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Das haben wir doch schon immer so gemacht - Die Ja- abers in Kita und Hort

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Academic year: 2022

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Malte Mienert

»Das haben wir doch

schon immer so gemacht«

Vandenhoeck & Ruprecht

Die »Ja, abers«

in Kita und Hort

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Inhalt

1. Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort . . . 9

2. »Das ist doch alles nur heorie. Die Praxis sieht doch ganz anders aus, Herr Mienert!« . . . 18

2.1 Neue Pädagogik und alte Herausforderungen . . . 18

2.2 Ein Buch für Sie – und für mich . . . 22

3. »Ja, aber das haben wir doch schon immer so gemacht!« 25

3.1 Von der Industriegesellschat zur Wissensgesellschat 25

3.2 Vom Kollektivismus in den Individualismus . . . 33

3.3 Internet, Globalisierung und Technologie . . . 37

3.4 Überwachte Kindheit . . . 38

3.5 Demograischer Wandel . . . 39

3.6 Deutschland als Einwanderungsland . . . 41

3.7 Veränderungen in den familiären Strukturen . . . 43

3.8 Fachkräte der Zukunt . . . 44

4. »Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung. Pläne genauso wie früher!« . . . 48

4.1 Anforderungen von Gegenwart und Zukunt . . . 48

4.2 Neue Bildungspläne aller Bundesländer . . . 49

4.3 Die neuen Bildungspläne und die alte Rolle der pädagogischen Fachkrat . . . 50

4.4 Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn – Die Motoren menschlicher Entwicklung . . . 52

4.4.1 Entwicklungsmotor Gene . . . 52

4.4.2 Entwicklungsmotor Umwelt . . . 56

4.4.3 Entwicklungsmotor Selbststeuerung . . . 59

4.5 Von der Fremd- zur Selbstbildung der Kinder . . . 67

4.6 Die neuen Bildungspläne im Praxistest – Konlikte lauern überall . . . 69

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6 Inhalt

5. »Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!« . . . 72

5.1 Pädagoginnen und Pädagogen stehen unter dem Druck vieler Erwartungen und  Rollenanforderungen . . . 75

5.1.1 Bindungs- und Vertrauensperson . . . 78

5.1.2 Fachkrat für kindliches Lernen . . . 79

5.1.3 Netzwerker . . . 79

5.1.4 Erwachsenenbildner und Erziehungspartner . . . 79

5.1.5 Beobachter und Dokumentatoren . . . 80

5.1.6 Basteltante . . . 80

5.1.7 Feldwebel . . . 81

5.1.8 Animateure und Anbieter von Spielideen . . . 82

5.1.9 Plegerin . . . 83

5. 1. 10 Wisser-Was-Das-Kind-Denkt-Und-Braucht . . . 84

5.2 Verschiedene Rollen – der Versuch einer Integration . . . 85

6. »Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!« . . . 92

6.1 Pädagoginnen und Pädagogen verfolgen Ziele . . . 95

6.2 Pädagoginnen und Pädagogen schwanken zwischen dem Kind und der Gruppe . . . 102

6.3 Pädagoginnen und Pädagogen wollen von den Eltern gemocht werden . . . 112

6.3.1 »Wir arbeiten in Erziehungspartnerschat mit den Eltern« . . . 113

6.3.2 »Sie tun es nicht, um uns zu ärgern« . . . 118

6.3.3 »Erziehungspartnerschat ist wie Dirty Dancing« 121 6.3.4 »Probleme müssen besprochen werden, bevor sie aufgetreten sind!« . . . 131

6.4 Pädagoginnen und Pädagogen haben viel Nachsicht für ihresgleichen . . . 143

7. »Nicht mal mehr loben soll man?« – Von der trainingsorientierten zur beziehungsorientierten Pädagogik . . . 148

7.1 Der alltägliche Kampf um Sieg oder Niederlage . . . 148

7.2 Beziehungsorientierte Pädagogik heißt nicht: Jeder macht, was er will . . . 154

7.3 Beziehungsorientierte Pädagogik braucht Zeit . . . 155

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Inhalt 7

7.4 Beziehungsorientierte Pädagogik geht unter die 

Wasseroberläche . . . 157 7.5 Beziehungsorientierte Pädagogik beruht

auf Ehrlichkeit . . . 161 7.6 Beziehungsorientierte Pädagogik setzt auf 

Situationsgestaltung, nicht auf persönliche 

Auseinandersetzungen . . . 170 7.7 Beziehungsorientierte Pädagogik benötigt

entwicklungspsychologische Grundkenntnisse . . . 178 7.8 Beziehungsorientierte Pädagogik –

ein Ausblick, kein Fazit . . . 194 8. Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s« . . . 197 9. »Das, was Sie erzählen, ist doch alles gar nicht neu!« –

Literatur . . . 206 10. »Und, was verdienen Sie an den verkauten Büchern?!« –

Tipps zum Weiterlesen . . . 207

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1. Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort

A

nna hat Angst – »Wir machen das mit der Eingewöhnung ganz individuell.«

»Anna ist eines von den stilleren Kindern in ihrer Gruppe. Sie ist erst seit drei Monaten bei uns. In der Eingewöhnung gab es wenige Probleme mit ihr. In den wenigen Tagen, die ihre Mutter anwesend sein konnte (ihr neuer Job ließ nur kurz Zeit für die Eingewöhnung), zeigten sich keine Anpassungsprobleme.

Warum also auch lange eingewöhnen? Ganz individuell sind wir von unserem üblichen Eingewöhnungsprozedere abgewichen. Dass Anna Angst zeigt, weint, und sich nicht von Mama trennen möchte, ist, völlig überraschend, vor einem Monat erstmals zu beobachten gewesen.«

B

ritta belegt sich selbst ein Brötchen – »Messer, Gabel, Schere, Licht …«

»Soll eine Vierjährige wie Britta bereits mit einem Messer hantieren wie die Gro- ßen? Im Team bestehen daran große Zweifel. Schließlich gibt es ja auch gar kei- nen Grund dafür. Die Erzieherinnen und Erzieher haben bisher allen Kindern die Brötchen geschmiert, und es gibt kindgerechtes Plastikgeschirr, mit bunten Bildern, wirklich niedlich. Britta könnte sich doch verletzen. Und dann bekom- men wieder die Erzieherinnen und Erzieher den Ärger. Was werden denn die Eltern sagen, wenn sie Britta mit dem Messer sehen? Wir haben doch auch eine Aufsichtsplicht. Und müssen die Kinder von Gefahren fernhalten.«

C

arlos cremt gern sein Gesicht ein – »Wir fragen uns schon, ob der Carlos irgendwie andersrum ist.«

»Wir kennen den Carlos ja nun schon seit einigen Jahren. Er hat schon im Kin- dergarten am liebsten mit den Mädchen gespielt und auch sonst so Sachen gemacht, die eigentlich eher für die Mädchen typisch sind. Puppenspiele, Ver- kleiden, in der Kochecke spielen und solche Sachen. Er hat sich auch die Fin- gernägel angemalt, und einmal kam er sogar im Rock in die Einrichtung. Naja, soll er ruhig, aber wir haben ihn immer wieder ermuntert, sich auch mit echten Jungssachen zu beschätigen, mal Fußball zu spielen oder so. Da hat er dann

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Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort 11

G

ustaf ist schon ganz gelenkig – »Ja, aber was ist mit der Auf- sichtsplicht?«

»Ich merk schon, Gustaf hat einen großen Bewegungsdrang. Für einen Zwei- jährigen ist er schon unglaublich schnell unterwegs. Lass ich nur die Tür einen Spalt ofen, ist er mir schon entwischt. Selbst die große Treppe klettert er schon selbst rauf und wieder runter. Wie soll ich denn da die Aufsichtsplicht gewähr- leisten. Wenn er immer so litzt, dann wird er sich noch mal schwer verletzen.«

H

annes macht nie Hausaufgaben – »Was sollen denn die Lehre- rinnen und Lehrer und seine Eltern von mir denken, wenn ich den einfach nur spielen lasse?«

»Von den Lehrerinnen und Lehrern bekommen wir immer einen Zettel mit in den Hort. Was wir mit den Kindern noch üben sollten. Hin und wieder stehen auch andere kleine Auträge mit auf dem Zettel. Es wäre schon schön, wenn wir im Hort mal Kekse backen würden, für den Kuchenbasar. Oder ein Pro- gramm fürs Schulfest vorbereiten. Oder vielleicht auch mal eine kleine Prä- sentation für den Einschulungselternabend. Da sind wir ja selbst als Horterzie- herinnen nicht dabei. Natürlich können die Kinder bei uns die Hausaufgaben machen. Ist freiwillig, aber die Eltern legen da schon großen Wert darauf, dass die gemacht sind, wenn die Kinder um vier nach Hause gehen. Wir haben mal bei der Schuldirektorin nachgefragt, ob Hausaufgaben denn wirklich sein müss- ten. Die Kinder sind ja schon ziemlich k.o., wenn sie aus der Schule kommen.

Aber da hat die Schulleiterin auf die Grundschulverordnung verwiesen. Danach wären Hausaufgaben Plicht, das täte ihr auch leid. Ich wollte immer mal selbst in die Grundschulverordnung schauen, ob das so drin steht. Ich bin irgendwie noch nicht dazu gekommen. Ich muss mich ja um Hannes kümmern und ihn zu den Hausaufgaben motivieren.«

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nez und Immo inklusiv – »Da fehlen uns die Fachkräfte. Dafür sind wir nicht ausgebildet.«

»Jetzt haben wir gerade noch Integration gemacht. Für unsere Integrativkinder haben wir spezielle Fachkräte, die sich speziell um diese Kinder kümmern. Auf einmal nun Inklusion? Wer hat sich denn so was ausgedacht? Noch mehr Arbeit?

Für Kinder mit Behinderungen haben wir keine Ausbildung bekommen. Das ist doch nur wieder eine neue Masche, um auf unserem Rücken Geld zu sparen und die Sonder- und Förderschulen zu schließen, wo solche Kinder doch eigentlich am besten aufgehoben sind.«

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oah ist natürlich nicht müde – »Jedes Kind braucht Mittagsschlaf.«

»Doch, dazu gibt es Studien, Herr Mienert. Die haben das endgültig bewiesen.

Für die Gehirnentwicklung der Kinder ist es unablässig, dass die Kinder mittags mindestens 30 Minuten schlafen, oder eine Stunde, oder zwei Stunden, da sind sich die Studien nicht ganz einig. Da werden die Synapsen neu verknüpt. Na, wenigstens ruhen sollten die Kinder. Wann soll ich denn sonst meine Portfolios schreiben? Ich brauch doch auch mal eine Pause.«

O

rnella soll Ordnung halten – »Wenn ich das einem erlaube, wollen das morgen alle.«

»Eine 10-Jährige wie Ornella ist doch eigentlich schon ganz vernüntig. Ihre Arbeitsmaterialien sehen trotzdem immer durcheinander aus. Dabei haben wir doch gemeinsam besprochen, wie die Arbeitsmaterialien zu sortieren sind. Die Hete und Bücher an der Außenseite des Tisches, dann zur Mitte die Stite. So geht das doch mit den Hausaufgaben viel einfacher. Kreatives Chaos nennt das meine Kollegin, ja, die ist ja selbst nicht besser. Wenn die in meinem Raum an meinen Materialien war, ind ich ja auch nichts wieder. Wenn es nach Ornella ginge, würde sie bei den Hausaufgaben auf ihrem Bauch liegen und mit den Beinen schlenkern. Na wundervoll, und dann wollen das morgen im Hort alle, oder?«

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ias Papa ist weg – »Dem Kind fehlt schon der Vater, das merkt man sehr.«

»Die Familiensituationen der Kinder geben uns im Team immer viel Diskussions- stof. Wir sind ja ein schwieriges Einzugsgebiet, da lebt kaum noch ein Kind in einer normalen Familie. Pias Papa ist weg, da war die Pia schon sehr traurig, und dass die Mutter nun alleinerziehend ist, das stresst die Pia doch noch viel mehr.

Pauls Mama ist nicht so lang allein geblieben, nach der Trennung von Pauls Papa, da schmunzeln wir schon immer ein bisschen, wenn da wieder ein neuer Papa ankommt und uns die Abholberechtigung präsentiert. Und Petras Mutter ist nun lesbisch, ich meine, da haben wir ja alle wirklich nichts dagegen, aber jedes Kind braucht doch einen Vater, oder? Aber nicht unbedingt gleich zwei davon, wie bei Piet. Wer ist denn da eigentlich die Frau, von den beiden Vätern?«

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2. »Das ist doch alles nur Theorie. Die Praxis sieht doch ganz anders aus, Herr Mienert!«

2.1 Neue Pädagogik und alte Herausforderungen

Ach, so viele »Ja, abers«. Ich habe sie in meiner Einführung einmal alphabetisch sortiert, als kleines Kita- und Hort-ABC – quasi ein

»Ja-ABer-C« der frühkindlichen Bildung. Ich arbeite mich durch diese »Ja, abers«, die mir in meiner Arbeit als Entwicklungspsycho- loge und freiberulicher Fortbildner lauthals entgegenschallen, wenn ich mit pädagogischen Fachkräten1 über eine notwendige Neuaus- richtung der Kindheitspädagogik diskutiere. Ein neuer Blick auf Kindheitspädagogik, ein neues Bildungsverständnis, das den Selbst- bildungsprozess der Kinder in das Zentrum der Arbeit in Kinder- tagesstätten und Horten stellt und eine neue Herangehensweise an die Umsetzung pädagogischer Ziele im Elementarbereich haben mit den Plänen der Bundesländer für die Neuausrichtung der Arbeit in den pädagogischen Einrichtungen in Deutschland Einzug gehal- ten. Kinder sind aktive Gestalter ihrer Lern- und Entwicklungspro- zesse. Sie konstruieren sich ihr Wissen von der Welt selbst, erwerben Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit Problemstellungen, pla- nen Problemlösungen, probieren sich aus und wachsen an Fehlern genauso wie an Erfolgen. Unbestreitbar sind die Vorteile, die diese Neuausrichtung für die Kinder mit sich bringt. Dreh- und Angel- punkt, ob die Umsetzung der Bildungsstandards in den Kindertages-

1 Erzieherinnen, Erzieher, Sozialpädagoginnen, Sozialpädagogen, Kindheits- pädagoginnen, Kindheitspädagogen, Sozialassistentinnen, Sozialassistenten, Kinderplegerinnen, Kinderpleger, Lehrerinnen, Lehrer … Im Buch werde ich mich bemühen, beide Geschlechter gleichberechtigt zu benennen. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn dies an manchen Stellen nicht gelingt und an anderen Stellen etwas gestelzt erscheint. Nur die weibliche Form wähle ich immer dann, wenn es um konkrete Beispiele und Zitate geht oder wenn aus historischen Gründen der Realität nahezu ausschließlich weiblicher Fach- kräte in der Vergangenheit Rechnung getragen wird.

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Neue Pädagogik und alte Herausforderungen 19

stätten auch langfristig gelingen und die pädagogische Arbeit in der Kindheit auf feste Füße stellen wird, sind jedoch Sie als die Perso- nen, die unmittelbar mit den Kindern arbeiten – die Erzieherinnen und Erzieher. Die Ausrichtung der pädagogischen Arbeit auf das Wohl der Kinder ist kein neuer Trend in der Pädagogik. Schon seit Jahrhunderten wird unter den Pädagoginnen und Pädagogen nach dem Weg gesucht, wie kindliches Lernen bestmöglich unterstützt werden kann und dabei eine gute Betreuung bei guter Beziehung zu den Erwachsenen ermöglicht werden kann. Comenius, Montes- sori, Rousseau, Steiner, Pestalozzi, Makarenko, Pikler sind nur einige von denen, die die Frage nach dem bestmöglichen Weg für Bildung und Betreuung von Kindern in pädagogischen Einrichtungen immer wieder neu aufgeworfen haben. Ihre Ansätze einer Bildung, die von der Neugierde und dem Lernwillen der Kinder selbst ausgeht, auf ihre Motivation vertraut, Spaß am Lernen und am Entdecken hoch- hält und dabei auf eine vertrauensvolle zuverlässige Beziehung zu den Erwachsenen setzt, sind also keine Gedanken, die erst im Zuge eines PISA-Schocks, im Zuge neuer Bildungspläne oder reform- pädagogischer Bestrebungen von Bildungsträgern und Initiativen wie aus dem Nichts aufgetaucht sind. Trotzdem scheint jede Gene- ration von Erwachsenen einen erneuten Kampf um die Deutungs- hoheit für die Bildung der Kinder zu führen. Immer wieder gerät die Kindheitspädagogik in die immer neuen Diskussionen darüber, was Kinder lernen müssen, was sie angeblich wirklich brauchen, was in den ersten Lebensjahren unbedingt erfahren und erlebt werden muss und wie Kinder zum Lernen zu motivieren seien, welche Fähigkei- ten sie unbedingt benötigen und welche Kenntnisse auf alle Fälle in die Köpfe der Kinder hineinzubefördern wären. Das Schulsystem hat sich dem Prinzip eines Wissens- und Fächerkanons verplichtet, das auf Prinzipien von Grundfertigkeiten, Grundwissen und Grund- kenntnissen beruht, die anhand eines vorbereiteten Lernplans in einem vorbereiteten Lernumfeld durch didaktische Methoden an die Kinder zu vermitteln wäre. Stof soll durchgenommen werden, Allgemeinwissen soll dabei entstehen und nach Möglichkeit auch

längerfristig behalten werden.

Ob das gut ist? Ob das realistisch ist? Ob es heute so etwas wie einen Grundkonsens allgemeiner Wissens- und Fähigkeitsbestände

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20 »Das ist doch alles nur Theorie«

geben kann, der universell an die Kinder in der Schule zu vermitteln wäre? Ich persönlich hege da große Zweifel. Aber mein Anliegen in diesem Buch ist es nicht, die Schule zu reformieren. Ich wende mich insbesondere an die pädagogischen Fachkräte, die eigentlich von schulischen und Fächerzwängen befreit sind, wo kein Stof vermittelt werden muss und Unterrichtsziele erreicht und in Noten quantii- ziert werden müssen – in den Kinderkrippen, den Kindertagesein- richtungen und den Horten sowie in der Nachmittagsbetreuung im ganztägigen Lernen. Wo es keine oder wo es noch keine abrechen- baren Lernziele eines Lehrplans gibt, da ist die Unsicherheit bei den pädagogischen Fachkräten groß. Lernen die Kinder bei uns alles, was sie für ihr Leben brauchen? Werden die Kinder bei uns ausrei- chend auf das Leben vorbereitet? Und auf die Schule? Und was ist dabei wichtiger, die Schul- oder die Lebensvorbereitung? Wie muss die richtige Lernumgebung aussehen, wie lernen Kinder am besten?

Seit 20 Jahren reise ich als freiberulicher Fortbildner durch die Krippen, Kindertageseinrichtungen und Horte der Bundesrepu- blik Deutschland, Österreichs und der Schweiz. Viele Teams habe ich auf dem Weg zur Umsetzung neuer Bildungspläne begleitet. In hemen wie »Kleine Kinder, große Schritte – Pädagogische Arbeit mit Kindern unter drei Jahren«, »Kinder im Strudel des Bildungs- wahns  – zwischen kindlicher Selbstbildung und den Bildungs- ansprüchen Erwachsener«, »Von der Elterarbeit zur Erziehungs- partnerschat – mit Eltern partnerschatlich zusammenarbeiten«,

»Kinder an die Macht?! Demokratie und Partizipation in Tagesein- richtungen«, »Kommunikation und Konliktlösung mit Kindern und Erwachsenen«, »Kindliches Lernen und die Rollen der päda- gogischen Fachkräte«, »Was ist schon normal?! Entwicklungs- und Verhaltensaufälligkeiten von Kindern aus entwicklungspsychologi- scher Perspektive« oder auch »Mit Respekt geht es besser. Regeln und Grenzen im Tagesstättenalltag« setze ich mich mit den pädagogi- schen Fachkräten darüber auseinander, welche Entwicklungsbedin- gungen Kinder heute brauchen, um für die Zukunt gerüstet zu sein.

Die Auseinandersetzung der Erwachsenen über die Anforderun- gen an moderne Pädagogik, damit es den Kindern gut geht, möchte ich durch meine Arbeit intensiv vorantreiben. Die Fortbildungen und Teamprozesse haben bei mir viele Eindrücke und einen breiten

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102 »Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!«

nicht, Sie sind Pädagoginnen und Pädagogen und müssen Ihren Blick nicht aufgeben. Er entspricht dem Ziel Ihrer Profession und stellt Ihr Selbstverständnis dar. Manchmal vermag aber vielleicht ein wenig entwicklungspsychologische Distanz Ihnen den Alltag zu erleichtern. Sie können sich im Alltag manchmal etwas mehr entspannen, wenn Sie Slogans pädagogischer Selbstverständlich- keit als das hinterfragen, was sie sind – »Ja, abers«, die die Rele- xion der eigenen Arbeit behindern. Vielleicht lassen sich zu den pädagogischen Alltagsargumenten ja noch ein paar neue Slogans – diesmalaus entwicklungspsychologischer Perspektive – ergänzen:

»Sie tun es nicht, um uns zu ärgern!«, »Jetzt machen wir erstmal nüscht!«, »Ich habe keine Ahnung, was du gerade lernst, aber ich bin mir sicher, du lernst gerade etwas.« sowie »Jeder kann machen, was er will, aber jeder muss für die Folgen seines Verhaltens Ver-

antwortung übernehmen!«, diese Slogans würde ich persönlich in den täglichen Auseinandersetzungen in Tagesstätten und Horten häuiger hören wollen.

6.2 Pädagoginnen und Pädagogen schwanken zwischen dem Kind und der Gruppe

Ü

mran übt das Ü – »Auch hochbegabte Kinder müssen sich in die Gruppe einfügen.«

»Herr Mienert, Ihr Leben hätten wir gern. Wollen Sie mal einen Tag bei uns in der Kita verbringen? Wenn Sie 20 aufällige Kinder auf ein- mal haben?« Wie ot habe ich dieses »Ja, aber« in den Tageseinrich- tungen gehört. Deutlich wird mir dabei, dass Psychologinnen und Psychologen einerseits und Pädagoginnen und Pädagogen anderer- seits ot von zwei grundsätzlich unterschiedlichen Blickrichtungen auf die Kindergruppe schauen. Ein Entwicklungspsychologe wie ich schaut sich die individuellen Veränderungen von Menschen im Lebenslauf an (so lautet die Deinition der Entwicklungspsychologie).

Diese Blickrichtung ermöglicht es mir, das einzelne Kind genauer in den Blick zu nehmen und dabei in der sachlichen Beobachtung und Dokumentation von Verhalten Begleitumstände, die Menschen um das Kind herum, seine Lebenswelt, räumliche und materielle

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Pädagogen wollen von den Eltern gemocht werden 113

6.3.1 »Wir arbeiten in Erziehungspartnerschaft mit den Eltern«

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unus macht zuhause alles anders – »Wir müssen doch alle an einem Strang ziehen.«

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im und Kathi feiern keinen Karneval, Fritz und Fine reagieren bei Fasching ganz verstört – »Aber die Eltern wollen doch den Karneval/den Fasching.«

»Wir sind doch Dienstleister für die Eltern, das wird uns von unse- rem Träger immer wieder gesagt!« – Aus einem falsch verstandenen Dienstleistungscharakter der pädagogischen Arbeit mit Kindern ist der Druck auf die Fachkräte noch größer geworden. Eltern sind sich ihrer Macht den Trägern gegenüber zunehmend bewusst und formulieren ihre individuellen Wünsche sehr dezidiert und konkret, unter Berufung auf das scheinbare »Dienstleistungsverhältnis«. In sich möglicherweise anschließenden Auseinandersetzungen zwi- schen dem pädagogischen Fachpersonal und dem Träger sehen sich viele Fachkräte von ihren Vorgesetzten allein gelassen. »Eltern sind unsere Kunden« und »Eltern haben das gesetzliche Recht auf Mit- bestimmung«, mit diesen Argumenten und »Ja, abers« werden Dis- kussionen innerhalb der Einrichtungen und der Träger sehr schnell abgewendet. Der Kunde ist König, und Mütter und Väter nehmen diese Königsrolle sehr gern ein.

Die Zeilen, die ich hier über die Erziehungspartnerschat mit Eltern schreibe, mögen viele Leserinnen und Leser überraschen, die mich als Verfechter einer engen Zusammenarbeit zwischen pädago- gischen Fachkräten und Eltern kennen. Ich selbst bin ein großer Fan einer echten Erziehungspartnerschat. Erziehungspartnerschat heißt aber keinesfalls, darauf zu setzen, von allen Eltern gemocht zu wer- den und alle Eltern gleichermaßen zu mögen, es allen Eltern recht zu machen, die Elternwünsche zu erfüllen und den Eltern praktische Kinder zu liefern. Erziehungspartnerschat heißt aber auch nicht Elternarbeit, das heißt Arbeit an den Eltern, bis diese zur Einrich- tung, ihren organisatorischen und pädagogischen Zielen und den Wünschen der Fachkräte passen. Erziehungspartnerschat ist eine

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114 »Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!«

Zusammenarbeit mit den Eltern, die mit nur einem einzigen Ziel auskommt: das Wohl der Kinder bestmöglich in beiden Lebens- räumen zu sichern, in denen das Kind aufwächst. Eltern und Fach- kräte tauschen sich dabei über die aktuellen Beobachtungen des Kindes und seiner hemen und Entwicklungsschritte aus und über- legen gemeinsam, was das Kind an Unterstützung in der jeweiligen Lebenswelt braucht. Erziehungspartnerschat dient also ausdrück- lich nicht dem Wohl der Erwachsenen, sondern ausschließlich dem Wohl des Kindes. Sein Wohlbeinden, seine Entwicklung, sein Ler- nen und seine Lebensbewältigung sind dabei die Maßstäbe erfolg- reicher Erziehungspartnerschat. Dazu ein Beispiel:

Ein Kita-Team berichtet in der Fortbildung von verschiedenen he- men, die in letzter Zeit häuig zu Konlikten mit Eltern geführt haben.

Als Beispiele werden dabei das Mittagessen (»Die Kinder essen nicht genug, und die Eltern ärgern sich über die trotzdem gezahlten Bei-

träge«) und der Mittagsschlaf (»Eltern bitten, dass wir die Kinder mittags nicht so lange schlafen lassen, damit die Kinder abends leichter ins Bett zu bekommen seien«) genannt. Inzwischen ist man in der Kita so weit, sogar Listen über das Essen und das Schlafen der Kinder zu führen. Für jedes Kind gibt es somit indi- viduelle Vereinbarungen mit den Eltern darüber, was beim Essen der Kinder zu beachten ist und wie lange die Kinder schlafen sollten. Die Kinder werden mit santem Enthusiasmus zum Essen angeregt (»Alles wenigstens mal probieren!«), und die Schlafzeiten der Kinder werden protokolliert und ggf. die Kinder auch geweckt. Auf mein ehrlich erschrockenes Nachfragen dazu, was dies denn mit den Interessen und dem Wohl der Kinder selbst zu tun hätte, hörte ich eines meiner »Lieblings-Ja, abers«: »Haben Sie denn selber Kinder, Herr Mienert?

Wenn Sie selbst Kinder hätten, dann würden Sie das aber ganz anders sehen.«

Zugegeben, ich reagiere zunehmend empindlicher auf diese Äuße- rung. Sie scheint für mich eines der Grundprobleme in der pädago- gischen Auseinandersetzung zwischen Fachkräten und Eltern zu berühren: die fachliche Anerkennung der Leistungen von Erziehe- rinnen und Erziehern in der täglichen Arbeit mit Kindern. Bedeutet gute pädagogische Arbeit wirklich nicht mehr als nur eine erwartete Dienstleistung von praktischer Betreuung den Eltern gegenüber zu erbringen? Ist man von daher automatisch eine bessere Erzieherin oder ein besserer Erzieher, wenn man selbst Kinder hat und von daher ein besonderes Verständnis für die Wünsche von Eltern ent- wickeln kann? Wie mögen sich die Kolleginnen und Kollegen in den

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Pädagogen wollen von den Eltern gemocht werden 115

Teams angesichts solcher Äußerungen fühlen? In den letzten Jahren haben wir gemeinsam viel für die Verbesserung der fachlichen Qua- lität in den pädagogischen Einrichtungen getan. Anhand der neuen Bildungspläne der Bundesländer haben die Fachkräte ihre Arbeit neu überprüt, neue Konzeptionen entwickelt und die Ziele ihrer Arbeit neu angepasst. Viel wurde in die Verbesserung der Aus- und Weiterbildungen der Fachkräte investiert. Viele Erzieherinnen und Erzieher haben sich über Fach- und Hochschulstudien weiterquali- iziert. Und nun fallen sie in das alte Argument zurück, dass man für die Betreuung der Kinder nichts weiter bräuchte als eigene Kin- der? Was dem gesellschatlichen Vorurteil entspricht, dass eine Erzie- herin oder ein Erzieher kaum mehr als die nette Person sei, die schön mit den Kindern kuschelt und spielt? In der Frage nach dem »Haben Sie denn selbst Kinder?« wird aus meiner Sicht noch ein zweiter Konlikt sichtbar. Was wäre denn tatsächlich anders, wenn ich selbst Kinder hätte? Was genau wäre es, das ich dann ganz anders sehen würde? Ich bin mir sicher, wenn ich selbst Vater wäre, würde es mir heute viel leichter fallen, die Perspektive von Vätern oder Müttern einzunehmen. Ich hätte mehr Verständnis für die Eltern, das gebe ich gern zu. Aber ist es denn meine Aufgabe als pädagogische Fach- krat, die Eltern besser zu verstehen? Ich befürchte, dass ich in dem Moment, da ich die Eltern besser verstehe, möglicherweise die Bedingungen für die Kinder verschlechtere. Diese haben nun zwei Parteien gegen sich, die pädagogischen Fachkräte und nun auch noch die Eltern, die sich gut verstehen. Wer vertritt da die Perspek- tive des Kindes? Denken Sie bei dieser Gelegenheit an Noah und den Mittagsschlaf. Stellen Sie sich vor, Noah würde gern mittags lange schlafen. Es gäbe bestimmt Eltern von solchen Noahs, die dann an Sie herantreten würden und Sie bitten würden: »Lassen Sie den Noah bitte mittags nicht so lange schlafen, ich bekomme den abends immer so schwer ins Bett!«. Wenn ich selbst Mutter oder Vater bin, kann ich dieses Anliegen von Eltern sicher gut nachvollziehen. Ich kenne das Drama des Schlafengehens abends und den verständli- chen Wunsch von Eltern, dass ihr Kind endlich schlät und die Eltern noch etwas Zeit für sich haben. Ich wäre dann also sicher eher geneigt, dem Wunsch der Eltern nachzugeben. Ich würde Noah mit- tags früher wecken. Aber wäre das im Sinne Noahs, der mittags

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8. Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s«

»Wenn ich nur darf, wenn ich soll, aber nie kann, wenn ich will, dann mag ich auch nicht, wenn ich muss. Wenn ich aber darf, wenn ich will, dann mag ich auch, wenn ich soll, und dann kann ich auch, wenn ich muss. Denn schließlich:

Die können sollen, müssen wollen dürfen.

Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte ›wo kämen wir hin‹, und niemand ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen …

Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht. Dass es aber anders werden muss, wenn es besser werden soll, ist gewiss.« Johannes Conrad (1929–

2005)

A

nna hat Angst – »Bei uns werden alle Kinder mit den Eltern ein- gewöhnt.«

»Für die Eingewöhnung der Kinder gibt es bei uns ein festgelegtes Konzept.

Das Konzept beruht auf dem Berliner und dem Münchner Eingewöhnungs- programm. Alle Kinder bekommen bei uns dieselbe Eingewöhnung, mindes- tens drei Wochen in Anwesenheit von Mutter oder Vater. Grundsätzlich wird bei uns kein Kind ohne Eingewöhnung genommen. Manchmal sagen Eltern, sie könnten aus berulichen Gründen keine Eingewöhnung machen. Wir sind zu kreativen Lösungen bereit, Eingewöhnung an einzelnen Tagen, Eingewöhnung am Nachmittag. Zur Not kann auch die Oma oder der Opa die Eingewöhnung machen, wenn zum Kind eine Bindung besteht. Ansonsten weisen wir Eltern ab. Dann können die ihr Kind eben bei uns nicht anmelden.«

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ritta belegt sich selbst ein Brötchen – »Wir fördern die Selbst- ständigkeitsentwicklung der Kinder von Anfang an, auch bei den Allerkleinsten.«

»Soll eine Vierjährige wie Britta bereits mit einem Messer hantieren wie die Gro- ßen? Aber selbstverständlich. Schon im Krippenalter dürfen sich unsere Kinder an den Werkzeugen der Großen ausprobieren. Wir haben richtiges Geschirr für die Kinder mit richtigen Tassen, schönen Gläsern. Die Kinder probieren sich mit Messern, Gabeln und Löfeln aus. Wir selbst sind dabei Vorbild, aber nicht Trainer der Kinder. Beim Bauen verwenden die Kinder richtiges Erwachsenen-

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Referenzen

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