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ie Arzneimitteltherapie von Schwangeren und Stillenden ist immer noch ein schwieriges The- ma, weil bei einer großen Zahl der heu- te angebotenen Arzneimittel keine oder unzureichende Daten für den Menschen vorliegen. Dies führt bei vie- len Ärzten zur Verunsicherung, geför- dert durch die häufig irreführenden Ri- sikoklassifizierungen, beispielsweise in der Roten Liste oder in Beipackzetteln.In der Praxis resultieren daraus sowohl ein Vorenthalten notwendiger Therapie als auch eine unangemessene invasive Diagnostik und auch der Abbruch er- wünschter und intakter Schwanger- schaften aufgrund überhöhter Risiko- wahrnehmung nach bereits erfolgter Arzneimitteltherapie.
Eine Diskussion um klinische Studi- en zur Verbesserung der Arzneimittel- kenntnisse, wie sie auch im Deutschen Ärzteblatt geführt wurde (1), muss zwi- schen Teratogenitätsstudien und Studi- en zur Optimierung einer Therapie dif- ferenzieren.
Teratogenitätsstudien
Infrastrukturen zur Erfassung von Schwangerschaftsverläufen nach Arz- neimittelexposition sind bereits jetzt ausreichend vorhanden, müssen jedoch weiter optimiert werden. Zu diesen Ressourcen zählen Informations- und Dokumentationszentren zur Arzneian- wendung in Schwangerschaft und Still- zeit wie die im European Network of Teratology Information Services (ENTIS) und in der amerikanischen Organization of Teratogen Information Services (OTIS) kooperierenden tera- tologischen Zentren. Zahlreiche multi- zentrische prospektive kontrollierte Ob-
servationsstudien dieser Zentren haben bereits einen erheblichen Beitrag zur Arzneimittelsicherheit bei Schwange- ren geleistet. Diese Daten zusammen mit Ergebnissen retrospektiver Unter- suchungen aus Fehlbildungs- und Ge- burtsregistern stellen heute die eigentli- che Basis des Wissens über die Präna- taltoxikologie des Menschen dar. Sie sind keineswegs nur „ergänzende Ele- mente“ wie Biller-Andorno und Wild in einem Beitrag im Deutschen Ärzteblatt (1) meinen. Beispielsweise werden in der Berliner Beratungsstelle für Em- bryonaltoxikologie in Zusammenarbeit mit anderen ENTIS-Zentren seit zwölf Jahren Verläufe exponierter Schwan- gerschaften ausgewertet, und zwar so- wohl in prospektiven Kohorten-Studien als auch durch Prüfung der biologi- schen Plausibilität bei retrospektiv er- fassten Fallberichten (unerwünschte Arzneimittelwirkungen – UAWs). Mit der nicht nur wirtschaftlich günstigen Verknüpfung von Beratung und Phar- makovigilanz bietet sich die Gelegen- heit, auch seltene und (potenziell) pro- blematische Arzneistoffe hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die vorgeburtli- che Entwicklung zu erfassen und zu be- werten, weil gerade wegen dieser Sub- stanzen Kontakt zu den genannten In- stitutionen aufgenommen wird.
Es gibt nur sehr wenige Arzneimittel, bei denen der erheblich größere Auf- wand spezieller klinischer Studien ei- nen Erkenntniszuwachs für die „fetale Sicherheit“ bringt und die daher ethisch und ökonomisch gerechtfertigt erschei- nen. Zur Präzisierung entwicklungsto-
xischer Kenntnisse sollten in Zukunft vermehrt
– kleine und verborgene angeborene Anomalien sowie Funktionsdefizite be- achtet und
– pharmakogenetische Besonderhei- ten ermittelt werden, die zum Beispiel erklären, warum „schwache“ Teratoge- ne nur bei einigen wenigen Frauen/Em- bryonen schädigend wirken.
Beides lässt sich auf der Basis bereits bestehender Strukturen aus teratologi- schen Zentren und Geburtsregistern realisieren.
Therapie-Studien
Ein wohl definierter Nutzen sowie ein minimales Risiko für Mutter und Fetus sollten Voraussetzung für Therapie-Stu- dien sein. Eine Exposition von Mutter und Fetus zu wissenschaftlichen Zwek- ken, zum ausschließlichen Nutzen für an- dere (Schwangere oder Feten) ist nicht zu rechtfertigen.
Biller-Andorno und Wild (1) bekla- gen „mangelnde Gerechtigkeit“ und Missachtung der „Autonomie“ Schwan- gerer, die deren Ausschluss aus klini- schen Studien und infolgedessen eine
„Stagnation der Behandlungsperspekti- ve“ bedingen. Das Problem ist jedoch vielmehr die unzureichende Nutzung schon vorhandener Datenquellen und Informationsmöglichkeiten. Wie lässt sich die Situation kurzfristig verbessern?
Zunächst liegen zu den meisten bei Schwangeren und Stillenden vorkom- menden Erkrankungen ausreichende Therapieempfehlungen vor. Sie erlau- ben bereits jetzt die Auswahl erprobter, das heißt wirksamer und für die Em- bryonalentwicklung verträglicher Arz- neimittel (zum Beispiel 2).
T H E M E N D E R Z E I T
Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 423. Januar 2004 AA165
Arzneimittelforschung an Schwangeren
Liberalisierung nicht erforderlich
Die zur Verfügung stehenden Datenquellen sollten optimal
ausgewertet und der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Christof Schaefer1, Horst Spielmann2, Klaus Vetter3
1Fachbereich Embryonaltoxikologie, Berliner Betrieb für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben
2Bundesinstitut für Risikoabschätzung, Berlin
3Klinik für Geburtsmedizin, Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin
Therapieempfehlungen müssen lau- fend überprüft werden. Doch nur schwangerschaftsspezifische und fetale Erkrankungen erfordern die Beteili- gung Schwangerer an klinischen Studi- en, die auch die Verträglichkeit für das Ungeborene erfassen müssen und mög- lichst in Kooperation mit teratologi- schen Zentren vorgenommen werden sollten. Beispiele sind Studien zur Be- handlung von Hyperemesis, vorzeitigen Wehen, Hypertonus, Diabetes, zur Prävention einer Präeklampsie mit Low-dose-Acetylsalicylsäure, zu antire- troviralen Medikamenten für die Be- handlung der Mutter und zur Verhütung einer vertikalen HIV-Transmission.
Zusätzliche pharmakokinetische Da- ten lassen sich beispielsweise über Pla- zentaperfusionsmodelle gewinnen, die Aufschluss darüber geben können, wel- che Medikamente zu welchem Anteil die Plazenta überwinden.
Im Kontext mit der Diskussion in den USA und anderen Ländern haben Briggs und Mitarbeiter (3) kürzlich ein Plädoyer für eine Änderung der Zulas- sungsordnung von Arzneimitteln publi- ziert. (Potenziell) Schwangere sollen an klinischen Studien vor der Marktzulas- sung beteiligt werden, wenn zu erwar- ten ist, dass das infrage stehende Mittel nicht selten auch von Schwangeren ein- genommen wird und bisher keine Hin- weise auf Teratogenität vorliegen. Die vorgeschlagenen kombinierten Terato- genitäts- und Therapiestudien scheinen verlockend, weil die Arzneimittelan- wendung verlässlich protokolliert, die Schwangeren besser betreut und Neu- geborene sowie abortierte Feten syste- matisch untersucht werden können.
Abgesehen von den Kosten eines sol- chen Vorgehens, geben die Autoren selbst zu bedenken, dass ihr Vorschlag die Marktzulassung erheblich verzö- gern würde, weil eine den statistischen Anforderungen genügende Anzahl Schwangerer abgewartet werden müss- te. Dies ließe sich beschleunigen, wenn man bevorzugt Schwangere mit dem neuen Mittel behandelte, um auf diese Weise in kurzer Zeit statistisch relevan- te Fallzahlen zu errreichen.
Källén (4) hat als Reproduktionsepi- demiologe schon in den 80er-Jahren den nicht ernst gemeinten Vorschlag ge- macht, neue Arzneimittel primär auch
Schwangeren zu verordnen. Die Ge- samtzahl der durch ein neues Teratogen geschädigten Kinder wäre dann gerin- ger, weil die „zeitlich konzentrierte“
Exposition (und Schädigung) von Feten nach Marktzulassung den Nachweis ei- ner (kausalen) Assoziation erleichtert.
Neue Produkte stellen oftmals Pseu- doinnovationen dar, die entwickelt wurden, um Marktsegmente zu sichern beziehungsweise dem Patentverfall zu begegnen. Deshalb ist keineswegs bei jedem neuen Mittel ein Fortschritt für den Patienten gegenüber bewährten Produkten anzunehmen. Für neue Arz- neimittel sollte daher zunächst an Nichtschwangeren ein erheblicher the- rapeutischer Vorteil nachgewiesen wer- den, ehe man sie für Schwangere und Stillende freigibt. Bis dahin muss die be- währte Maxime gelten, Frauen im re- produktionsfähigen Alter ausschließ- lich mit lange eingeführten und gut er- probten Mitteln zu behandeln.
Briggs und Mitarbeiter schlagen vor, die Haftung der Hersteller bei dem von ihnen vorgeschlagenen neuen, wesent- lich kostspieligeren Zulassungsverfah- ren zu begrenzen. Wenn zum Beispiel entgegen den Ergebnissen der klini- schen Zulassungsstudien mit Schwan- geren später, nach der Zulassung, den- noch Entwicklungsschäden nachgewie- sen werden, soll die Verantwortung der Hersteller dafür eingeschränkt werden.
Die bisherigen Erfahrungen in der kli- nischen Teratologie haben aber gezeigt, dass von einzelnen Studien keine end- gültigen Ergebnisse zu erwarten sind.
Das Spektrum möglicher anatomischer und funktioneller Schäden ist breit und kann nicht mit ein oder zwei Studien abschließend beurteilt werden. Der Kenntnisstand zu den einzelnen Arz- neimitteln unterliegt einem allmähli- chen Präzisierungsprozess, der nicht durch ein erweitertes Zulassungsver- fahren (ethisch verantwortlich) ersetzt werden kann.
„Informierte Zustimmung“
und „Autonomie“
Der von Briggs et al. (3) und Biller-An- dorno und Wild (1) benutzte Begriff der „informierten Zustimmung“ („in- formed consent“) der Schwangeren als
Schlüssel zur Teilnahme an klinischen Studien muss kritisch hinterfragt wer- den. Dieses Kriterium ist ebenso pro- blematisch wie die „Risiko-Nutzen-Ab- wägung“, weil selbst die beteiligten Fachkollegen mit der Interpretation ex- perimenteller oder epidemiologischer Daten häufig überfordert sind. Der Schwangeren darf nicht die Verantwor- tung für ein Experiment übertragen werden, das sie nicht ausreichend beur- teilen kann. Der Verweis auf die Gleich- behandlung von (schwangeren) Frauen bedeutet, die potenziell riskante Erfor- schung von fraglich nützlichen Arznei- mitteln mit einem emanzipatorischen Anspruch zu rechtfertigen.
Fazit
Es besteht derzeit kein Grund, die ethi- schen Vorbehalte gegen eine „Arznei- mittelforschung an Schwangeren“ zu revidieren – insbesondere deshalb nicht, weil die zur Verfügung stehenden Datenquellen ausreichend über Wirk- samkeit und Risiken von Arzneimitteln in der Schwangerschaft informieren könnten. Diese wurden bisher aber we- der optimal ausgewertet noch der Fachöffentlichkeit in befriedigender Weise zugänglich gemacht. Hier besteht Handlungsbedarf. Der mit Bundesmit- teln geplante Ausbau der Berliner Be- ratungsstelle für Embryonaltoxikologie zu einem Pharmakovigilanzzentrum ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die dort gesammelten Therapieprotokolle und UAW-Meldungen können, aufbe- reitet mit den Daten anderer europäi- scher Zentren, den Umgang mit vorge- burtlichen Arzneirisiken erheblich ver- bessern.
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2004; 101: A 165–166 [Heft 4]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit0404 abrufbar ist.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Christof Schaefer (korrespondierender Autor) Fachbereich Embryonaltoxikologie
Berliner Betrieb für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben Spandauer Damm 130, Haus 10, 14050 Berlin E-Mail: schaefer@embryotox.de
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A166 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 423. Januar 2004