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Archiv "Kritische Phasen des Kindesalters" (28.08.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen TAGUNGSBERICHT

Zur grotesken gesellschaftlichen Szenerie der Gegenwart gehört die Tatsache, daß im „Jahr der Frau"

700 000 berufstätige Mütter 800 000 Kindern die Chancen einer natürli- chen frühkindlichen Entwicklung erschweren, und dies im „Jahrhun- dert des Kindes". Die Emanzipa- tion der Frau gefährdet das Kind als Garanten der Zukunft. Und die- ses Kind hat für seine Rechte keine Lobby, was zum Beispiel ablesbar ist am Bildungsratmodell 1970, das auf 700 Seiten neun Zeilen der frühkindlichen Erziehung vom 1.

bis 3. Lebensjahr einräumt. Die Kinderfeindlichkeit des 20. Jahr- hunderts ist akten- und offenkun- dig.

Indessen bestätigen immer mehr und immer sicherer die Ergebnisse der Forschungen von Verhaltens- biologie und Tiefenpsychologie die Wichtigkeit der frühkindlichen Er- ziehung hautnahe der Mutter und in der Familie. Die neuesten Er- kenntnisse verdeutlichen, daß die Entwicklung vom hilflosen Neuge- borenen, wehrlos und sprachlos, zum sprechenden Kind einen wei- teren Weg darstellt als vom Schul- knaben zu einem Newton.

Schon seit Hufeland sollte die früh- kindliche Erziehung ein „Epoche- thema" sein, das Kind kein Spe- zialthema, sondern das Grundthe- ma von Medizin, Pädagogik und Soziologie. Der Stand der heutigen Pädiatrie zeigt jedoch, daß die all- gemeine Kinderforschung noch in den Anfängen steckt. Schon Czer- nys Pädiatrie als Heilkunde am Kind, als Trainingslehre des Ner- vensystems und als Lehre von der gesunden Ernährung des Kindes hat den Blick auf das Ganze zwei-

fellos eingeengt, aber sicher nicht mehr als eine heute sich so beson- ders modern gebärdende wissen- schaftliche Pädiatrie als „Bioche- mie eines bestimmten Lebensal- ters". Das Bewußtsein von der kri- tischen Situation der Wissenschaft vom Kind fordert zwingend die Teamarbeit von Pädiatrie, Soziolo- gie und Psychiatrie. Gemeinsame Überlegungen führen dann zu der Erkenntnis, daß „die Erwachsenen heute noch nicht zum Erziehen er- zogen sind". In interdisziplinärer Übereinstimmung wird kaum noch bestritten, daß Träger der Früher- ziehung zunächst die Mutter und erst vom Ende des ersten Lebens- jahres an auch der Vater, ältere Geschwister oder andere Bezugs- personen des engsten Lebensbe- reiches sein sollen. Unbestritten ist auch die Meinung, daß die häu- fig überschätzte Mitwirkung der

„Fachleute" in der Früherziehung sich auch heute lediglich auf Kurs- korrekturen des Verhaltens der El- tern gegenüber den Kindern be- schränken sollte.

Durch eine Vielzahl von Untersu- chungen ist heute belegt, daß die geistig-seelische Gesamtentwick- lung eines jeden jungen Kindes entscheidend vom Erziehungsein- fluß der Eltern in der ersten Le- benszeit abhängig ist. Das Klein- kind ist für die Strukturierung sei- ner Wahrnehmungen, insonderheit des Lernens, auf eine zeitlich aus- reichende tägliche Interaktion mit zumindest einer liebevoll zuge- wandten stabilen elterlichen Haupt- bezugsperson elementar angewie- sen. Der Verlust oder die Ein- schränkung an derartiger persona- ler Zuwendung durch ungenügen- den Zeitaufwand oder durch unsta-

In ihrer XXVII. Jahrestagung in Augsburg Ende Mai hat die „Katholische Ärztearbeit Deutschlands" sich in die- sem Jahre mit der Situation des Kindes in unserer Gesell- schaft befaßt. Dabei zeigte sich, daß die ärztliche Aufga- be gegenüber dem Kind sich nicht nur in pädiatrischer Be- treuung erfüllt, sondern daß die Ärzte aus ihrer Kenntnis der sich immer mehr er- schwerenden Lebensbedin- gungen des Kindes in unse- rer Gesellschaft Ratschläge, ja Forderungen erarbeiten müssen, um auch in dieser Umgebung dem Kind ein möglichst gesundes psychi- sches und auch physisches Wachstum zu ermöglichen.

bile Wechselbetreuung führen je nach Ausmaß und Dauer zu schwe- ren Schädigungen im Sinne ei- nes sogenannten Deprivationssyn- droms. Die moderne Still-Feindlich- keit, Bequemlichkeit und Not von Mutter und Klinik, führen zur Schä- digung des Bindungstriebes durch das Verpassen des Blick-Kontaktes beim Stillen und auch Füttern bis zum Verpassen der Prägungsphase in der Betreuung durch die eine pflegende Person. Ein Wechsel dieser Bezugsperson innerhalb des ersten Lebensjahres verursacht nicht selten verheerende Orientie- rungsschäden, Stereotypien als An- omalien wie Polyurie, Tiefschlaf, psychogene Enuresis. Säuglings- heime und Kinderkrippen sind Quellen der Bindungslosigkeit von immer mehr Menschen mit allen sozialen bzw. asozialen Folgen in der Schulkindphase, Adoleszenz und im Erwachsenenalter. Uner- setzlich ist die Familie als erzie- hungsbegleitender Hintergrund.

Den Umgang mit Menschen soll das Kind viel weniger in Bildungs- institutionen als in der Familie er- lernen. Hilfe gebührt vorrangig den jungen Eltern und nicht pädagogi- schen Institutionen. Nicht Tages-

Kritische Phasen des Kindesalters

XXVII. Jahrestagung der Katholischen Ärztearbeit Deutschlands 1975

Hannes Sauter-Servaes

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 35 vom 28. August 1975 2411

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen Katholische Ärztearbeit

Mütter-Projekte, sondern die Müt- ter in den ersten 15 Monaten soll- ten honoriert werden. Sicherung des familiären Lebensraumes nach innen ist für die Gesellschaft min- destens ebenso wichtig wie ihre Si- cherheitsgewähr nach außen.

In diesem Zusammenhang muß aber auch die Rede sein von der verstärkten Ungeborgenheit bzw.

den intentionalen Lücken in früher Kindheit auch in der leidlich intak- ten Familie, die durch Zivilisations- vorgänge bedingt sind. Die Zivilisa- tion mit ihrem Januskopf wird für viele Kinder Freud und Leid zu- gleich. Unbestreitbar ist der enor- me Erfolg des zivilisatorischen Fortschritts in seinem Einfluß auf die beachtliche Senkung der Quote der Säuglings- und Kindersterb- lichkeit. Die revolutionären techni- schen Veränderungen, denen wir diese Entwicklung verdanken, brachten aber auch bedenkliche Verschiebungen in der Familien- und Gesellschaftstruktur, welche eine bezugsgerechte Erfüllung kindlicher Grundbedürfnisse in de- ren Karriere vom sinnerfüllten Rei- fen zum Erfolgsstreben erheblich gefährden. Der Mangel an Elastizi- tät der Umwelt mit ihren eigenen Nöten verstärken die Bedürfnis- spannungen von Eltern und Kin- dern. Darüber hinaus werden diese Spannungen durch ein Güterüber- angebot noch gesteigert. Verwöh- nung und Verwahrlosung liegen nahe beisammen. Die Schäden durch Familienferne bei Kleinkin- dern, deren Fehlentwicklung sich im wesentlichen zwischen Bett, Tisch und Topf abspielt, vermehren sich mit dem kinderfeindlichen Wohlstandsdenken. Schlafstörun- gen, Ängste, Speistörungen bei Säuglingen, aggressive Unruhe (Kopf durch die Wand!), Kontaktar- mut, Depressionen, nächtliches Aufschreien, vermehrte Masturba- tion finden hier eine zwingende Er- klärung. Als Zivilisationsschaden für das Schulkindalter ist der Fern- sehkonsum, auch in seiner Abreak- tions- oder Lerntheorie, kaum mehr umstritten. Die Bereitschaft des Kindes zur Annahme einer Welt mit vermehrter und krimineller Aggres-

sion als Norm bedingt die Möglich- keit eines unheilvollen zukunfts- trächtigen sozialen Störfaktors.

Ein Zivilisationsphänomen ist aber auch der Entwicklungswandel, vor allem im Sinne der Akzeleration, gleichgültig ob er Folge eines Ur- banisierungstraumas oder der heute veränderten Ernährung ist. Die Konsequenzen dieses säkularen Geschehens im Hinblick auf ge- staltliche, funktionelle und see- lisch-geistige Wandlungen sind er- heblich.

Alle Überlegungen über „kritische Phasen des Kindesalters" münden eigentlich in die Erkenntnis, daß die Zunahme des Leidensdrucks der Kinder an den Eltern, der El- tern an den Kindern, der Ärzte und Pädagogen an den Kindern ein sol- ches Maß angenommen hat, daß es höchste Zeit wird, diese Thematik in die Politik einzubringen. Mit dem Rüstzeug der Ergebnisse pädiatri- scher, psychologischer, psychiatri- scher und soziologischer For- schung muß die Gesellschaft alar- miert werden. Sie muß plakativ und durch alle Medien erfahren, daß viele Verhaltensstörungen aller Altersstufen sowie Fehlentwicklun- gen und neurotische Verwahrlo- sung ihre Hauptursache in früh- kindlicher Fehlbetreuung in gestör- ten und unvollständigen Familien oder in einer Ersatzbetreuung durch Säuglingsheime, Kinderkrip- pen, Tagesmütterheime und ähnli- che Erziehungssurrogate haben.

Die Ärzte müssen sich aufklärend an die Öffentlichkeit wenden, wo immer sich diese stellt, in klarer Erkenntnis, daß alle Ärztearbeit, also nicht nur die „Katholische Ärztearbeit Deutschlands", zur Ret- tung der Zukunft über das Jahr 2000 hinaus denken muß und nicht nur bis zur nächsten Wahl. Das

„Jahr der Frau", das diese auf die Würde und Bürde ihrer ureigenen Berufung sich besinnen lassen sollte eingedenk der neuesten Aspekte von Verhaltensforschung, Psychiatrie und Psychologie, könn- te da dem „Jahrhundert des Kin- des" einen unersetzlichen Dienst erweisen.

Referenten der Tagung: Prof. Dr.

med. H. Harbauer, Frankfurt, Prof.

Dr. med. M. Hertl, Mönchenglad- bach, Dr. med. Nilburg Kindt, Frei- burg, Frau Christa Meves, Uelzen, Prof. Dr. med. J. Pechstein, Mainz, Klinikpfarrer Dr. Artur Reiner, Hei- delberg, Prof. Dr. med. Eduard Seidler, Freiburg. Moderator der Podiumsdiskussion: Prof. Dr.

Schipperges, Heidelberg.

Tagungsleitung: Dr. Robert Schul- te-Beckhausen, Prälat Dr. S. Szyd- zik und Dr. jur. H. Kurth.

20 Jahre

„Arzt und Christ"

Zum zehnjährigen Bestehen der Zeitschrift „Arzt und Christ" im Juli 1965 würdigte der Wiener Erzbi- schof, Kardinal König, das beson- dere Verdienst dieser Vierteljahr- zeitschrift, da „sie die Zusammen- hänge von Medizin und christlicher Ethik beständig behandelt und die orientierende Bedeutung letzterer für die Fachmedizin wie für das rechte Menschenbild herausstellt".

Inzwischen hat „Arzt und Christ" in zwanzig Jahren als führende Zeit- schrift in Fragen aus dem Grenzbe- reich von Theologie und Medizin, in der Behandlung philosophisch-

medizinisch-juristisch-soziologi- scher Probleme mit weit über 200 Orginalarbeiten namhafter Autoren ihr hohes Niveau bewiesen und sich unentbehrlich gemacht für alle jene, die pastoral-medizinische und anthropologische Themen theore- tisch behandeln und sich praktisch damit befassen. Die von Dr. med.

Alf Riegel und Prälat Bernhard Hanssler 1946 gegründete „Katholi- sche Ärztearbeit Deutschlands" hat in dieser Zeitschrift für ihre alljähr- lichen Pfingstkongresse, deren Er- gebnisse jeweils auch im DEUT- SCHEN ÄRZTEBLATT referiert werden, ein wertvolles Sprachrohr gefunden. Es ist dem Hauptschrift- leiter Doz. Dr. med. Gottfried Roth, der an der Universität Wien die Pa- storalpsychiatrie vertritt, gelun- gen, „Arzt und Christ" zu der Zeit- schrift der katholischen Ärzte in

2412 Heft 35 vom 28. August 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Referenzen

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