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Archiv "Marcel Proust und die Medizin (II): Fortsetzung und Schluß" (26.11.1982)

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Im Rückblick auf Prousts Leben erkennen wir, daß sich jeweils eine längere Krankheitsperiode, wäh- rend der er viele (lästige) Besu- cher abweisen konnte, mit einer Periode ernsthafter Arbeit deckt.

Andererseits fanden seine Freun- de — da er seit Jahren litt, ohne zu sterben — es bisweilen bequem und beruhigend, darüber zu lä- cheln. Hinsichtlich Werk und Le- ben war er ein „vollendeter Regis- seur seiner Krankheit".

Die Krankheit der Personen Verfolgen wir das Medizinische als Strukturformel weiter in der Re- cherche, so kommen wir zu den großen Personen, die gleichzeitig Träger großer Pathographien sind.

„Jede gesellschaftliche Klasse hat ihre eigene Pathologie" — heißt es in Die Gefangene, und Proust be- legt — am Beispiel Swann — sogar die jüdischen Personen mit beson- deren Krankheiten: „ . . . da er sei- ner Rasse entsprechend zu Haut- ausschlägen neigte und an der Hartleibigkeit der Propheten litt . . . ". So scheinen die höheren Stände zuweilen mehr an Krank- heiten zu leiden, die als Folge ei- nes luxuriösen Lebens auftreten.

Obwohl jede Person also die Be- schwerden hat, die sie verdient, benötigt sie nicht den der Sympto- matologie entsprechenden Spe- zialisten, sondern eher den auf die Persönlichkeit zugeschnittenen spezifischen Arzt. Dies wird sehr schön anhand von Bergottes

Krankheitsverlauf abgehandelt.

Der Dichter leidet zunächst an ei- ner eingebildeten Krankheit, die sich dann aber zu einer wirklichen entwickelt; ihr Präfinale setzt beim Besuch einer Ausstellung vor dem von Proust so geliebten Bild Ver-

meers — der „Ansicht von Delft" — ein. Jede Phase seiner Krankheit spiegelt den Verlauf von Prousts eigenem Leiden: über die Konsul- tation zahlreicher Ärzte bis hin zur Polypragmasie in dem Moment, wo es ernst wird: „ . . . von jedem dieser Ärzte bezog Bergotte das, was er aus natürlicher Klugheit sich seit Jahren untersagt hatte.

Nach einigen Wochen waren die Störungen von früher wieder da, die neuaufgetretenen nahmen an Schwere zu." Böhar sieht in „La maladie et la mort de Bergotte" —

„une extraordinaire conjonction mädico-littöraire."

Neben Bergotte sind aus der Gale- rie großer Personen mit Pathogra- phien noch folgende zu erwäh- nen: Tante Löonie, die depressive Verwandte des Erzählers mit der eingebildeten Krankheit, die jahre- lang das Bett nicht mehr verläßt.

Swann, der zu Hautkrankheiten (Rhinophym und Alopecia) neigt und dessen Krebskrankheit einen langsamen Verlauf nimmt, steht in seiner Agonie als Beispiel jener starken jüdischen Rasse, „an de- ren Lebenskraft und Widerstands- fähigkeit gegen den Tod auch die Individuen teilzuhaben scheinen.

Jedes für sich mit besonderen Krankheiten geschlagen, wie für ihr Volk die Verfolgung eine ist, wehren sie sich unendlich lange in furchtbaren Agonien, die sich über jedes glaubhafte Maß hinaus erstrecken können, bis man schon nichts mehr sieht als einen Pro- phetenbart und darüber eine un- geheure Nase, die sich aufbläht, um die letzten Atemzüge zu tun vor der Stunde der rituellen Ge- bete . . . ".

Mit morbider Sensibilität widmet sich der Erzähler weiter der Ber- ma, die wie die Kameliendame

stirbt. Ihr Arzt, gleichzeitig Gelieb- ter ihrer Tochter, macht die cha- rakteristische Beobachtung: zu Hause ist sie todkrank, auf der Bühne ungewöhnlich lebendig.

Das Gesicht der Berma ist für den Erzähler durchaus erhaben ent- stellt und erinnert ihn durch seine mit dem Meißel erarbeiteten stei- nernen Gefäße, die nichts anderes sind als hochgradig sklerotisch veränderte Arterien, an die Mar- morstatuen des Ereichtheion.

Wohl am einfühlsamsten wird der für ihn so schmerzliche Tod der Großmutter geschildert — weiterer Beleg für die Absicht Prousts „d e mödicaliser et de dramatiser la scöne." Auch die ihrer Sündhaftig- keit entsprechende Krankheit sucht — am Beispiel Charlus dar- gestellt — die betroffene Person heim. Beweis für seine allmählich fortschreitende arterioskleroti- sche Demenz ist sein skatologi- sches Persevieren, mit dem er den

niedrigen Adel diffamieren will.

„Was all diese kleinen Herrn anbe- trifft, die sich Marquis, Cambre- merde oder Papperlapapp nen- nen, so besteht kein Unterschied zwischen ihnen und dem letzten Rekruten Ihres Regiments. Ob Sie nun bei der Gräfin Kaka Pipi ma- chen oder Kaka bei der Baronin Pipi, so ist das alles dasselbe; Sie haben auf jeden Fall Ihrem Ruf geschadet und einen kotigen Lap- pen als Toilettenpapier benutzt, was unhygienisch ist."

Bei der personenbezogenen Pa- thographie, die nie abstoßende Bilder heraufbeschwört, sondern die geschilderten nur an Erhaben- heit verlieren läßt, berücksichtigt Proust bis in die kleinste Nuance hinein soziologische Bezüge: an- hand des intellektuellen Swann wird eine zeitgemäße Onkologie abgehandelt, der Adel erstarrt in fortschreitender Arteriosklerose lemurenartig, Charlus trägt Züge einer Psychopathia sexualis, und die Krankheit der Berma ist eine romantische.

Auch die kleinsten krankheitsbe- zogenen Ereignisse oder Zwi-

Marcel Proust und die Medizin (II)

Fortsetzung und Schluß

Reiner Speck

Ausgabe B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 47 vom 26. November 1982 53

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Marcel Proust

schenfälle, die in der Recherche sehr zahlreich sind, haben tragiko- mische Aspekte: „Sie hatte zwei merkwürdige Gewohnheiten, die zugleich mit ihrer übertriebenen Liebe zu den Künsten (besonders zur Musik) und der Unzulänglich- keit ihrer Zahnapparatur zusam- menhingen. Jedesmal, wenn sie von Ästhetik sprach, traten ihre Speicheldrüsen, wie diejenigen gewisser Tiere im Augenblick der Brunst, in eine „Phase der Hyper- sekretion ein . .".

Bei eingehender Betrachtung wird klar, daß all diese Schilderungen der Krankheiten — mit Namen und Stand erfolgt immer auch die Mit- teilung über das der Person anhaf- tende Leiden — Prousts eigene Pa- thographie mit der Fülle ihrer Symptome widerspiegelt: sie sind eine großangelegte Selbstinter- pretation mit psychosomatischen Ordnungsprinzipien. Die sorgfälti- ge Beobachtung ist ihm wichtiger als die psychologische Typologi- sierung; er steht damit Charcot näher als Freud, ist Janet mehr verbunden als Jung.

Nach einer Konsultation schreibt Proust im Jahre 1904 an Mme de Noailles: „Ich werde ein Buch über Ärzte schreiben". Es bedurfte aber neben der Recherche nicht dieser zusätzlichen Monographie, um seine Ansicht über diesen Be- rufsstand zu vermitteln.

So subtil er darin Pathographien abzuhandeln wußte, so glänzend gelang ihm auch die Charakteri- sierung der Ärzte über eine Reihe von Psychogrammen. Die Metho- dik trägt etwas von der neidvollen Melancholie, mit der Forcheville in der Recherche sagt: „Ja, diese Ärzte haben es gut, sie sammeln Erfahrungen." Wenn als Resümee der Erfahrung des Erzählers und Autors schließlich konstatiert wird, daß die Medizin ein Kompen- dium aufeinanderfolgender und einander widersprechender Irrtü- mer der Ärzte ist, so liefert uns die Reihe der in der Recherche auftretenden Mediziner den Beleg dafür.

Marcel Proust im Mai 1921

Hauptgestalt, die pars pro toto die Ärzteschaft vertritt, ist Dr. Cottard, dessen schillerndes Charakterbild zwischen den Polen „Banause"

und „grand clinicien" entsteht.

Die anderen Ärzte sind zumeist Esoteriker, in deren Zeichnung Proust etwas von dem herein- bringt, was seinem eigenen Wunschbild entsprechen könnte.

Nicht zufällig wird vom Wagen des sonst an keiner Stelle wieder vor- gestellten Dr. Percepied die für die Symbolik des Werkes so wichtige Bewegung der Türme von Martin- ville beobachtet. Dieser Mediziner trägt wohl eine andere Berufung in sich und ist keinerlei Affront ausgesetzt.

Der dem Künstler adäquate Arzt ist der belesene Dr. Du Boulbon, der wegen literarischer Gespräche seine Patienten warten läßt; noch während er auskultiert, redet er begeistert über Bergottes jüngstes

Buch. „ . .. aus seinem Sprech- zimmer verbreiteten sich ein paar erste Samenkörner jener Vorliebe für Bergotte." Schließlich emp- fiehlt der Schriftsteller dem Erzäh- ler Marcel diesen Arzt, weil er ge- rade als sensibler, intelligenter Mann einen besonderen Arzt brau- che, der allerdings geneigt ist, alle Beschwerden neurosenbedingt zu sehen.

Jauß sieht bei Prousts Arzt-Gestal- ten den Schritt zur offenen Satire vollzogen. Er warnt allerdings da- vor, die „Ärztesatire" über die Bio- graphie aufzulösen; dem ist nur soweit zuzustimmen, wie es sich um Vorbilder vom Vater und Bru- der handelt. Das satirische Ele- ment ist gerade durch kranke Ver- wandte und ärztliche Freunde im Spiegel der Reaktion von Vater und Bruder so treffend — also bio- graphisch katalysiert — gezeichnet worden; nicht zuletzt aber auch durch zahlreiche Konsultationen des Patienten Proust bei Ärzten, denen die medizinisch geschulten Familienmitglieder ohnehin skep- tisch gegenüberstanden. Der Sa- lon von Dr. Proust war ein idealer Beobachtungsposten für die Er- fahrung der Spezies Arzt. Hier sammelt Proust die Mosaiksteine, aus denen er die Arztgestalten formt. Wir wissen, daß Dr. Cottard durchaus berühmte und medizin- historisch bedeutsame Vorbilder wie Broca, Guyon oder Doyen hat- te. Am Beispiel Cottards wird die bei Ärzten oft verbreitete Spezial- begabung abgehandelt, die aus ihm zwar einen guten Kliniker macht, jedoch einen Mangel an anderen Eigenschaften mit sich bringt. So wird sein Instinkt, der bei jeder differentialdiagnosti- schen Überlegung notwendig ist, gerühmt, und der Erzähler läßt der so erarbeiteten Diagnose eine dif- ferenzierte Therapie folgen. Ein psychologisches Talent schim- mert da jedoch nie durch — und von Kultur ist bei Cottard nichts zu spüren. Für diesen Pragmatiker müssen Musik, Literatur und Kün- ste „comprähensibles", d. h. all- gemeinverständlich, begreiflich sein. Proust scheut nicht, das Ba-

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nausentum des karrierebewußten Cottard, der bei Konversationen Chateaubriand nur „aux pommes"

assoziiert, durch Kalauer dieser Art darzustellen. Seine Späße wer- den als „commisvoyeurhaft" be- schrieben. In der pragmatisch- ignoranten Art eines der Vergäng- lichkeit des physiologischen Ge- schehens verhafteten Mediziners urteilt Cottard über Sokrates wie über die in seinen Augen epheme- ren Leistungen berühmter Ärzte.

Sein Wesen trägt förmlich zur Theatralisierung auch einer Krankheit bei.

Er, von dem Bergotte — schwan- kend zwischen Bewunderung und Ironie — sagt, er sei ein Cartesiani- sches Teufelchen, das sein Gleich- gewicht sucht, ist förmlich präde- stiniert, übertölpelt zu werden: er wird Opfer einer Börsen-Spekula- tion. Die Wandlung, die Cottard — anfangs ein „Esel", später ein

„großer Kliniker" — durchmacht, ist eine nur auf den ersten Blick verwunderliche. Mit nuancenrei- chen Details gelingt es Proust, über Cottard Kritik am Ärztestand im allgemeinen zu üben. Cottard — mit seiner lauernden Ungewißheit und mit dem in gleicher Weise zu- stimmenden wie fragestellenden Lächeln, „dessen abwartende Schläue ihn von jedem Vorwurf der Naivität freihalten mußte", ist durchaus in seiner Agonie eine sublime Rache des Autors, der für seine eigene Krankheit nie den richtigen Arzt angetroffen hat.

Der opportunistische Freigeist, der auch Klassenmedizin dort be- treibt, wo er die Dringlichkeit einer Konsultation mehr in Abhängig- keit von der sozialen Stellung des Kranken als von der Schwere des Falles sieht, stirbt schließlich an Überarbeitung.

„Notre mädecin, c'est notre mal" — diese Behauptung erfährt in der

Recherche an anderer Stelle einen großartig durchkomponierten Be- leg in der Szene, die den Tod der Großmutter einleitet. Hier treten in tragikomischer Beflissenheit nacheinander fünf Ärzte an ihr

Krankenbett — „wie eine Reihe von Masken der alten Komödie, die frei zu agieren glauben und dabei doch nur wie auf ein Stichwort ih- re vorgegebene, unabänderliche Rolle wiederholen." (Jauß). Dabei führt jeder die Gesamtsymptoma- tik auf das ihm eigene Spezialfach zurück. Die Polypragmasie, die von den verzweifelten Angehöri- gen inszeniert wird, vermittelt auch einen Eindruck von der le- benslangen Suche Prousts nach dem für ihn adäquaten Arzt.

„Immer wird man Kerzen weihen und Ärzte konsultieren"

„Als Sohn und Bruder von Ärzten wahrte Proust der Medizin gegen- über ebensoviel Respekt, wie er den Ärzten gegenüber Strenge walten lassen konnte." (Maurois).

Wenn die generalisierten Angriffe gegen die Mediziner, die etwas von den Invective Contra Medicum Petrarcas an sich haben, zu scharf zu werden drohen, schwächt der Erzähler — nicht ohne Ironie — mit der Bemerkung ab: „Die Ärzte, es handelt sich wohlverstanden nicht um alle, sondern wir haben auch bewunderungswürdige Ausnah- men im Sinn ... ".

Jauß wies darauf hin, daß die Be- hauptung „La mädecine n'est pas une science exacte" nicht einem naiven Positivismus entspringt, sondern dem magischen Geheim- nis der Krankheit und dem tragiko- mischen Verhältnis von Arzt und Patient. Die Medizin kann aber auch nie eine exakte Wissenschaft sein, weil es in ihr der Intuition — bei Proust noch (oder auch nur) Instinkt genannt — bedarf. Hier liegt die große Ausnahme für die Lehre Prousts, „daß sich die Wirk- lichkeit erst im Durchgang durch die Erinnerung formt und zu er- kennen gibt." „Immer wird man Kerzen weihen und Ärzte konsul- tieren."

Intravenöse Liebesinjektionen Von Haus aus wurde Proust zu wissenschaftlicher Methodik und

Skepsis erzogen. Aufgrund dieser Haltung hütet er sich vor allem Sy- stematischen und beschränkt sich darauf, zwei Tatsachen zueinan- der in Beziehung zu setzen. Durch Verwandlung der Bilder gelingt es dem Schriftsteller, die Wirklichkeit zu rekonstruieren — auf medizini- schem Gebiet schlägt das Patho- gramm die Brücke zum Psycho- gramm. Wir empfinden ein vages Vergnügen daran, in einer Analo- gie den Hinweis auf eine Gesetz- mäßigkeit zu sehen. Die Idee ist metaphorisch ein Symptom:

wenn wir auch eine noch so klare Einsicht in unsere Eindrücke haben, so wie ich auch die Gründe meiner Melancholie deutlich zu er- kennen glaubte, wissen wir doch nicht bis zu ihrer letzten Bedeu- tung vorzudringen: wie jene unbe- haglichen Zustände, über die der Arzt sich von seinem Patienten be- richten läßt und mit deren Hilfe er zu einer tieferen Ursache gelangt, von der der Kranke nichts weiß, ebenso haben unsere Eindrücke, unsere Ideen die Bedeutung ein- zig von Symptomen."

Für Proust bietet sich gerade die Liebe als das ideale Sujet an, mit Vergleichen, Metaphern und Met- onymien aus dem Bereich der Me- dizin geschildert zu werden. Das beginnt apokryph mit den andro- gynen Namen von Gilberte, Alber- tine, Andr6e, Fran9oise , um über „intravenöse Liebesinjektio- nen" weitergeführt zu werden bis hin zum Phantomschmerz bei am- putierten Gliedern, wie er nach dem Verlust von Albertine auftritt.

Der Erzähler leidet bei der Liebe unter Entzugserscheinungen wie ein morphiumabhängiger Kranker.

Und noch im Vergleich rechtfertigt der Autor sein stilistisches Vorge- hen: „Gewiß haben die Trauer um eine Geliebte, die noch nachle- bende Eifersucht den gleichen An- spruch auf den Namen von physi- schen Leiden wie Tuberkulose oder Leukämie."

Swanns Liebe wird durch drei ver- schiedene Krankheitssymptome und -verläufe verdeutlicht: einmal durch die Abhängigkeit des Mor-

56 Heft 47 vom 26. November 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe B

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Proust auf dem Totenbett, November 1922

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Marcel Proust

phinisten, zum anderen durch die Indisposition des Asthmakranken und schließlich durch die Inopera- bilität einer weit fortgeschrittenen Geschwulst. Damit wird gleichzei- tig die Prognose dieser unglück- lich verlaufenden Liebe gestellt, wenn es heißt: „Sie war, wie die Chirurgie es nennt, inoperabel ge- worden!"

Auch andere gesellschaftliche Verhaltensweisen werden uns in Form von physiologischen Bildern vorgeführt, zum Teil in großange- legten Kaskaden. So unerwartet die Metapher auftaucht, so eng ist sie doch an den Gedanken gebun- den. Subtil werden in der Recher- che Vergleiche komponiert, wenn es darum geht, psychologische Reaktionen differenziert abzuhan- deln.

Der Erzähler weiß aber auch an zahlreichen anderen Stellen medi- zinische und naturwissenschaftli- che Erkenntnisse in vergleichende Bilder zu übertragen. Reflexionen allgemeiner Art werden mit den Überlegungen eines Chirurgen verglichen — bis hinein in histolo- gische Details bezüglich der Di- gnität eines Tumors. Die kompeti- tive Hemmung einer Krankheit ge- genüber einer anderen ist Proust so bekannt, wie ihm das Röntgen-

bild" (in der Frühphase radiologi- scher Diagnostik) willkommen ist, innere Vorgänge zu durchleuch- ten. Wir finden als Stilmittel die Metapher der anatomischen Sek- tion ebenso treffend benutzt wie die einer gerade in Mode gekom- menen chirurgischen Behand- lungsmethode. An zahlreichen Stellen der Rechercheheißt es im- mer wieder „wie ein Kranker, der

• . . " — „wie eine Krankheit, die... " — „wie ein Arzt, der ... ".

Die medizinischen Vergleiche scheinen einer geheimen Obses- sion des Erzählers zu entspringen, deren Quellen Elternhaus und ei- gene Krankheit sind: Brichots enorme Brillengläser gleißen wie Kehlkopfspiegel; ein General, als Haudegen bekannt, nimmt sein Monokel ab wie man einen Ver-

band wechselt; der Aufzugkorb in Balbec gleitet wie ein beweglicher Thorax an der Wirbelsäule ent- lang.

Das Kompendium alles Medizini- schen innerhalb der Recherche findet sich über die Seiten verteilt, auf denen die Agonie der Groß- mutter geschildert wird. Ein scheinbar banaler medizinischer Vorgang — der Akt des Fiebermes- sens — wird in seiner Beschrei- bung zu Literatur sublimiert. Das Thermometer wird metaphorisch zur „kleinen vernunftlosen Sibyl- le."

„Cottard hatte empfohlen, die Tempera- tur meiner Großmutter zu messen. Ein Thermometer wurde geholt. Fast in sei- ner ganzen Höhe war die gläserne Röhre von Quecksilber frei. Mit Mühe nur stellte man den winzigen silbernen Salamander in seinem Winkel hockend fest. Er'schien vollkommen tot. Die Spitze des Röhr- chens wurde meiner Großmutter in den Mund geschoben, wo wir sie nicht lange zu belassen brauchten; das kleine He- xenwesen benötigte nicht viel Zeit für sein Horoskop. Wir fanden es unbeweg- lich in halber Höhe seines Turmes vor, von wo es sich nicht wegrührte und uns mit größter Genauigkeit die Ziffer be- zeichnete, die wir von ihm hatten wissen wollen und die keine Überlegung, welche meine Großmutter selbst in ihrer Seele über sich hätte anstellen können, uns geliefert hätte: 38,3 °. Zum ersten Mal empfanden wir eine gewisse Unruhe. Wir schüttelten das Thermometer kräftig, um das schicksalschwere Zeichen wieder auszulöschen, als könnten wir das Fieber selbst gleichzeitig mit der angezeig- ten Temperatur zum Verschwinden bringen."

Mit Hilfe von naturwissenschaftli- cher Nomenklatur entstehen tref- fende Vergleiche, wenn von der

„mittleren Lebenserwartung poe- tischer Empfindungen" die Rede ist oder wenn es heißt: „Diese Rhythmen immunisieren die Zen- trifugalkraft meiner Schlaflosig- keit."

Zuweilen läßt Proust die handeln- den Personen von ihren Anankas- men heimsuchen und stellt dann ihr Verhalten ironisch in den Dienst seiner eigenen Obsession:

so ist die Szene zu verstehen, in der Dr. Du Boulbon an das Kran- kenbett der Großmutter tritt. Ihm war von seinem Lehrer Charcot ei- ne Karriere als Neurologe und Psychiater vorausgesagt worden.

Er ist — in des Erzählers Augen — ein großer Arzt, ein ungewöhnli- cher Mensch, eine ideenreiche und tiefe Intelligenz. Weiter oben ist dargestellt worden, daß er aber auch der literaturbegeisterte, bele- sene Mediziner war, der seine Pa- tienten gern apologetisch in Ge- spräche über Bergotte verwickel- te. Während der Konsultation der Großmutter erfährt nun gerade seine Absonderlichkeit eine Stern- stunde und wird medizinisch er- läutert:

„Anstatt sie zu auskultieren, richtete er seine wunderbaren Augen auf sie, viel- leicht in der Illusion, die Patientin durch- dringend zu beobachten, oder in dem Wunsch, in ihr die Illusion zu erzeugen, in einer Regung also, die spontan zu entstehen schien, jedoch mechanisch geworden war, oder in der Absicht, sie

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nicht merken zu lassen, daß er an ande- res dachte, oder um Macht über sie zu bekommen; dann fing er an, von Bergot- te zu sprechen.

— Ja, das will ich meinen, daß Bergotte Bewunderung verdient; Sie lieben ihn wirklich mit gutem Grund! Und welches seiner Bücher ziehen Sie denn vor? Ach!

Ja, wirklich! Mein Gott, es mag tatsäch- lich vielleicht sein bestes sein. Auf alle Fälle ist es sein bestkomponierter Ro- man. Claire ist ein bezauberndes Wesen.

Und welche seiner Männergestalten sagt Ihnen am meisten zu?

Ich glaubte erst, er bringe sie in dieser Weise auf Literatur zu sprechen, weil die Medizin ihn persönlich langweilte, viel- leicht auch um die Weite seines Geistes darzutun oder sogar in therapeutischer Absicht, nämlich um der Kranken Ver- trauen einzuflößen, ihr zu zeigen, daß er nicht beunruhigt sei, oder auch um sie von ihrem Zustand irgendwie abzulen- ken. Seither allerdings habe ich die Er- fahrung gemacht, daß er, der ja bemer- kenswert vor allem in der Behandlung von Geisteskranken und durch seine Ar- beiten über das menschliche Gehirn war, sich durch seine Fragen in erster Linie eine Meinung darüber hatte bilden wol- len, ob das Gedächtnis meiner Großmut- ter noch exakt funktionierte."

Diese Katharsis, die der literarisch interessierte Arzt hier erfährt, legt die geheimen Wünsche des Erzäh- lers frei: daß es auch andere Ärzte geben möge als die Cottards.

An vielen Stellen der Recherche wird Medizinisches als Stilmittel auch in den Komplex der Malerei hineingetragen. Pathologische Veränderungen des Ausdrucks werden mit Bildern von Prousts Lieblingsmalern verglichen: Das Salbengesicht des Grafen X, der an der Parkinsonschen Krankheit leidet, die seiner Dandy-Physio- gnomie eine grimassenhafte Klar- heit verleiht, erinnert an Studien von Mantegna oder Michelangelo.

Und mehrfach wird in medizini- schen Zusammenhängen Giottos Freskenmalerei in Padua erwähnt;

hier wird Prousts verschachtelte Symbolistik perfekt, wenn er Ver- gleiche in eine Metaphorik ein- baut, die ihrerseits wiederum alle- gorische Darstellung ist. Wenn Swann sich nach dem Befinden der schwangeren Dienstmagd er-

kundigt und fragt „Was macht die Caritas von Giotto?", vergleicht er damit die bauschigen Übergewän- der der allegorischen Figur mit dem weiten Kittel der Graviden.

Die Invidia läßt ihn — wie in einem medizinischen Lehrbuch seines Vaters — einen Zungentumor ver- ursacht, assoziieren.

Beim Lesen der Recherche erken- nen wir, daß einige der schönsten Bilder aus der Pathophysiologie stammen. Proust als ein chronisch Kranker, umgeben von zeitweilig Kranken, spürte die Untrennbar- keit von Anomalie und Mensch- sein. Die Krankheit ist die große Beichte des Körpers.

Die Suche nach Bildern und Ver- gleichen hat immer wieder ande- res zu Tage gebracht: So hat Pom- mier herausgearbeitet, daß die meisten Bilder mit dem Ge- schmackssinn und Nahrungsmit- teln zusammenhängen, Beckett weist darauf hin, daß Vergleiche der Flora die aus der Fauna über- treffen; es wäre ein leichtes, das rein quantitative Überwiegen sämtlicher Metaphern und Ver- gleiche aus der Medizin nachzu- weisen. „La terminologie et l'im- age mädicale sont prösentes tout au long du roman, de la dou- loureuse marche du narrateur."

Innerhalb einer Semiotik zu Proust sollten die medizinischen Zeichen mehr beachtet werden. Wie Ber- gotte, so hat Proust Teile seines Denkens aus dem Gehirn in seine Bücher übertragen. „Er hatte durch sie an Substanz verloren, als seien sie aus ihm herausope-

riert." Maurois verglich Proust mit den Ärzten, die fähig sind, ihr lei- dendes Ich während einer durch- gemachten Krankheit von ihrem denkenden Ich zu trennen und so das Fortschreiten einer Krankheit objektiv anhand ihrer eigenen Fallstudie zu verfolgen. „Seine iro- nische, philosophische, didakti- sche Reflexion ist allemal das Auf- atmen, mit welchem der Alpdruck der Erinnerung ihm vom Herzen fällt." (Benjamin)

Mit Einfühlnahme und Detail- kenntnis hat Proust die Comödie humaine um eine Pathographie humaine ergänzt. Wir haben gese- hen, was ihn zum „mödecin avant la lettre" gemacht hat.

Seine medizinische Kenntnis ist größer als die eines gebildeten Laien; das Wissen eines Gelehrten durchzieht die ganze Recherche.

Der medizinischen Metapher fehlt zwar — im Gegensatz zur floralen — das Symbolhafte. Sie ist zunächst nur Allusion. Symbolik kommt ihr erst als Ganzes im Gesamtwerk zu, wo sie ein Zeichen für die Ver- gänglichkeit der Zeit wird. Wie ist ein Zeitablauf wohl eindringlicher darzustellen als in Form des Ver- laufs einer Krankheit! Hat sie doch eine Vorgeschichte, deren Aufzei- gen der anamnestischen Erhe- bung bedarf. Eine das ganze Werk durchziehende Krankheit ist die Zerebralsklerose, weil deren schleichender Verlauf subjektiv kaum wahrgenommen wird, dem objektiven Betrachter aber das Vergehen der Zeit verdeutlicht — mit der ganzen Problematik des- sen, was wir Gedächtnis nennen.

Der Sklerotiker selbst hat keinen Sinn für die vergangene Zeit, der Beobachter des Kranken hinge- gen ist anhand dieses Beispiels bestürzt über die Vergänglichkeit.

Die vermeintliche Stase der Zeit tritt uns vor Augen in Form der verwitterten Lemuren mit ihren Salbengesichtern — in einer Phase, wo durch die Starre Zeit wiederge- funden wird. A la recherche du

temps perdu ist die breitangelegte Geschichte einer Krankheit, die sui generis keine Stagnation kennt; Krankheit als die große, al- les umfassende Amphore ver- gänglicher Existenz und verge- hender Zeit.

Dr. med. Reiner Speck Dürener Straße 252 5000 Köln 41

Literaturverzeichnis und Originalzitate in

„Marcel Proust — Werk und Wirkung", Herausgeber: Reiner Speck, Insel-Ver- lag, Frankfurt, 1982, 28 DM

58 Heft 47 vom 26. November 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe B

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