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Archiv "Gespenst des Biologismus: Lehren aus der Vergangenheit" (25.04.1997)

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B

eginnend mit dem in- ternationalen Kon- greß „Medizin und Gewissen“ in Nürn- berg wurde der Jahrestag des Nürnberger Prozesses zum Anlaß für eine Rückschau nicht nur auf die Taten der Angeklagten, sondern auch auf die ideologische Vorge- schichte ihrer Verbrechen, die Rolle der deutschen Ärzte- schaft im Dritten Reich und das unrühmliche Verhalten mancher ihrer Vertreter in der Nachkriegszeit, Themen also, die gleichermaßen einer sorgfältigen historischen Analyse und einer engagier- ten öffentlichen Diskussion bedürfen. Darüber hinaus meinte man aber, in den Au- gen der Öffentlichkeit nur be- stehen zu können, wenn man auch eine Botschaft für die heutige Zeit verkündete. Und diese war nun, wie schon vor fünfzig Jahren, die Warnung vor der dominierenden Position des naturwissenschaftlichen Geistes in der modernen Medizin.

Einer der Mahner ist der emeri- tierte Münsteraner Medizinhistoriker Richard Toellner. Als dieser in seinem Nürnberger Eröffnungsvortrag (aus- zugsweise veröffentlicht in der Frank- furter Allgemeinen Zeitung vom 18.

Januar 1997) die Reduktion des Men- schen „auf seine Biologie“ als das pec- catum originale der modernen Medi- zin anprangerte, folgte er dem Vorbild von Alexander Mitscherlich, dem ver- dienten Dokumentator des Nürnber- ger Prozesses, und dessen Lehrer Vik- tor von Weizsäcker. Hatte doch dieser im Jahr 1947 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Psyche“ geschrieben, in Nürnberg werde „ein Urteil über ei- ne bestimmte Art von Medizin, näm- lich die nur naturwissenschaftlich-bio- logische Pathologie, mitgefällt“.

Mitscherlich

und der Geist der Versachlichung

Für Weizsäcker erwies sich der Ausgang des Prozesses als Enttäu- schung. Zwar wurden nationalsoziali- stische „Euthanasie“ und Menschen-

versuche von den amerikanischen Richtern scharf verurteilt, doch zu der von ihm verlangten geistigen Erneue- rung der Medizin kam es nicht. Man meinte, mit ethischen Codes und Selbstverpflichtungen der herkömmli- chen Medizin die nötigen Grenzen ge- setzt zu haben, und interessierte sich nicht sonderlich für Weizsäckers „an- thropologische Medizin“. Die von sei- ner Schule gepflegten Vorbehalte ge- genüber der naturwissenschaftlichen Medizin aber blieben und nährten sich an den technischen Fortschritten der sogenannten Apparatemedizin. Mit- scherlich etwa ging so weit, in einem im Jahr 1978 im Nachrichtenmagazin

„Der Spiegel“ erschienenen Essay der Medizin im „technisierten Großkran- kenhaus“ denjenigen Geist der „Ver- sachlichung“ zu unterstellen, der in den in Nürnberg verhandelten Ver- brechen in einem „frühen Exzeß“ auf- getreten sei.

Die Vorwürfe gegen die naturwis- senschaftliche Richtung, welche die Medizin genommen hat, sind also nicht neu. Doch bevor man ihre Relevanz für die heutige Medizin erwägt, dürfte es sich lohnen, ihre historische Berech- tigung zu überprüfen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die pro- grammatische Aussage, die Joachim Mrugowsky, während des Krieges als Leiter des Hygiene-Instituts der Waf-

fen-SS an den Menschenversu- chen im Konzentrationslager Buchenwald beteiligt und in Nürnberg zum Tode verurteilt, im Jahr 1939 einer Auswahl aus den Schriften Hufelands voranstellte: „So sehr wir uns also den vergangenen Jahren des wissenschaftlichen Erken- nens verpflichtet fühlen, so wenig hindert uns, die so er- kannten Tatsachen entspre- chend unserer Weltanschau- ung neu zu ordnen.“ Der Na- tionalsozialismus duldete eben keine Götter neben sich, we- der das von der experimentel- len Naturforschung aufgestell- te Ideal wertfreier Erkenntnis noch dessen illegitimen Spröß- ling, den von Toellner als „Er- satzreligion der kritischen In- telligenz“ ausgemachten Bio- logismus. Alles wurde der to- talitären Ideologie unterge- ordnet. Die so motivierten Taten hat- ten mit naturwissenschaftlicher Medi- zin ebensowenig gemein wie mit dem ärztlichen Ethos eines Hufeland.

Unzulässige Vermischung

Differenzierter als Mitscherlichs Unterstellung einer Kontinuität vom Menschenversuch zum Großkran- kenhaus ist die Position derjenigen Kritiker der naturwissenschaftlichen Medizin, welche dieser einen indirek- tenEinfluß auf die nationalsozialisti- schen Ärzteverbrechen bescheinigen, und zwar über den Weg von der Indi- vidualtherapie zur Sozialhygiene. So schreibt Toellner: „Um die Gefähr- dungen zu verstehen, in denen die Medizin auch heute steht, wenn sie ein biologistisches Menschenbild hat und ihre Aufgabe als primär sozialpo- litische mißversteht, muß ich an einen Teil des Weges erinnern, der zum Ge- nozid in Auschwitz führte.“ Doch auch hier findet eine unzulässige Ver- mischung statt.

Aus der Reduktion des Men- schen „auf seine Biologie“ folgt kei- neswegs eine bestimmte sozialpoliti- sche Einstellung der entsprechenden Medizin. Vielmehr ist gerade die ge- scholtene Reduktion des Menschen A-1104 (20) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 17, 25. April 1997

P O L I T I K KOMMENTARE

Gespenst

des Biologismus

Lehren aus der Vergangenheit

Die Vielzahl der Jahrestage, die Ereignissen der näheren

und ferneren Vergangenheit eine gewisse öffentliche Auf-

merksamkeit bescheren, stellt eine große Chance, aber

auch eine große Verpflichtung dar. Eine Chance nämlich,

Ergebnisse der (historischen) Quellenforschung und Inter-

pretation einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu

machen, und gleichzeitig die Verpflichtung, nicht mit allzu

einfachen Nutzanwendungen („Lehren aus der Geschich-

te“) eben diese historische Forschung zu desavouieren. Im

Falle des fünfzigsten Jahrestages des Nürnberger

Ärzteprozesses wurde die Chance ergriffen, der Verpflich-

tung aber nicht immer ausreichende Beachtung geschenkt.

(2)

auf physiologische Mechanismen ein Ansatz, der wie vermutlich kein ande- rer mit einer Medizin harmoniert, welche sich als Individualtherapie versteht.

Eine solche Verbindung von phy- siologischem Reduktionismus und Konzentration auf die Therapie des individuellen Patienten stellt im übri- gen keineswegs ein Phänomen der Moderne dar. Vielmehr bestimmte es das Verhalten der maßgeblichen Ärz- tepersönlichkeiten der vormodernen Medizin von Galen bis Hufeland. Erst wenn der Mensch in seinen sozialen Bezügen gesehen wird, ergibt sich die Notwendigkeit einer „Sozialhygie- ne“, welche zum Segen, wie im Falle der Soziotherapie chronisch psy- chisch Kranker, aber auch, wie etwa in

der alten und neuen Eugenik, zum Fluch werden kann.

Ein Arzt mag die Auffassung ver- treten, daß „der Mensch mehr ist als seine Biologie“ (Toellner). Diese Aus- sage ist aber leer, solange sie ohne eine – soziale, religiöse oder anthropologi- sche – Bestimmung dieses „mehr“

bleibt. Der bloße Anspruch einer Transzendenz physiologischer Mecha- nismen macht ihn jedenfalls weder zu einem besseren Arzt noch zu einem besseren Menschen. Und wenn Leh- ren aus den Verbrechen deutscher Ärzte im Dritten Reich zu ziehen sind, so sollte folgende darunter sein: alles, was unter dem Vorzeichen einer Überwindung der biologischen Medi- zin daherkommt, nicht weniger streng zu prüfen als die Ergebnisse der Na-

turwissenschaft selbst und bei jedem Anzeichen einer Ideologisierung von Medizin und medizinischer Forschung den Anfängen zu wehren. Dieses, und nicht die einseitige Inkriminierung der naturwissenschaftlichen Medizin, dürfte am ehesten hoffen lassen, daß wir Ärzte in Zukunft davor bewahrt werden, Teil dessen zu werden, was der Psychiater und Gutachter im Nürnberger Prozeß, Werner Leib- brand, als „demoniac order“ der Men- schenverachtung bezeichnet hat.

Dr. phil. David Linden Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Neurophysiologische Abteilung Deutschordenstraße 46

60528 Frankfurt

A-1106

P O L I T I K KOMMENTARE

(22) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 17, 25. April 1997

D

as 2. GKV-Neuord- nungsgesetz verpflich- tet in § 305 Abs. 2 SGB V die Leistungs- erbringer, die Patienten über die für sie erbrachten Leistun- gen und deren Preise zu informieren, also Leistungs- und Kostentranspa- renz zu schaffen. Befürworter dieser Regelung sagen, daß in keinem ande- ren Bereich dem Nachfrager keine In- formationen über die für ihn erbrach- ten Leistungen und Kosten gegeben würden. Ihre Gegner weisen darauf hin, daß damit eine Kostenlawine durch Verwaltungsaufwand, Porto und höhere Inanspruchnahme auf die Krankenkassen zukommen würde.

Genannt werden Beträge bis zu 1,5 Milliarden DM, eine Summe, die in dieser Größenordnung von den Be- fürwortern bestritten wird.

Ist das alles?

Zunächst ist festzustellen, daß es sich im Gegensatz zu allen anderen Bereichen nicht um eine Rechnung für erbrachte Leistungen und deren Kosten handelt, sondern lediglich um eine Information. Der Empfänger hat keine Verpflichtung, eine Rechnung zu begleichen. Die Rechnung wird von einem Dritten beglichen, denn es gilt in der Regel das Sachleistungs- prinzip. Bleibt die Möglichkeit, Art und Umfang der erbrachten Leistun- gen zu prüfen und gegebenenfalls zu beanstanden, daneben auch die Infor- mation darüber, was diese Leistungen

im einzelnen gekostet haben. Es stellt sich die Frage, was mit dieser Rege- lung erreicht werden soll, ob ihr auch eine Überprüfungs- und Steuerungs- funktion beigemessen wird und mit welchem Ergebnis.

Es ist unwahrscheinlich, daß eine nachträgliche Leistungs- und Kosten- transparenz eine Steuerungsfunktion

hat. Die Vorstellung, daß die Kenntnis der Kosten eine ins Gewicht fallende Zahl von Versicherten dazu veranlassen könnte, weniger Leistungen nachzufragen, um damit den Beitragssatz der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) positiv zu be- einflussen, ist bei einer Solidargemein- schaft dieser Größenordnung eine Il- lusion. Es kann sogar das Gegenteil er- wartet werden: So viel zahle ich ein, und so wenig bekomme ich heraus!

Ist jedoch eine Steuerung der Nachfrageseite das Ziel von Lei- stungs- und Kostentransparenz, dann kann dieses Ziel nur mit Kostenerstat- tung und Selbstbeteiligung erreicht werden. Sollte beabsichtigt sein, auf Dauer das Sachleistungsprinzip von einer Kostenerstattung mit durchgän- giger Selbstbeteiligung abzulösen, dann könnte die jetzt eingeführte Lei- stungs- und Kostentransparenz ein Schritt sein. Wenn nicht, dann wird ein Aufwand betrieben, der, gleich- gültig in welcher Höhe, nicht gerecht- fertigt ist. Soll trotzdem an dieser Re- gelung festgehalten werden, emp- fiehlt sich ein wissenschaftlich beglei- teter Modellversuch. Die GKV insge- samt als Testobjekt zu verwenden ist nicht vertretbar.

Professor Dr. med. Fritz Beske Institut für

Gesundheits-System-Forschung Weimarer Straße 8, 24106 Kiel

Transparenz um jeden Preis?

Der neugefaßte § 305 Abs. 2 SGB V

„(2) Die an der vertragsärztlichen Ver- sorgung teilnehmenden Ärzte und ärztlich geleiteten Einrichtungen unterrichten die Versicherten schriftlich über die zu Lasten der Krankenkassen abgerechneten Lei- stungen und die von den Krankenkassen zu zahlenden Entgelte innerhalb von vier Wo- chen nach Ablauf des Quartals, in dem die Leistungen in Anspruch genommen wor- den sind. Satz 1 gilt auch für Vertrags- zahnärzte. Das Nähere regeln die Vertrags- partner nach § 82 in den Bundesmantelver- trägen. Die Krankenhäuser unterrichten die Versicherten schriftlich innerhalb von vier Wochen nach Abschluß der Kranken- hausbehandlung über die von den Kran- kenkassen zu zahlenden Entgelte; das Näh- re regeln die Spitzenverbände der Kran- kenkassen gemeinsam und einheitlich und die Deutsche Krankenhausgesellschaft

durch Vertrag.“ N

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