gehirne „auf Bestellung“ liefern zu las- sen – ein kollegiales Beziehungsnetz sorgte von sich aus dafür, dass der Nachschub an Gehirnen nach Berlin

nicht abriss, ohne dass die Berliner Hirnforscher ihre Wünsche noch eigens hätten anmelden müssen.

Von besonderem Gewicht war schließlich die Verbindung zu Maximi- nian de Crinis, Ordinarius für Psychia- trie und Neurologie und Direktor der Klinik für Psychiatrische und Nerven- krankheiten der Charité, der seit 1938 dem Kuratorium des KWI für Hirn- forschung angehörte. 1940 wurde de Crinis zudem Ministerialreferent im Amt Wissenschaft des Reichsministe- riums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Gleichzeitig stieg

er zur „grauen Eminenz“ im Planungs- stab der „Euthanasie“-Zentrale auf.

Diese Ämterhäufung bot Spatz die Möglichkeit, im November 1940 einen informellen Antrag auf Gewährung eines Zuschusses in Höhe von 10 000 RM „für die Untersuchungen des Ab- teilungsleiters Prof. Julius Hallervor- den über die organischen Grundlagen des angeborenen Schwachsinns (auf- grund eines großen Materiales von Fällen von Idiotie)“ (5) bei de Crinis einzureichen. Für de Crinis musste klar sein, dass es sich hier um Begleit- forschung zur „Euthanasie“ handelte.

Gleichwohl befürwortete er das Ge- such Spatz’ nachdrücklich und sorgte dafür, dass der Antrag an die Deut- sche Forschungsgemeinschaft weiter- geleitet wurde. Tatsächlich flossen

Mittel der DFG in die Prosektur in Brandenburg-Görden.

Am 8. Mai 1944 wurde die Abteilung Hallervorden wegen der Bombenangrif- fe auf die Reichshauptstadt von Berlin- Buch nach Dillenburg verlegt. Nach eige- nen Angaben hatte Hallervorden bis zu diesem Zeitpunkt „697 Gehirne erhalten einschließlich derer, die ich einmal in Brandenburg selbst herausgenommen habe“. (6) Jürgen Peiffer gelangt zu dem Ergebnis, dass von den 1 179 von 1939 bis 1944 in den Abteilungen Hallervorden und Spatz untersuchten Gehirnen 707 si- cher oder wahrscheinlich von „Euthana- sie“-Opfern stammten. (7) Aus einem Aktenvermerk aus der Landesanstalt Görden vom Juli 1945 geht hervor, dass Hallervorden noch zu diesem Zeitpunkt – die Rote Armee hatte die Anstalt längst besetzt – Material aus der Prosek- tur in Brandenburg-Görden erhielt. Der Krankenmord hatte ein Ende gefunden, die Begleitforschung lief jetzt erst richtig an. (8)

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 1240–1245 [Heft 19]

Literatur

1. Faulstich H: Hungersterben in der Psychiatrie 1914–

1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie. Frei- burg: Lambertus 1998; 582.

2. Schneider C: Schlussbemerkungen. Wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Zukunft der psychiatrischen Therapien. Bundesarchiv Berlin, R 96 I/9.

3. Knaape HH: Euthanasie in der Landesanstalt Görden 1939–1945. Vortrag, gehalten auf der Fachtagung „,Eu- genik‘ und ,Euthanasie‘ im so genannten Dritten Reich“.

Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Lobetal 28.10.–01.11.1989; unveröffentlichtes Manuskript: 6.

4. Peiffer J: Hirnforschung im Zwielicht: Beispiele verführ- barer Wissenschaft aus der Zeit des Nationalsozialismus.

Julius Hallervorden – H. J. Scherer – Berthold Ostertag.

Husum: Matthiesen 1997; 37.

5. Bundesarchiv Berlin, 4991 – alt R 21 – 11065.

6. Aktennotiz Hallervorden, BA Berlin, R 96I/2.

7. Peiffer J: Neuropathologische Forschung an „Euthana- sie“-Opfern in zwei Kaiser-Wilhelm-Instituten. In: Kauf- mann D, ed.: Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Per- spektiven der Forschung. Göttingen: Wallenstein 2000;

667–698.

8. Dazu jetzt grundlegend: Peiffer J: Assessing Neuropatho- logical Research carried out on Victims of the „Eutha- nasia“-Programme. In: Medizinhistorisches Journal 1999; 339–356 [Heft 34].

Anschrift des Verfassers:

Priv.-Doz. Dr. Hans-Walter Schmuhl Am Sportplatz 28

33619 Bielefeld T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 19½½11. Mai 2001 AA1245

Wie viele andere Wis- senschaftler wies Hallervor- den nach dem Krieg jegliche schuld hafte Verstrickung in die NS-Verbrechen von sich. Wertvolles Material wäre der For-

schung verloren gegangen, hätte er das Angebot ausgeschlagen, die Gehirne der „Euthanasie“-Opfer untersuchen zu können.

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