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Archiv "Wertebild der Ärzteschaft: Lehren aus einer üblen Vergangenheit" (21.06.1996)

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assen Sie bitte unsere Eröff- nungsmusik („Der Zauberlehr- ling“ des Komponisten Paul Dukas) als Stoßseufzer auf und als Ausdruck der Hoffnung, daß der oder die Meister bald erscheinen mö- gen.“ So begrüßte der Präsident der gastgebenden Ärztekammer Nord- rhein, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Delegierte und Gäste des 99.

Deutschen Ärztetages.

Bereits seit 20 Jahren verschärfe sich die Situation im Gesundheitswe- sen: Knapper werdenden Mittelnstün- den der medizinische Fortschritt sowie die ungünstige demographische Ent- wicklung gegenüber. Auch die Moti- vation der Vertragsärzte verschlechte- re sich angesichts der immer strikteren Bedarfszulassung. Ihnen werde all- mählich die freiberufliche Basis entzo- gen. Die Abschaffung der freien Nie-

derlassung am Ort eigener Wahl führt nach Ansicht von Hoppe dazu, daß der vertragsärztliche Bereich zuneh- mend institutionalisiert wird. Aus ehe- mals mittelständischen Unternehmern drohten langfristig Erfüllungsgehilfen der gesetzlichen Krankenversicherung zu werden. Es gelte nun, den Arztbe- ruf als freien Beruf zu verteidigen:

„Das ist jetzt unsere letzte Chance, wenn wir uns einig sind.“

Die Trias „freie Arztwahl – Nie- derlassungsfreiheit – Einzelleistungs- vergütung“ lasse sich unter den ge- genwärtigen Bedingungen nicht mehr aufrechterhalten. Budgetierung und Bedarfszulassung seien allerdings auch nicht der Weisheit letzter Schluß:

„Wir müssen neue, angemessene Strukturen entwickeln“, betonte Hoppe. Dabei müsse jedoch die Ein- heitlichkeit des ärztlichen Berufs be- wahrt bleiben. Er dürfe nicht in hausärztliche und fachärztliche Beru- fe zerfallen. Das müsse in der Diskus-

Eröffnung

Allerlei Reform-Pläne

Während der Eröffnungsveranstaltung des 99. Deutschen Ärztetags in Köln nutzten Ärz- te und Politiker die Gelegenheit, ihre Standpunkte zur geplanten dritten Stufe der Ge- sundheitsreform noch einmal darzustellen. Mit lang anhaltendem Beifall signalisierten die Delegierten Bundesgesundheitsminister Seehofer, daß die – bisher vorliegenden und bekannten – Pläne der Regierungskoalition auf ihre breite Zustimmung stoßen.

Blick ins Plenum: Der Deutsche Ärztetag – formal die Hauptversammlung der Bundesärztekammer – umfaßt 250 Delegierte. Hinzu kommt eine Heerschar von Gästen.

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sion um die Novellierung der Bundes- ärzteordnung und der Approbations- ordnung bedacht werden.

SPD-Pläne finden wenig Zustimmung In seiner Begrüßungsansprache umriß der nordrhein-westfälische Ge- sundheitsminister, Dr. rer. pol. Axel Horstmann, die gesundheitspoliti- schen Ziele der SPD. Er erntete dafür jedoch nur wenig Beifall. Der Bonner Koalition warf er blinden „Aktionis- mus“ vor, denn kurzfristige Kosten- dämpfungsschritte könnten die anste- henden Probleme langfristig nicht lö- sen. Horstmann hält den prinzipiellen Ansatz der Strukturreform im Ge- sundheitswesen für richtig. Angesichts der begrenzten Mittel müsse die Bud- getierung modifiziert fortgeführt wer- den. Sie dürfe nicht auf einzelne Be- reiche beschränkt werden. Dazu seien jedoch größere Vertragsspielräume zwischen Krankenkassen und Ver- tragsärzten sowie zwischen Kassen und Krankenhäusern erforderlich.

Zum Thema der Verzahnung von ambulantem und stationärem Sektor machte der Landesminister erstmals die inhaltlichen Vorstellungen der SPD unmißverständlich deutlich: Be- stimmte Krankenhausabteilungen

sollten unter Bedarfsgesichtspunkten für die ambulante Versorgung geöff- net und die bisherigen Ermächtigun- gen auf die Institutionen erweitert werden. Gemessen an den Reaktio- nen der Delegierten wird er damit bei der Mehrheit der Ärzte jedoch schwerlich auf Zustimmung stoßen.

Auch die Pläne zur sektoralen Auftei- lung der Kassenärztlichen Vereini- gungen stieß auf erhebliche Kritik.

Für die Stadt Köln begrüßte Wer- ner Scherer, Vorsitzender des Werk-

ausschusses für Kliniken, die Teilneh- mer des Ärztetages. Er betonte, daß die Kommunen verstärkt mit dem Problem der Versorgung sozialer Randgruppen wie Obdachloser oder Drogenkranker konfrontiert seien.

Zwar gebe es einige Modellprojekte zur ärztlichen Versorgung dieser Gruppen, die endgültige Lösung des Problems stehe jedoch noch aus. Er rief zu einer verstärkten Zusammen- arbeit zwischen öffentlichem Gesund- heitsdienst, niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern auf.

Höhepunkt der Veranstaltung war sicherlich die Rede von Bundes- gesundheitsminister Horst Seehofer.

Der starke Beifall des Plenums er- weckte den Eindruck, als sei der

„Meister“ gefunden.

Für Seehofer ist das „Kernpro- blem des deutschen Gesundheitswe- sens“ die unsolidarische Inan- spruchnahme der Solidargemein- schaft Krankenversicherung. Die ak- tuelle Ausgabenentwicklung der Krankenkassen sei erneut besorgnis- erregend: Im Bereich der Gesund- heitsförderung, Seehofer sprach von

„Werbung“, seien die Ausgaben um 22 Prozent gestiegen, für Kuren in den alten Ländern um 10 Prozent und in den neuen Ländern um 27 Prozent.

„Wenn wir dies nicht abstellen“, mahnte der Minister unter starkem Beifall des Plenums, „werden wir bald keine Mittel mehr haben, um die me- dizinisch notwendige Versorgung zu gewährleisten.“

Auf dem heutigen Niveau könne die Sozialversicherung nur verbleiben, wenn alle Beteiligten mehr Eigenver- antwortung übernähmen. Weniger staatliche Lenkung, weniger Wohl- fahrtsdenken, weniger „Vollkasko- mentalität“ seien die Eckpunkte, an denen die Koalition festhalte. „Mehr Versichertenwahlrechte und weniger kollektive Bevormundung“ forderte Seehofer für die Patienten ein. „Mün- dige Bürger“ könnten selbst entschei- den, ob sie beispielsweise die bisherige Form der Abrechnung oder die Ko- stenerstattung bevorzugten.

Die Krankenversicherung selbst müsse Risiken decken, die den einzel- nen überfordern.“ Den „Sumpf von Unsinn“ – beispielhaft nannte er Fußreflexmassage oder Badminton- kurse – werde er beenden, kündigte Präzise Gestik: Horst Seehofer

Die Träger der Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft (von rechts): Karl-Heinz Schriefers, Hans- Stephan Stender, Helmuth Klotz, André Wynen. Links: Karsten Vilmar

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Seehofer an. Die Eingriffe, die das Bonner Sparpaket vorsehe, hält der Minister insgesamt für zumutbar. Es könne nicht von sozialem Kahlschlag oder Sozialraub geredet werden – auch nicht bei der geplanten Einschränkung der Lohnfortzahlung. Seehofer dazu:

„Die Sozialversicherung ist nicht ge- eignet, Arbeitsmarktprobleme zu lö- sen. Eine hundertprozentige Fortzah- lung steht die Gesellschaft mit dieser Altersstruktur nicht durch.“

Mit Blick auf die noch ausstehen- den Gesetze zur dritten Stufe der Ge- sundheitsstrukturreform gab Seeho- fer zu verstehen, daß die Koalition nicht um die „Zustimmung der SPD betteln“ werde: „Es wird keine nutz- losen Konzessionen geben und kei- nen Kompromiß um jeden Preis.“

Unter dem Druck des „Harmonie- terrrors“ seien in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren ungezählte nutzlo- se Reformen verabschiedet worden.

Es könne nicht das Ziel sein, ein Ge- setz zu verabschieden, das in wenigen Jahren durch ein viertes Gesundheits- strukturgesetz ersetzt werden müsse.

Es gehe vielmehr darum, eine dauer- hafte und stabile Grundlage für das Gesundheitswesen zu schaffen.

Dazu gehöre auch das Prinzip der

„gleichlangen Spieße“ in der Selbst- verwaltung von Ärzten und Kranken- kassen. „Wir brauchen die Waffen- gleichheit zwischen den Beteiligten“, stellte der Bundesgesundheitsmini- ster klar. So werde es weder Einkaufs- modelle der Krankenkassen noch ei- ne Zerschlagung der Kassenärztli- chen Vereinigungen geben.

Ebenso bestimmt äußerte sich Seehofer zu der Frage der ambulan- ten und stationären Verzahnung. Eine institutionelle Öffnung der Kranken- häuser sei für ihn nicht akzeptabel.

Eher würde er erwägen, den Sicher- stellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen auf den stationären Sektor auszuweiten. Im Anschluß an die Rede des Bundesgesundheitsmi- nisters eröffnete der Präsident der Bundesärztekammer und des Deut- schen Ärztetages, Dr. med. Karsten Vilmar, mit seinem Grundsatzreferat zur Gesundheits- und Sozialpolitik of- fiziell den 99. Deutschen Ärztetag.

Das Referat ist in diesem Heft im Wortlaut abgedruckt.

Dr. Sabine Glöser/Heike Korzilius

Um „unser Gesundheitswesen auch über die Jahrtausendwende abzusichern“, haben die Delegierten des 99. Deutschen Ärztetages in ei- nem Leitantrag die Aufteilung des Leistungsangebots der Krankenkas- sen in „solidarisch zu finanzierende Leistungen und satzungsgemäße Lei- stungen sowie die Entlastung des Lei- stungskatalogs um krankenversiche- rungsfremde Leistungen“ gefordert.

Zugleich wurde die Bundesregie- rung aufgefordert, „die Prinzipien ei- ner humanen Gesundheits- und Sozi- alpolitik zu bewahren und keine wei- teren Einschnitte in das Netz der so- zialen Sicherung vorzunehmen“. In der von Prof. Dr. Hans Mausbach ini- tiierten Entschließung heißt es weiter, daß es über den Zusammenhang von Krankheit und sozialer Lage keine ge- sicherten Erkenntnisse gebe. Kranke, Behinderte und sozial Schwache bräuchten besonders den Schutz der Sozialversicherung. „Weitere Ein- schnitte in das bewährte System der

Krankenversicherung, ausufernde Selbstbeteiligung und weiteren Sozi- alabbau“ lehnen die Ärzte ab, heißt es in der Entschließung. Dieser Antrag scheint zwar dem Leitantrag der Bun- desärztekammer zu widersprechen, der Ärztetag hat dies jedoch offenbar so nicht gesehen.

Abgabe auf Tabak und Alkohol

Scharfe Kritik übten die Dele- gierten außerdem an der geplanten Reduzierung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das verstoße „gegen die soziale Gerechtigkeit“. Der Deut- sche Ärztetag „teilt die Sorge um die sozialstaatliche Zukunft“, da in Deutschland in den letzten Jahren

„neue soziale Not und neue Armut entstanden seien“. Die Zahl der So- zialhilfeempfänger sei von Jahr zu Jahr gestiegen, betonte Mausbach.

„Diesen Menschen in großer Not muß

Gesundheits- und Sozialpolitik

Sorge um die

sozialstaatliche Zukunft

Verhandlungsführung mit Routine und lockerer Hand: Vilmar (dahinter Hauptgeschäftsführer Prof. Dr.

Christoph Fuchs, rechts Justitiar Horst Schirmer)

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besonders geholfen werden.“ In ei- nem weiteren Beschluß forderten die Delegierten die Bundesregierung auf, eine „zweckgebundene Abgabe auf Tabakwaren und Alkoholika“ einzu- führen. Ein solcher „Gesundheits- pfennig“ könne zusammen mit den entsprechenden Verbrauchssteuern erhoben werden. Die Abgabe müsse vollständig an die Krankenkassen überwiesen werden. Dadurch kämen jährlich rund drei Milliarden DM der

Krankenbehandlung zugute, sagte Dr. med. Frank-Albrecht Huttel, Hes- sen.

Schließlich appellierten die Ärzte die Bundesregierung, „alles zu tun, um eine Ausbreitung der BSE-Seuche zu verhindern“. Zwar bestehe noch keine völlige Klarheit darüber, ob die Rinderseuche BSE auf den Menschen übertragbar ist, doch sprächen die bis- her vorliegenden Ergebnisse und die Meinung namhafter Wissenschaftler

mit großer Wahrscheinlickeit für eine solche Hypothese.

Einer institutionellen Öffnung der Krankenhäuser erteilten die Ärz- tetagsdelegierten ebenso eine klare Absage wie zuvor die Vertreterver- sammlung der Kassenärztlichen Bun- desvereinigung. Ein Streit entzündete sich jedoch an der Frage, ob Kranken- hausärzte mehr als bisher die Möglich- keit erhalten sollen, ambulant Patien- ten zu behandeln. Der Vorstand der Bundesärztekammer hatte in einer Passage des Leitantrags zur Gesund- heits- und Sozialpolitik vorgeschlagen, daß besonders qualifizierte Krankenh- ausfachärzte nach mehr als vierjähri-

ger Tätigkeit nach Überweisung durch einen niedergelassenen Arzt Patienten auch ambulant behandeln dürfen. Ein solches Verfahren würde nach Auffas- sung des Ersten Vorsitzenden der Kas- senärztlichen Bundesvereinigung, Dr.

med. Winfried Schorre, zum „Tod für die Fachärzte in freier Praxis“. Nach einer kontrovers geführten Diskussion einigte sich der Ärztetag darauf, daß persönliche Ermächtigungen „unter Berücksichtigung der Bedarfsfrage und der Notwendigkeit der Überwei- sungen zu fördern sind“ (dazu DÄ Heft 24/1996). Gisela Klinkhammer Mit wachsamem Blick: Dr. Andreas Crusius (links), Prof. Dr. Heinz Diettrich, dazwischen Dr. Elisabeth Hauenstein

Ehrenpräsident: Prof. Dr. Horst Bourmer

Klares Meinungsbild: Eine von Hunderten von Abstimmungen

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D

ie Europäische Gemeinschaft hat sich in Artikel 129 des EG-Vertrags die Aufgabe ge- stellt, europaweit ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzu- stellen. „Was bedeutet das für die Pa-

tienten und unser ärztliches Han- deln?“ lautete deshalb die Frage von Bundesärztekammerpräsident Dr.

med. Karsten Vilmar auf dem 99.

Deutschen Ärztetag. Die Ärzteschaft erwarte von der Politik, aufgrund ih- res Sachverstands in die gesundheits- politische Meinungsbildung einbezo- gen zu werden. Dies sei besonders wichtig, wenn es um Fragen der Ar- beitszeit sowie der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gehe.

Aber auch ärztlich-wissenschaftliche und ethische Fragen dürften nicht rein politisch entschieden werden.

Gewachsene

Strukturen bewahren Außerdem darf es nach Ansicht von Vilmar nicht darum gehen, die Sozialversicherungssysteme der Mit- gliedstaaten zu vereinheitlichen. Das sei aufgrund der großen nationalen Unterschiede weder möglich noch ge- wollt. Könnten jedoch wichtige sozi- alpolitische Probleme nur auf eu- ropäischer Ebene gelöst werden, sei eine Annäherung durchaus sinnvoll.

Die europaweit beschlossenen Maß-

nahmen dürften sich aber nicht nega- tiv auf das deutsche Gesundheitswe- sen oder das geltende Berufsrecht auswirken.

Daß der Gesundheitsschutz der Bevölkerung nicht an den Grenzen halt machen kann, zeigt vor allem die

aktuelle Gefährdung durch die Rin- derseuche BSE. Dr. Sabine Berg- mann-Pohl, Staatssekretärin im Bun- desgesundheitsministerium, räumte ein, daß die europaweit eingeleiteten Maßnahmen zur Kontrolle der Seu- che nicht richtig durchgeführt worden seien. Sie begrüßte deshalb die Ent- schließung des Deutschen Ärztetages, mit der die Bundesregierung und die Politiker der Europäischen Union er- neut aufgefordert werden, ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Interes- sen alles zu tun, was eine Ausbreitung von BSE verhindert. Nach Ansicht

der Staatssekretärin ist es unerläßlich, die Beschäftigten im Gesundheitswe- sen in die Gestaltung der Gesund- heitspolitik einzubeziehen. Sie be- mühte sich außerdem, die Befürch- tungen der Ärzteschaft zu zerstreuen, indem sie bekräftigte, daß es keine Rechtsgrundlage dafür gebe, die un- terschiedlichen Systeme der Gesund- heitsversorgung unionsweit zu verein- heitlichen.

Dr. med. Peter Liese, Mitglied des Europäischen Parlaments, hob die Übereinstimmungen hervor, die es beispielsweise in Fragen der Kenn- zeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel zwischen dem Europäi- schen Parlament und der Ärzteschaft gebe. Mit Rücksicht auf Allergiker müsse eine solche Kennzeichnungs- pflicht durchgesetzt werden. In die- sem Zusammenhang erhob er schwe-

Gesundheits- und Sozialpolitik in der EU

Annäherung statt Vereinheitlichung

Europa rückt auch in der Gesundheits- und Sozialpolitik näher zusammen. Dabei werden Ent- scheidungen getroffen, die – wie die Bioethikkonvention – die Arbeit von Ärzten entscheidend beeinflussen werden. Auf dem 99. Deutschen Ärztetag räumten die Vertreter der Ärzteschaft dem Thema einen eigenen Tagesordnungspunkt ein, um ärztliche Standpunkte darzulegen.

Dr. Peter Liese, Mitglied des Europaparlaments

Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Staatssekretärin im BGM

EU-Kommissar Padraig Flynn

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re Vorwürfe gegen EU-Kommissar Bangemann. Dieser habe ein allzu of- fenes Ohr für die Industrie und stelle mit seinen politischen Auffassungen ein Risiko für die Gesundheit der Eu- ropäer dar. Europaweite gesundheits- politische Richtlinien, die sich auf ärztliche Klinik und Praxis auswirken, kündigen sich auch in anderen Berei- chen der Gen- und Biotechnologie an.

Dabei müsse, so Liese, an unverrück- baren Grenzen festgehalten werden.

„Der Arzt darf nicht alles tun, was technisch möglich ist.“ Deshalb müß- ten Eingriffe in die menschliche Keimbahn und die verbrauchende Embryonenforschung verboten blei-

ben. Ebenso gelte es, ein hohes Schutzniveau für die Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten sicherzustellen. Gerade die deutsche Ärzteschaft trage mit Blick auf die na- tionalsozialistische Vergangenheit ei- ne besondere Verantwortung.

Konzentration auf Kernfragen

Auch EU-Kommissar Padraig Flynn hält es für nötig, die Ärzte in die europäische Gesundheitspolitik einzu- beziehen. Er bekräftigte, ebenso wie seine Vorredner, daß keine Vereinheit-

lichung der Systeme angestrebt werde.

Ziel einer europäischen Gesundheits- politik sei es, die Gesundheit zu för- dern und Krankheiten vorzubeugen.

Dabei wolle man sich auf Kernfragen konzentrieren und sich nicht in Details ergehen. Mittlerweile seien acht Ak- tionsprogramme vorgeschlagen wor- den, darunter Programme zur Be- kämpfung von Krebs, von AIDS und anderen übertragbaren Krankheiten sowie Programme zur Gesundheitsför- derung und -berichterstattung. Bei all dem dürfe jedoch, so Flynn, nicht ver- gessen werden, daß sich eine unions- weite Gesundheitspolitik erst in den Anfängen befinde. Heike Korzilius

D

er Nürnberger Ärzteprozeß hat bereits den ersten Deut- schen Ärztetag nach dem Zweiten Weltkrieg – es war der 51., der 1948 in Stuttgart stattfand – beschäftigt. Damals stand der Be- richt von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke im Mittelpunkt. Unge- fähr fünfzig Jahre nach dem Prozeß behandelte ein Deutscher Ärztetag wiederum die Verstrickungen von Ärzten, aber auch der Ärzteschaft in den Nationalsozialismus.

Der Ärzteprozeß war einer der Nürnberger Nachfolgeprozesse.

Während der bekannte „Nürnberger Prozeß“ gegen die Hauptkriegsver- brecher von den Alliierten gemeinsam durchgeführt wurde, fanden die Nach- folgeprozesse unter amerikanischer Regie statt. Insgesamt waren es 12, der erste war der Ärzteprozeß, weitere Prozesse richteten sich gegen Juristen, Industrielle, Diplomaten, Generäle

und höhere SS-Funktionäre. Dr. phil.

Eberhard Jäckel, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Stutt- gart, informierte auf dem Ärztetag über die Entstehungsgeschichte der Nürnberger Prozesse und machte auf viele noch offene Fragen aufmerksam, etwa: Warum war der Ärzteprozeß der erste? Wie kam es zur Auswahl der Angeklagten? Was waren die internen Überlegungen der Richter? Immerhin lasse sich feststellen: „Es ging nicht um die Rolle der Medizin im Nationalso- zialismus.“ Anklagepunkte waren vielmehr „der gemeinsame Plan oder die Verschwörung“ zur Begehung von Verbrechen, „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlich- keit“, sowie „Mitgliedschaft in verbre- cherischen Organisationen“. Vorran- gig ging es um Verbrechen in den von Deutschland besetzten Gebieten. Ver- brechen, die Deutsche an Deutschen begangen hatten, waren somit nicht

Gegenstand. Deswegen wurde die Euthanasie zwar behandelt, aber dar- über wurde nicht geurteilt. In erster Linie sollten Verbrechen gesühnt wer- den. Jäckel hält die Öffentlichkeit der Prozesse für ihr größtes Verdienst.

Denn sie machten die Verbrechen be- kannt. Sie bewirkten eine Auseinan- dersetzung mit der Vergangenheit.

Jäckel: „Das ist der einzige Vorteil, den uns diese belastende Vergangen- heit bietet, daß wir die Freiheit und die Menschenrechte deswegen mit um so größerer Entschlossenheit verteidigen können, weil wir wissen, daß sie bei uns einmal mißachtet und mit Füßen getreten worden sind“.

Die Rolle von Ärzteschaft und Medizin im Dritten Reich behandelte

Wertebild der Ärzteschaft

Lehren aus einer üblen Vergangenheit

Unter dem Tagesordnungspunkt 2 behandelte der 99. Deutsche Ärztetag „Das Wertebild der Ärzteschaft 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß“. In das Thema führten drei Refe- rate ein: Der Historiker Eberhard Jäckel beschrieb das Zustandekommen und die Zielsetzung des Prozesses, der hessische Kammerpräsident Alfred Möhrle beleuchtete die Rolle der Ärzte im Dritten Reich und die Lehren, die die Ärzteschaft gezogen hat, der Hochschul- mediziner Eckhard Nagel zog Schlußfolgerungen für die heutige Forschung am Menschen.

Prof. Dr. phil. Eberhard Jäckel

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der zweite Referent, der Präsident der Landesärztekammer Hessen, Dr.

med. Alfred Möhrle, in einem gründ- lichen, kritischen Referat. Es sei ein Zusammentreffen vieler Faktoren ge-

wesen, was das Menschenbild des Arztes in der NS-Zeit einschneidend verändert habe. Möhrle stellte einen ganzen Katalog jener Faktoren zu- sammen, der in seiner Konzentriert- heit und Nüchternheit bedrückender wirkt als manche von Emotionen ge- tragene Anklage:

c Es gab einen weitgehenden Konsens in der Öffentlichkeit hin- sichtlich des sozialdarwinistischen Verhaltens gegenüber Schwachen und Kranken und damit das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ver- ordneter Maßnahmen.

c Es gab breite Zustimmung auch zum Gedanken der Euthanasie, dem Recht auf den eigenen Tod, mit einer Ausdehnung dieses Rechtes auf die Gesellschaft.

c Die permanente Kritik an den Kosten des Gesundheitswesens in Deutschland unter dem Druck der Reparationsleistungen nach dem Er- sten Weltkrieg und der Weltwirt- schaftskrise. Zunehmende Verstim- mung der Ärzteschaft durch das nega- tive Image.

c Die Einbußen des Arztes an Einkommen, an gesellschaftlichem Prestige und an seiner dominierenden Stellung gegenüber dem Patienten.

cVerblendung durch die von den Nationalsozialisten verbreitete Eu- phorie eines neuen, starken und wirt- schaftlich gesunden Deutschland, ver- bunden mit der Ideologie der Höher- wertigkeit der nordischen Rasse.

c Zugleich aber auch die Un- übersichtlichkeit der nationalsoziali- stischen Herrschaftsstrukturen und der Kompetenzwirrwarr zwischen staatlichen Organen und der Par- teibürokratie, die „Polykratie“, die Unsicherheit des Einzelnen hinsicht- lich „richtigen“ Verhaltens.

c Der Staatsgedanke, die Er- haltung und Mehrung der „Volks- kraft“ als höherwertiges Rechtsgut.

c Eine Aufwertung der Rolle des Arztes als für die Volksgesundheit verantwortlich. Arzt-Priestertum.

c Durch die Erbgesundheitsge- setze wurde die Illusion vermittelt, nunmehr präventiv für die Gesun- dung der Gesellschaft tätig werden zu können.

c Die „Gleichschaltung“ der ärztlichen Organisationen. Übertra- gung der Verantwortung für das eige- ne Handeln auf den Staat. Viele gin- gen in die innere Emigration.

c Nach einer gewissen Zeit si- cher auch das Bewußtsein der Ver- strickung, als Folge das Bekennen zum System als Rechtfertigung.

c Die Perfektion des Bespitze- lungssystems, die eine öffentliche Op- position nicht aufkommen ließ.

c Der Konkurrenzneid auf dem Boden einer antisemitischen Grund- stimmung.

c Blanker Opportunismus, Ob- rigkeitsgläubigkeit und vermeintli- cher Gehorsamszwang, militaristi- sches Denken, Kriechertum, Macht- streben, Vorteilsgier, Forschungsfa- natismus.

c Aber auch Gleichgültigkeit und auch Angst.

Möhrle betonte aber auch, daß es neben verbrecherischen Aktionen unter Beteiligung von Ärzten auch ei- nen medizinischen Alltag in Deutsch- land gegeben habe: „Es gab nicht nur zahlreiche Ärzte, die ihre Pflicht ta- ten, indem sie ihre Patienten in der Heimat oder auf dem Kriegsschau- platz verantwortungsvoll und aufop- fernd betreuten, in der Kriegsgefan- genschaft und auch in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Es gab auch viele Ärzte, die mehr taten, oft unter Gefährdung der eigenen Person und der eigenen Familie halfen sie Verfolgten und Schwachen, ,Lebens- unwerten‘ und ,Minderwertigen‘.“

Spätestens nach dem Nürnberger Ärzteprozeß sei klar geworden, daß sich solche Vorgänge niemals wieder- holen dürften. Unter dem Eindruck von Nürnberg hätten die Ärztekam- mern 1947 ein Gelöbnis auf der Basis des hippokratischen Eides beschlos- sen. Die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern habe die ärztlichen Verfehlungen mißbil- ligt. Der Weltärztebund habe 1948 sein Genfer Gelöbnis verabschiedet, das das Gebot der Menschlichkeit un-

Interessierte Zuhörer, gerade auch beim Thema „Nürnberg“: ausländische Gäste beim Deutschen Ärztetag Dr. med. Alfred Möhrle

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ter allen Bedingungen betonte. Der Weltärztebund habe sich seitdem mehrfach mit ethischen Fragen des ärztlichen Berufes beschäftigt, unter tatkräftiger Beteiligung auch der deutschen Ärztevertreter. Insbeson- dere nannte Möhrle die Deklaration von Helsinki und deren verschiedene Revisionen.

Diese Deklarationen betreffen im wesentlichen die Forschung am Menschen. Mit dieser Fragestellung setzte sich Dr. med. Dr. phil. Eckhard Nagel, Oberarzt der Klinik für Abdo- minal- und Transplantationschirurgie der Medizinischen Hochschule Han- nover, auseinander. Er zeigte vor dem Hintergrund der historischen Erfah- rung die ethischen Verpflichtungen bei der Behandlung von Patienten auf. In der biomedizinischen For- schung heiße es, eine Synopse zu fin- den zwischen dem Zweck eines Expe- rimentes, der ohne Beteiligung von Probanden nicht umgesetzt werden könne, und der unausweichlichen Pflicht jedem einzelnen Probanden gegenüber. Nagel betonte immer wie- der die individuelle ärztliche Verant- wortung. Er machte aber auch auf ei- nen jeder Forschung innewohnenden Widerspruch aufmerksam zwischen individuellen Rechten und gesell- schaftlichen Ansprüchen. Ein Aus- gleich zwischen dem individuellen Entscheidungsrecht und der Fürsorge der Gesellschaft sei notwendig. Für den Einzelnen bestehe keine Pflicht, sich an Humanexperimenten zu betei- ligen. Das Recht des Einzelnen gehe hier vor dem Recht der Gemein- schaft.

Medizinische Forschung ist zulässig, so führte Nagel aus, nur mit der expliziten Zustimmung des Pro- banden, der freiwillig zu seiner Ent- scheidung gekommen sei. Vom Arzt werde deshalb auch ein „dialogisches Element“ erwartet. Nagel wörtlich:

„Es ist also eine ethische Verpflich- tung der Ärzte, nicht nur ausreichend Sachkompetenz, sondern Dialog- fähigkeit zu entwickeln, die es ermög- licht, Ziele des ärztlichen Handelns dem Einzelnen wie der Gesellschaft transparent zu machen.“ Am Ende eines solchen Prozesses steht, folgt man Nagel, ein Patient oder Proband, der sich freiwillig zu seiner Versuchs- rolle entscheidet. Nagel: „Er sollte sie

nicht nur erlauben, er sollte sie wol- len.“ In diesem Zusammenhang kam der Referent auch kurz zu sprechen auf die Forschung an Nichteinwilli- gungsfähigen. Hierzu bedürfe es aus- reichender Anhaltspunkte für die mutmaßliche Einwillligung. Das For- schungsprojekt müsse mit einem po- tentiellen, individuellen Nutzen für den Kranken verbunden sein, erheb- liche Aufschlüsse zur Erkennung und Behandlung seiner Krankheit erwar- ten lassen und sich auf seine Krank- heit beziehen.

Eine gewisse Zurückhaltung ließ der Referent hinsichtlich einer Institu- tionalisierung und Reglementierung von Verfahrensregeln für die For- schung am Menschen erkennen. Kei- nesfalls sei damit der Einzelne von sei- ner Verantwortung entbunden. Ethi- sche Entscheidungen könnten nicht an ethische Fachleute delegiert werden.

Zu Beginn der Diskussion stellte Prof. Dr. Dr. Klaus D. Dörner (Gü- tersloh) das von ihm initiierte Projekt zur Veröffentlichung der Nürnberger Prozeßakten vor. Dank logistischer Hilfe der Ärztekammern (bis auf drei Kammern seien alle beteiligt) konn- ten bisher rund 100 000 Ärzte ange- schrieben werden. Das Spendenauf- kommen belaufe sich auf rund 200 000 DM. Die Aktion werde fort- gesetzt.

In der weiteren Diskussion kri- stallisierten sich einige Schwerpunkte

heraus: Können die Nachfolgegenera- tionen ihren Vätern verzeihen? Sollte die heutige Generation die Opfer und deren Angehörige um Vergebung bit- ten? Welche Lehren sind für die Zu- kunft zu ziehen?

Dr. Ellis Huber gehörte zu de- nen, die für Versöhnung mit der Vä- tergeneration plädierten; ihn bewegte dabei sichtlich die positive Erfahrung, die er mit seinem Vorgänger im Amte, Prof. Dr. Wilhelm Heim, gemacht hat.

Und selbstkritisch: Die Vorwürfe der 68er Generation hätten auch von Ag- gressivität gezeugt, „die es den Vä- tern schwer machte, auf uns zuzuge- hen.“ Ganz anders Dr. Klaus-Dieter Kossow, auch er sichtlich durch per- sönliche Erfahrung geprägt: er sehe keinen Grund, der Vätergeneration Absolution zu erteilen.

Kossow wie auch andere riefen dazu auf, den Blick nach vorne zu richten. Es gelte, die jüngere Genera- tion davor zu bewahren, in ähnliche Verstrickungen zu geraten wie die Vä- tergeneration (Dr. Huber). Oder Dr.

Eva Müller-Dannecker: „Unsere Kin- der müssen wir dazu erziehen, daß sie Widerstand leisten.“ Dr. Erwin Hirschmann bemerkte, daß Entwick- lungen nicht über Nacht kommen und man beizeiten vorbeugen müsse. Ihn beschleiche Unbehagen bei gewissen Behandlungen von Drogenkriminel- len oder bei der Beurteilung vonAsyl- bewerbern. Dr. Kossow fragte: „Wie- viel Freiheit läßt der Sozialstaat? Ha- ben wir heute eine von Selektion freie Medizin?“

Eine längere Diskussion gab es zu der Frage, ob die heutige Generati- on um Vergebung bitten könne.

Kennzeichnend Dr. Hans Hege: Die heutige Generation könne nicht um Vergebung bitten für etwas, was sie nicht getan habe. Um Vergebung bit- ten könnten allenfalls die Täter ihre Opfer. Doch das Unrecht sei, so fuhr Dr. Hege fort, derart, daß es nicht zu vergeben sei.

Die Beschlußfassung des Deut- schen Ärztetages (sie ist weiter hinten dokumentiert) verzichtet auf den Be- griff der „Vergebung“, sie zeugt indes von Trauer und Reue – und dem fe- sten Vorsatz, in Zukunft die ethischen Grundnormen des ärztlichen Berufes gegen Zeitgeist und staatliche Eingrif- fe zu verteidigen. Norbert Jachertz Dr. med. Dr. phil. Eckhard Nagel

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