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Archiv "„Als Arzt protestiere ich...“" (27.04.1984)

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„Als Arzt protestiere ich..."

Wegen seiner Proteste gegen den politischen Mißbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion verbüßt der sowjetische Psychiater Dr. Anatolij Korjagin seit 1981 eine lange Haftstrafe. Dr. Korjagin war im Westen bekanntge- worden durch einen aus der Haft geschmuggelten offenen Brief an die Ärz- te der Welt und durch eine ausführliche Darstellung des politischen Miß- brauchs der Psychiatrie in der Sowjetunion, die zuerst im „Lancer er- schien und die auch im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT veröffentlicht worden ist (Heft 48/1982).

Bis zu seiner Verhaftung im Februar 1981 war Dr. Korjagin an der Psychia- trischen Klinik in Charkow tätig. Seit Ende der siebziger Jahre beteiligte er sich an den Aktivitäten einer in Moskau gegründeten „Arbeitskommission zur Untersuchung des Mißbrauchs der Psychiatrie zu politischen Zwek- ken", deren Mitglieder sich neben der Informationstätigkeit auch darum bemühen, politische Opfer der amtlichen sowjetischen Psychiatrie zu un- terstützen. Nach Feststellungen der Deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (Kaiserstraße 72, 6000 Frankfurt/Main) sind außer Dr. Korjagin die folgenden Mitglieder dieser Kommission zu Haftstrafen verurteilt worden: Alexander Podrabinek, Arzthelfer; Irina Griwnina, Programmiererin; Wjatscheslaw Bachmin, Mathematiker; Dr.

Leonard Ternowskij, Röntgenarzt; Felix Serebrow, Arbeiter und Schrift- steller.

Der hier in Übersetzung und leicht gekürzt wiedergegebene Brief von Dr.

Korjagins Ehefrau Galina an Freunde im Westen wurde am 30. Dezember 1983 geschrieben. Falls Sie sich weiter informieren oder an der Hilfsaktion für Kollegen Korjagin beteiligen wollen, schreiben Sie bitte an Dr. med.

Reinhard Gnauck, Int. Gesellschaft für Menschenrechte, Kaiserstraße 72, 6000 Frankfurt/Main.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

BLICK ÜBER DIE GRENZEN

Brief von Galina Korjagina an Freunde im Westen

Am 2. September konnte ich Ana- tolij besuchen. Es war ein zwei- stündiger allgemeiner Besuch.

Wir sind alle zusammen hingefah- ren — die Kinder, die Mutter und ich*). Dieses Wiedersehen fand statt nach 9 Monaten Schweigen von Anatolij. Wie ich bereits ge- schrieben habe, erhielt ich auf al- le meine Gesuche und Anfragen an die verschiedenen Instanzen, an die ich mich wiederholt ge- wandt hatte, darunter auch an den Leiter des Gefängnisses, nur nichtssagende Phrasen.

Im Mai fuhr ich nach Tschistopol.

Ich dachte, daß ich vielleicht an

Ort und Stelle etwas erfahre, aber außer einer steinernen Mauer und Stacheldraht (im konkreten und übertragenen Sinn) habe ich nichts gefunden. Und plötzlich, Ende August, erhielten wir von Anatolij einen kurzen einseitigen Brief mit der Einladung zum Be- such. Ohne irgendwelche Gesu- che und Absprachen mit der Ver- waltung fuhren wir los, und man genehmigte uns den Besuch. Ich weiß nicht, was ich über dieses Wiedersehen schreiben soll. Es verging wie ein Traum oder gar ich weiß nicht was. Neun Monate keine einzige Zeile von ihm zu er- halten, nicht zu wissen, was mit

*) Es handelt sich um die drei Kinder Dr. Kor- jagins und seine Mutter.

ihm ist, und ihn dann nach fast dreijähriger Trennung plötzlich wiederzusehen. Als wir uns wie- dersahen, ich kann Dir meine see- lische Verfassung nicht beschrei- ben, dieses Durcheinander der Gefühle, die Wiedersehensfreude (wenn man es so bezeichnen kann), Kummer, die Erkenntnis des Augenblicks dieser Begeg- nung.

Der Anblick der schrecklichen (!) Bedingungen, unter denen er sich dort befindet, und besonders sein Gesundheitszustand und sein Aussehen. Ich war wohl eine Stun- de lang unfähig zu sprechen. Mei- ne Kehle war verkrampft, und um nicht in Tränen auszubrechen, sprach ich nicht. Ich konnte nicht sprechen, ich versuchte nur, die- sen Kloß im Hals, der mich würg- te, hinunterzuschlucken ... Ich schaute nur.

Anatolij ist ganz aufgedunsen.

Wie er mir sagte, sind dies Eiweiß- ödeme, einfach Hungerödeme.

Wie ich jetzt weiß, hatte er damals gerade sechseinhalb Monate Hungerstreik hinter sich, er wurde mit einer Sonde zwangsernährt.

Äußerlich hielt er sich gut, noch immer genauso unbeugsam und standhaft. Es war keine Niederge- schlagenheit, keine Fassungslo- sigkeit zu spüren. Er sagte, er sei sich und seinen Überzeugungen treu geblieben, er bleibe der, der er sei.

Am Ende unseres Besuches er- zählte ich ihm von seiner Wahl zum Ehrenmitglied des Weltver- bandes der Psychiatrie und über alles andere, was Ihr mir in Eurem letzten Brief geschrieben habt. Er hat nach Euch gefragt, ob Ihr noch schreibt. Er bat mich, Ihnen herzliche Grüße auszurichten. Au- ßerdem bat er darum, in seinem Namen allen Psychiatern für die Wahl zum Ehrenmitglied durch den Weltverband der Psychiatrie und andere Vereinigungen der Psychiater zu danken.

Ich bitte Euch, diesen Dank auszu- richten.

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 17 vom 27. April 1984 (41) 1347

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Mitteilungen

von Dr. Korjagin aus der Haft Veröffentliche alles in der Presse! Am Tag der Erklärung der Menschenrech- te habe ich eine Erklärung an das Prä- sidium des Obersten Sowjet' gerich- tet, worin ich mitteile, daß ich mich weigere, Nahrung zu mir zu nehmen, die unterhalb der Norm des physiolo- gischen Minimums liegt (im Karzer und bei strengem Regime). Gesetze, nach denen Gefangene mit Hunger gequält werden, habe ich als Arzt für verbrecherisch erklärt. Ich wurde in den Karzer geworfen und grausam mißhandelt. Am 11. Januar erklärte ich meine Weigerung, in einer bol- schewistischen Folterkammer zu le- ben. 6 Monate und 2 Wochen habe ich gehungert. Ich wurde zwangser- nährt. Man folterte mich physisch und psychisch. Mein Leben hing an einem seidenen Faden. Auf Drängen von Freunden hin beendete ich den Hungerstreik am 25. Juli. Bringe über die Presse allen meinen Dank für die Wahl zum Ausdruck. Ich bleibe mei- ner Pflicht als Arzt, den Idealen des Humanismus und der Gerechtigkeit treu.

Man muß Krach schlagen wegen des neuen Artikels 188, nach welchem

man uns bereits als böswilligen Ge- setzesbrecher (ein willkürlicher Be- griff) mit einer zusätzlichen Haftstrafe von bis zu 5 Jahren droht. Am Tag des politischen Gefangenen sind 13 Personen in den Hungerstreik getre- ten: ich, Altunjan, Schtscharanskij, Niklus, Poresch, Kalinitschenko und andere.

Der Terror wurde verstärkt. Man wird bestraft für die Weigerung, mit dem KGB zu sprechen, für Hungerstreik, Beschwerden, Arbeit. Ich, Altunjan und andere wurden für 2 Monate zu strengem Regime mit reduzierter Es- sensnorm verurteilt. Ich bin für diese Zeit in Hungerstreik getreten. Als Arzt protestiere ich gegen die verbrecheri- schen sowjetischen Gesetze, nach denen Gefangene durch Hunger ge- foltert werden. Dies ist ein Verbre- chen gegen die Gesundheit und das Leben der Menschen. Teilt dies in meinem Namen den Ärzten in aller Welt mit: So kämpfe ich für das Recht auf Gesundheit und Leben. Über ihre Unterstützung würde ich mich freuen.

Dr. Anatolij Korjagin Postfach UE-148/st-4

Tschistopol, Tatarische ASSR 422950-UdSSR

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Dr. Anatolij Korjagin

Wanja*) hat angefangen zu arbei- ten. Das war für mich ein großes

Problem, kein materielles, nein, aber es ist jetzt besser für ihn zu arbeiten, sonst könnte es ein Un- glück geben. Im Zusammenhang mit allem, was bei uns passiert ist, hat er die Schule vernachlässigt, ja, und richtig lernen konnte er auch nicht mehr aufgrund der un- normalen Situation in der Schule.

Nun, und ich habe es wahrschein- lich nicht rechtzeitig vermocht, ihm alles zu erklären, ihn zu len- ken. All sein kindlicher Negativis- mus reagierte wie ein Schutz- schild auf die Hetze, die in der Schule gegen ihn veranstaltet wurde, und äußerte sich in Erbit- terung und Zynismus. Auf alle „er-

*) Sohn von Dr. Korjagin; Wanja = Koseform von Iwan.

zieherischen" Maßnahmen der Lehrer reagierte er mit Grobheit und Spott, wahrscheinlich nur, um irgendwie seinen Protest zum Ausdruck zu bringen gegen ihre Ungerechtigkeiten und gegen die Ungerechtigkeit überhaupt. Wahr- scheinlich auch deshalb, weil er keine Möglichkeit hatte, sich mit seinen zwölfeinhalb Jahren an- ders zu verteidigen.

Die Lehrer hatten die Schüler der Klasse gegen Iwan aufgebracht. In ihrer kindlichen Naivität verurteil- ten sie Iwan, beleidigten und be- schimpften ihn, machten ihm sei- nes Vaters wegen Vorwürfe, wofür Iwan sich mit ihnen prügelte, be- sonders erbittert, wenn es um sei- nen Vater ging. Vor den Augen al- ler in der Schule zerriß er sein Pio- nier-Halstuch, warf es hin und sagte: „Ich will nicht so ein Pio- nier wie Pawlik Morosow sein, und werde nicht wie er meinen Vater verraten. Und sein Großva- ter hat richtig gehandelt, als er ihn erschossen hat." Du kannst Dir vorstellen, was danach los war: al- le möglichen Gespräche, kollekti- ve Verurteilungen, Ausschluß bei der Pionier-Versammlung ... Wie viele „schöne" Worte, (darüber) wieviel Material man für seine Ausbildung zur Verfügung gestellt habe, sie hätten sich bemüht.

Aber das Resultat ist für mich be- klagenswert. Iwan ist letztendlich ohne Ausbildung geblieben, ver- bittert und hart. Ich habe prak- tisch keine Zeit, mich mit seiner Erziehung zu beschäftigen, ich sehe ihn nur wenig. Entweder ist es der Beruf oder die Hausarbeit;

auch die Beschaffung der Lebens- mittel kostet mich viel Zeit, und überhaupt gibt es viel zu tun, wenn man alles selber machen muß. Alles kann man nicht in ei- nem Brief schreiben, da müßte man lange und viel schreiben. Ich schreibe nur soviel, daß Iwan jetzt mit mir im Betrieb arbeitet, in der gleichen Abteilung, in der glei- chen Schicht. Vorläufig arbeitet er nur viereinhalb Stunden, aber am 31. Januar wird er 16, und dann ist seine Arbeitszeit nur eine Stunde kürzer als meine, solange, bis er 18 Jahre alt ist. Er wird als Relais- Mechaniker arbeiten, in einer sau- beren Werkstatt, in einem weißen Kittel und Käppchen . .

Anschrift der Verfasserin:

Galina D. Korjagina UI. Posnanskaja 10, kw. 39 Charkow, Ukraine

310111-UdSSR Anatolij

Korjagin Foto:

IGFM

1348 (42) Heft 17 vom 27. April 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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