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Archiv "Das Kind ein Objekt von Erziehungsexperimenten?" (02.09.1976)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Vielen von Ihnen wird es in ihrer Praxistätigkeit oder auch als Väter und Mütter in den letzten Jahren ähnlich gegangen sein wie mir als Kinder- und Jugendlichen-Psycho- therapeutin: Da war die durch unser technisiertes Wohlstandsleben oh- nehin nicht ganz einfache Situation für die Kinder — denn es ist ja grundsätzlich schwer nicht in Faul- heit und Genußsucht zu versinken, wenn es dem Menschen in seinem Leben sehr leicht gemacht wird —, da war ohnehin schon der Kampf der Eltern um die Schularbeiten, diese lästige Notwendigkeit, die kleinen lahmen Wohlstandsesel am Laufen zu halten — dieses alles aber doch noch in einem immerhin elterlich zumutbaren Rahmen; aber dann setzte am Beginn der siebzi- ger Jahre plötzlich -ein forsch vor- angetriebener Experimentiertrend in bezug auf die Kinder und Ju- gendlichen ein, der von Laien zu- nächst nur staunend, später in zu- nehmendem Maße skeptisch und verwirrt zur Kenntnis genommen wurde.

Das Leben unserer Kinder wurde anders — man machte es zu einem Versuchsfeld von Großexperimen- ten. Als erstes verschwanden die Dorfschulen. An ihre Stelle trat die Großschule, die sogenannte Mittel- punktschule. In manchen Orten verschwanden auch die Stufen-

schulen, man experimentierte in der sogenannten integrierten Ge- samtschule, das Klassensystem wurde im Oberbau der Schule auf- gelöst. Gleichzeitig wurde das Kin- dertagesstättenwesen ausgebaut.

Die ganztägige Betreuung von Kleinkindern wurde zu einer Lieb- lingsidee unserer Experimentie- rer. Neuerdings plant man die obli- gatorische Einschulung der Fünf- jährigen in einem Vorschulsystem, und unsere Familienministerin hat sogar in den letzten zwei Jahren bereits unter „wissenschaftlicher Begleitung" mit Säuglingen experi- mentiert: ob sie sich nicht viel- leicht bei Tagesmüttern genauso wohl fühlen wie bei ihren leiblichen Müttern. Die Presse hat uns bereits verkündet: Sie tun's, sie tun's! Und die Wissenschaftler haben bestä- tigt: Auch dieses Experiment ist geglückt. Es hat den Stempel „un- schädlich" bekommen und darf in- folgedessen für alle eingeführt wer- den. Wie wunderbar ist unsere Zeit, wie einfallsreich, wie verände-

rungsbereit, wie wandlungsfähig!

Ich bin davon überzeugt: Sie und ich würden diesem frisch-freudigen Experimentierwind dankbar zustim- men, wenn wir nicht in der Praxis zwischen Bekümmerung und Ent- setzen feststellen würden, wie we- nig dieser Trend unseren Kindern bekommt, wie sehr sich ihre Lage Sommer-Seminarkongreß Davos

Voraussage: Nicht „Spitzenmedi- zin", nicht hochtechnisierte Medi- zin standen im Mittelpunkt dieses Fortbildungskongresses, sondern Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, praktische Medizin also, bis hin zum Seminar „Wie halte ich mich fit", das gleichermaßen dem Pa- tienten und dem Arzt galt. Dr. Zim- mermann spielte auf diese Patien- ten- und Praxisnähe an, indem er auf den vor einem halben Jahrhun- dert veröffentlichten „Zauberberg"

verwies, der erfüllt war von den

„Geheimnissen" der Medizin:

„Fortbildungstagungen wie diese nehmen dem ,Zauberberg Medizin' viel von dem ,Zauber`."

Dr. Odenbach schickte unter dem Beifall der Zuhörer einen Gruß an den Mann, der in den letzten 25 Jahren mehr als 125 Kongresse dieser Art veranstaltet hat, an Prof.

Dr. Albert Schretzenmayr, Augs- burg. Er dankte auch dem Zentral- vorstand der Verbindung der Schweizer Ärzte, unter dessen Pa- tronat dieser Davoser Sommerkon- greß steht, der im deutschsprachi- gen Raum seinesgleichen sucht.

Ein besonderer Dank auch an die Referenten (47 waren es in Davos), die sich ehrenamtlich, ohne jedes Honorar, ihrer Fortbil- dungsaufgabe widmen! Odenbach:

„Den Referenten wird lediglich das Reisegeld erstattet und eine Ta- gespauschale für Übernachtung und Verpflegung gezahlt. Vielleicht sollte man einmal darüber nach- denken, was es kosten würde, wenn dies alles der Staat veran- stalten wollte und dann auch be- zahlen müßte."

Daß die Ärzte bei ihrer Fortbildung keineswegs introvertiert nur enge- res Fachwissen pflegen, bewiesen die Auswahl der Referentin und des Themas des Festvortrages wie auch der Anklang, den dieser Vor- trag fand: Frau Christa Meves, Psy- chagogin aus Uelzen, sprach über

„Das Kind: ein Objekt von Erzie- hungsexperimenten?". Das außer- ordentlich instruktive, mit starkem Beifall aufgenommene Referat ist auf den folgenden Seiten wieder- gegeben. DÄ

THEMEN DER ZEIT

Das Kind ein Objekt

von Erziehungsexperimenten?

Christa Meves

Von einem gefährlich-falschen Menschenbild geht die „Reform"

des Schul- und Erziehungswesens und der Kindererziehung aus, die heute unter dem Vorwand Fortschrittlichkeit ganz offiziell be- trieben wird: Fazit des Festvortrages bei der Eröffnung des Som- mer-Seminarkongresses der Bundesärztekammer am 19. Juli 1976 in Davos.

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen Erziehungsexperimente

in den letzten Jahren verschlech- tert hat, wie sprungartig die Ver- haltensstörungen, das seelisch be- dingte Leistungsversagen und die Schulnot der jungen Generation zugenommen haben. Einige Bei- spiele aus der Praxis mögen ein wenig konkretisieren:

Beispiel: Grundschüler als Fahrschüler

Ein Ehepaar, Bauern aus dem Um- kreis Uelzens, kommt mit seinem vierten Kind, einem achtjährigen Mädchen, zur Beratung. Vor zwei Jahren ist die zweiklassige Grund- schule des Dorfes abgeschafft wor- den, man hat das Kind in die'Mit- telpunktschule des nahen Fleckens integriert. Heike versagt in dieser Schule. Sie träumt, sagt die Lehre- rin, sitzt müde in der Bank, betei- ligt sich nicht am Unterricht.

Heikes Schulweg, so berichten die Eltern, sieht folgendermaßen aus:

Um sieben Uhr werden die Kinder mit dem Schulbus abgeholt. Heikes Dorf ist seine erste Station. Dann fährt der Bus von Dorf zu Dorf, sammelt die Kinder ein und liefert sie in der Mittelpunktschule ab.

Fahrtdauer: vierzig Minuten. In die- ser Zeit kann man die nur drei Ki- lometer entfernte Schule auf der direkten Straße auch als Fußgän- ger erreichen. Aber das erscheint den Eltern wegen der belebten Straße noch zu riskant und zu an- strengend für das Kind. Aber auch die lange Busfahrt ist für Heike enorm anstrengend, sagen die El- tern, sie kommt jeden Tag wie zer- schlagen aus der Schule heim.

Schwierigkeiten dieser Art haben die Eltern mit ihren drei älteren Kindern nicht gehabt. Sie waren fröhliche, leistungskräftige Grund- schulkinder, die durch den bemüh- ten Dorfschullehrer sehr zum Ar- beiten angeregt wurden und die jetzt erfolgreiche Oberschüler ge- worden sind. Ist Heike durch den für sie zu langen Schulweg so ein- geschränkt in ihrem Leistungsver- mögen? Der Kinderarzt und ich, die wir kurz nacheinander das Kind zu untersuchen haben, müssen die-

se Frage bejahen; denn Heike hat eine recht gute Intelligenz, so sa- gen unsere Tests, sie ist kein Spät- entwickler, aber von leptosomer, psychasthenischer Konstitution, und der lange Transport zur Schu- le stellt für sie eine Überforderung dar. Und es kommt für Heike noch etwas anderes hinzu, das sie sogar schon selbst ausdrücken kann:

„Wir sind immer so viele", sagt sie, „und die Jungs sind immer so laut, sie schupsen und hauen — auch im Bus, und oft müssen wir

nach der Schule noch so lange war- ten, bis der Bus losfährt."

Zu früh in die Gemeinschaft

Nun ist der Fall wohl ein besonders extremer, aber gewiß kein Einzel- fall. Er zeigt, daß für manches Grundschulkind die Zentralisation zur Großschule eine Überforderung darstellt, die seine Leistungsfähig- keit nicht erhöht, sondern mindert.

Damit will ich nun keineswegs be- haupten, daß die Vorteile, die man sich von der Zentralisierung der Schulen erhofft hat, generell über- haupt nicht sichtbar geworden sei- en. Es ist gewiß richtig, daß auf diese Weise besonders für ältere Schüler durch die Möglichkeit ei- nes vielfältigen Angebots an Fach- lehrerkräften und Lernmitteln eine breitere Bildungsmöglichkeit ent- standen ist. Vom entwicklungspsy- chologischen Gesichtspunkt aus muß man aber doch vor einem zu frühen Fahrschülerschicksal war- nen. Es stellt sicher nicht nur für Heike, sondern auch für viele an-

dere Grundschulkinder eine Verfrü- hung dar. Kinder in diesem Alter müssen ja erst langsam in eine Ge- meinschaft hineinwachsen. Über- dehnte Abwesenheit von der häus- lichen Umgebung, zu große Kinder- massen, zu lange Wartezeiten ver- schleißen ihre Kräfte, weil sie un- lusterzeugend sind. Und die Ver- arbeitung von zuviel Unlust kostet Kraft, die sonst den Lernaufgaben zufließen könnte. Es ist darüber hinaus eine durch nichts begründe- te Fehlvorstellung, daß ein Kind sich in der Masse grundsätzlich geborgen fühlt; im Gegenteil: das Kind wird als Einzelwesen gebo- ren, es braucht viel individuelle Be- treuung durch ein konstantes Du, ehe es die Einengung durch viele Gleichaltrige überhaupt ertragen kann, ohne an seiner Seele Scha- den zu nehmen. Und da es unter den Grundschulkindern heute viele gibt, die in dieser Hinsicht nicht al- tersentsprechend abgesättigt wor- den sind, ist auf Grund einer in ih- rer frühen Kindheit entstandenen psychischen Entwicklungshem- mung im Grundschulalter erst recht noch nicht die Voraussetzung gegeben, Kindermassen zu verkraf- ten. Diese unsere Situation wird bei der Verordnung solcher Maß- nahmen eben häufig nicht gese- hen.

Die Vermassung der Schule ist für Kinder eine starke Zumutung.

Sie verkraften sie nur, wenn sie seelisch gesund sind. Erstklässler heute sind das aber eben nicht, weil die Bedingungen, die seeli- sche Gesundheit bewirken, nicht genug beachtet werden. Wer auf Grund unserer Lebensformen als Kleinkind nicht muttersatt wird, sucht in der Schule die eine Person, die dieses Defizit füllt. Deshalb ist für unsere Kindergeneration der eine Lehrer, der eine Klassenraum, die kleine Zahl so wichtig. Denn Kinderleiden durch Schulvermas- sung zeigen sich selten als ein Un- glücklichsein, das sich artikulieren läßt — sie zeigen sich vielmehr bei den meisten Kindern als Aggres- sionen, als motorische Unruhe, als Unkonzentriertheit im Unterricht und Lustlosigkeit bei den Schular-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Erziehungsexperimente

beiten. Vom entwicklungspsycholo- gischen Gesichtspunkt her möchte man deshalb vor einer verfrühten Integration des Grundschulkindes in die Mittelpunktschule warnen, man möchte, wie es das Baden- Württembergische Kultusministe- rium auch bereits fordert, daran mitwirken, daß die Klassenstärke nicht zu groß, die Schulwege nicht zu weit und Beschulungsmöglich- keiten in kleinen Klassen vor Ort nicht gänzlich abgeschafft werden. 1 ) Beispiel: Neue Lernmethoden Tendenzen zur Verfrühung, die der geistigen Entfaltung der Kinder eher abträglich als förderlich sind, zeigt die Grundschule auch in be- zug auf das kognitive, rein intellek- tualistische Lernen wie in bezug auf die Sexualerziehung. Ich möch- te darauf etwas näher eingehen.

Die Einseitigkeit unseres Zeitgei- stes, der dem wissenschaftlichen Denken mit einer Art Wissen- schaftsvergötzung den höchsten Rang zumißt, hat im letzten Jahr- zehnt dazu geführt, daß man die wertvollen entwicklungspsychologi- schen und methodisch-pädagogi- schen Erfahrungen für das Grund- schulkind, die in der Pädagogik im ersten Viertel dieses Jahrhun- derts gesammelt und die in der Schulpraxis ihre Bewährungspro- ben vorzüglich bestanden hatten, die also schon gute Früchte getra- gen hatten, zugunsten einer ge- hetzten Intellektualisierung der Grundschule wieder vernachlässig- te. Die Stundenzahlen der reinen Lernfächer wurden nun immer grö- ßer, schon in der Grundschule wur- den immer mehr Fachlehrer nötig, und die abstrakte Methode der Re- cheneinführung, die Mengenlehre, setzte dieser Tendenzwende die Krone auf.

• Tendenzen dieser Art mißach- ten, daß Grundschulkinder im all- gemeinen noch keineswegs kausal

1) P. H. Piazolo: Zur Reform des Bil- dungswesens, Zeitschrift des Instituts für Bildungsplanung und Studieninfor- mation Stuttgart, Heft 8, August 1975

zu denken in der Lage sind, sie mißachten, daß das Abstraktions- vermögen dem Menschen bei sei- ner Geburt nicht zur sofortigen Verfügung mitgeliefert wird, son- dern daß der Mensch etwa um die Zehnjährigkeit auf solche Mög- lichkeiten seiner Intelligenz zureift.

Verfrühungen des pädagogischen Eingriffes schaden grundsätzlich, Verfrühungen der Intellektualisie- rung schaden aber speziell, denn sie entmutigen gerade auf diesem so hoch gewerteten Sektor und er- schweren die auf den weiterführen- den Schulen so notwendige Moti- vation zu eigenständigen Leistun- gen gerade in diesem Bereich.

Die Verabsolutierung einer Theorie Als Fachfrau mag man sich verbit- tert fragen, welche Torheit uns in eine solche zusätzliche künstliche Verschlechterung unserer Lage hat treiben können, einer Lage, die von den ohnehin schon psychisch labi- len Kindern der technisierten Welt gar nicht verkraftet werden kann.

Schaut man in bezug auf diese Verschlechterung genau hin, so er- gibt sich, daß wir besonders in der

Nachkriegszeit im pädagogischen Feld einer Verabsolutierung der Milieutheorie verfallen sind. So führte die Erkenntnis über die doch erhebliche erzieherische charakter- liche Beeinflußbarkeit des Men- schen den Pädagogik-Professor Heinrich Roth, der seit 1966 im Deutschen Bildungsrat die wich- tigste Schlüsselstellung der Bun- desrepublik innehatte, zu der Übertreibung, daß dem Menschen generell „unendliche Lernfähigkeit und unendliche Erziehbarkeit" zu- zuschreiben sei.

Wenn aber aus dem Menschen durch seine Erzieher einfach alles zu machen ist, wenn der Mensch, wie einst Rousseau meinte, bei sei- ner Geburt weiches Wachs ist, in das die Erzieher allein ihre Stem- pel prägen, so muß man möglichst früh einsetzen und möglichst früh das aus ihm machen, was nun ein- mal an höchster Stelle steht — und das ist heute der möglichst hoch-

getrimmte Intellekt. Die Schule ist damit in den Sog eines Zeitgeistes geraten, der bedenklich stimmen muß; denn erstens ist der Mensch weniger als halb, wenn er auf intel- lektuelle Einseitigkeit getrimmt und spezialisiert wird; die Lebensferne gar mancher Gelehrter kann uns über diese Sackgasse Mensch nur allzu eindeutig belehren — als Hirnroboter ist der Mensch offen- bar nicht gedacht, er wird dann doch schließlich nur seine eigene Karikatur — und zweitens ist es wissenschaftlich mittlerweile end- gültig klar, daß der Mensch durch sein Erbgut zumindestens teilweise

— in bezug auf die Intelligenz zu mehr als 50 Prozent — vorprogram- miert ist und uns als Erzieher nur, aber immerhin eine Modifikations- breite übrigbleibt.

Dennoch meine ich, daß es sich lohnt, an dieser Stelle zu fragen, warum man in der Pädagogik in den Sog eines solchen Zeitgeistes geraten konnte, eines Zeitgeistes, der sich von der Realität in den Entwicklungsbedingungen des le- bendigen Wesens Kind entfernt und einer einseitigen Hypertrophie des Erziehenkönnens verfällt, die die rasche Bauchlandung bereits impliziert, ja, die jetzt bereits ge- schehen ist.

Neuer Aufguß einer alten Utopie Was steckt dahinter? Nun, ein we- nig versteckt, aber doch ziemlich deutlich läßt sich hinter dieser Gier, aus den Kindern so rasch wie möglich Roboterköpfe zu machen, eine alte gefährliche Versuchung des Menschen entdecken: sich selbst machen zu können, sich al- lein machen zu können. Wenn alle Kinder angeborenerweise gleich sind, werden wir sie nach unserer Nase machen können. Machen wir sie alle zu Wissenschaftlern, so wird der Mensch durch Wissen- schaft und wissenschaftliche Ver- nunft endlich, endlich, in naher Zu- kunft schon, dazu ansetzen kön- nen, sich ein Paradies selbst zu bauen. Diese Versuchung wird als Trend in unserer Gesellschaft ganz

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mächtig und setzt das Kind einer unbekömmlichen Manipulation, ei- ner unbekömmlichen Experimen- tierlust aus.

~ Denn hinter der hektischen Gleichheitsideologie, hinter den unrealistischen, verfrühten, einsei- tigen Trainingsprogrammen der Pädagogik wird ein neuer Aufguß der alten Versuchung des Men- schen deutlich: endlich sein zu können wie Gott, endlich der eige- ne Schöpfer zu sein und der bishe- rigen Abhängigkeit von ihm zu ent- fliehen.

~ Eine Vergewaltigung des Kindes durch Frühkollektivierung und Früh- intellektualisierung als Folge sol- cher Prämissen bewirkt aber lei- der keine Steigerung, sondern eine erhebliche Verringerung des Gesamtniveaus der Intelligenz - eben weil sie sich dann nicht mehr zur rechten Zeit hinlänglich entfal- tet. Dazu fehlt den fehldressierten

Kindern dann die Lust - und kein Lehrer kann sie ihnen, selbst mit den besten, raffiniertesten Metho- ren, dann wieder schaffen.

Ausgangspunkt:

ein falsches Menschenbild

Aber nicht nur dies: Dieser unser ideologische, unrealistische Trend ist es schließlich auch, der die fürchterliche Sackgassensituation an unseren Oberschulen heraufbe- schworen hat. Was dort geschehen ist - dieser Stau einer Riesenmen- ge von Abiturienten, für die man einfach keine Ausbildungsplätze hat, diese gefährliche Notwendig- keit Numerus clausus, diese so künstliche Erschwerung des Le- bens der Jungen, die bei realitäts- gerechter Planung niemals hätte stattzufinden brauchen, ja die hicht einmal stattgefunden hätte, wenn man nur alles beim unvollkommen alten gelassen hätte, sie bleibt gänzlich unbegreiflich, wenn man nicht die einseitige Überwertung intellektualistischer Leistung und die Vermischung dieser Fehlvor- stellung mit einer unrealistischen Egalitätsideologie, wenn man nicht den Hintergrund mitsähe: Der

irre Versuch, den Menschen durch sich selbst und das heißt durch Verwissenschaftlichung selbst ma- chen zu wollen. Ein gefährlich falsches Menschenbild ist auch hier die innersie Ursache unse- rer großen neuen, künstlichen Not. Es ist nicht wahr, daß nur der wissenschaftlich gebildete Mensch etwas taugt. Es ist nicht wahr, daß der Intellekt der höchste

Christa Meves, Autorin des Davoser Vortrages "Das Kind: Ein Objekt von Erziehungsexperimenten ?", der auf die- sen Seiten im Wortlaut wiedergegeben

ist Foto: Hostrup

Wert ist; im Gegenteil dadurch daß man die vielen anders Begab- ten, die zum Handwerk und Kauf- männischen oder Künstlerischen taugen, die zum Fürsorglichen taugen, allein in die Bahn des In- tellektuellen drängt, schafft man nicht nur viel zu viele von dieser einen Sorte - man wird der Ver- schiedenheit der Begabungen nicht gerecht. Man verkennt den Wert vieler Einzelner, wenn man alle über einen Kamm scheren will. Ein solches Streben nach Ge- rechtigkeit mit einem falschen ideo- logischen Ansatz tut vielen, vielen Jugendlichen schreckliches Un- recht an!

Beispiel Sexualerziehung

Von der Tiefen- und Entwicklungs- psychologie her muß ich weiter

Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen Erziehungsexperimente

warnen vor den Auswüchsen, die auf dem Boden einer verfrühten Sexualerziehung erwachsen ist - auch hier auf dem gleichen geisti- gen Hintergrund: Eine Ideologie, die Vorgegebenes, ererbt Mitgege- benes und möglicherweise Ver- schiedenartiges total verleugnet, muß auch leugnen, daß es einen angeborenen, sich allmählich ent- faltenden, mit der Pubertät erst manifest werdenden Sexualtrieb gibt. Nach dieser Ideologie muß Sexualität gelehrt werden - sonst bleibt sie angeblich aus. Sol- che Ideologen sind deshalb leicht an ihren Empfehlungen zur früh- kindlichen Stimulation zur Sexua- lität vom Säuglingsalter ab zu erkennen. "Da sich die Geschlecht- lichkeit ihres Kindes nicht von selbst entfaltet, müssen Eitern durch Erziehung helfen" ist des- halb zum Beispiel auch der Grund- tenor einer Lehrmappe zur Unter- richtung der Familie in Sachen Se- xualerziehung von Klaus Verch.

Dort heißt es: "Eitern müssen über die Geschlechtsorgane ihrer Kin- der gut Bescheid wissen. Sie müs- sen auch die Scheu überwinden, sie nur oberflächlich zu berühren.

Bei (Säuglings)-Jungen muß täglich die Vorhaut des Gliedes bis zum Absatz, der Kranzfurche, zurückge- rollt werden. Mit einem Watte- bäuschchen und klarem Wasser wird die freigelegte Eichel (der Kopf des Gliedes) gereinigt. Bei ei- nem (Säuglings)-Mädchen muß ebenfalls Vorhauttalg entfernt wer- den. Er bildet sich an der Klitoris.

Das Spreizen der Scheidenlippen und das Reinigen mit einem Watte- bäuschchen gehört zur täglichen Körperpflege! Jungen und Mäd- chen müssen von kleinauf lernen, auch diese Körperteile selbständig zu reinigen. Wenn sie dabei ge- schlechtlich etwas erregt werden, ist das ganz natürlich. KlitOris und Eichel sind sehr reizempfindliche Geschlechtsorgane."

~ Hier soll unter dem Schein einer unnötigen Hygiene eine frühe Sti- mulation der Sexualität propagiert werden. Dieselbe Absicht verfolgt die Tendenz zur verfrühten Wek- kung von sexuellen Vollzügen von

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Spektrum der Woche Aufsätze . Notizen Erziehungsexperimente

Kleinkindern. So wird zum Beispiel in der Zeitschrift „Vorgänge", einer an den Hochschulen zweimonatlich verteilten Schrift des Beltz-Verla- ges, in dessen Präsidium die ehr- würdigsten Namen von wissen- schaftlichem Rang wie der Profes- soren v. Hentig, Walter Jens, W. Kilian und Sonnemann aufge- führt sind, das Heft Nr. 5 weit- gehend der Geschlechtserziehung im frühen Kindesalter gewidmet, und es vermittelt den Studenten, Lehrern und lernwilligen Laien neue Weisen der Erziehung der Kinder zur Sexualität. In dem Auf- satz von Margot Rehmann werden aus der Eigenerfahrung einer Mut- ter Anleitungen gegeben, wie be- reits Fünfjährige bei ihrer Mutter Sexualität lernen können. Sie schreibt:

„Der Fünfjährige hat erklärt be- kommen und gesehen, daß zum Koitieren ein steifer Penis gehört.

Er spielt ziemlich heftig mit seinem Schwänzchen und zeigt es stolz der Mutter: ,Schau mal, wie hoch er steht!' Er bewegt ihn wie einen Finger auf und nieder. ,Sieh mal, das kann Pappi nicht mit seinem Schwanz.' Befragt, ob das ein schönes Gefühl sei, antwortet er bejahend; wichtiger als die eigene Lustempfindung scheint ihm im Au- genblick aber die mütterliche Aner- kennung seiner Männlichkeit zu sein. Daß er noch keine Samenflüs- sigkeit produzieren kann, empfin- det er als große Frustration, aber er findet einen Ausweg: Kommt nicht auch aus seinem Penis Flüs- sigkeit? Er sitzt auf dem Schoß der Mutter und läßt einige Tropfen auf die Hose fallen — die Erklärungen über den Unterschied nimmt er we- nig begeistert entgegen. — ,Darf ich dich lieben?' Er krabbelt ins Bett der Mutter und rutscht auf ih- rem Bauch auf und nieder. Dann streichelt er ihre Brustwarzen, was beide schön finden."

• Um es noch einmal herauszu- stellen: Diese Textstelle entstammt nicht etwa einem Pornoheft oder der St.-Pauli-Presse, sondern einer mit Hilfe prominenter Wissen- schaftler sanktionierten und legiti-

mierten Zeitschrift für Pädagogen und Studenten. Sehr pointiert ist nicht nur in dieser Zeitschrift, sondern generell in der sogenann- ten emanzipierten Sexualpädagogik von ähnlichen Befreiungsvorschlä- gen der Kinder zu lustvollem Erle- ben ihrer Sexualität die Rede.

Rousseau und Freud, durch Marx „aufgefrischt"

Manipulationen unserer Kinder in dieser Art beruhen nun freilich kaum nur auf einer Fehlinterpre- tation der Lehre Freuds allein.

Sie sind Auswirkungen einer un- haltbaren, wissenschaftlich abso- lut unbegründeten, in der Ideolo- gie von Marx aufgefrischten Ge- sellschaftskritik des 18. Jahr- hunderts, nämlich der anthropolo- gisch unzutreffenden Theorie Rous- seaus, daß der Mensch bei sei- ner Geburt ein „unbeschriebe- nes Blatt", eine Tabula rasa sei, und daß jegliches Verhalten, auch das sexuelle, erst gelernt werden müsse. Diese Theorie ist zweckge- bunden, sie will dem Menschen suggerieren, daß er allein durch herrschsüchtige Manipulationen ein Benachteiligter geworden sei.

Sie hat nichts mit der Realität der Erkenntnis zu tun, daß Sexualität dem Menschen vorgegeben ist, daß sie in der Kindheit allmählich reift und mit den Hormonausschüt- tungen der Pubertät manifest wird.

An dieser Erkenntnis besteht wis- senschaftlich überhaupt kein Zwei- fel — daß ganze Heere von Stu- denten auf den Pädagogischen Hochschulen der Bundesrepublik heute etwas anderes lernen müs- sen, ist nur ein Zeichen dafür, daß wir armen Deutschen wieder ein-

mal im Begriff sind, einer Indoktri- nation zu verfallen.

Daß es sich bei diesen Warnungen keineswegs um prüden Konserva- tismus handelt, mag am Beispiel Schwedens noch etwas deutlicher werden: In Schweden wird der eben beschriebene Trend in der Sexualerziehung seit langem als kollektiver Erziehungsstil verfolgt und kann uns Auskunft geben über die Folgen dieses pädagogischen

Großexperiments. Dr. Gösta Rho- de, der Abteilungsleiter für Sexual- erziehung in der schwedischen Aufsichtsbehörde für das Schulwe- sen, setzt seit langem folgende An- sicht in den Schulen durch:

„Wir haben keine ethischen Nor- men für die Erziehung und keine

Regeln für das sexuelle Verhalten...

Die neue Schule hat keine Angst vor 13jährigen Beischläfern . . . Wir halten auch nichts von der An- sicht, der Koitus sei der höchste Ausdruck der Liebe, oder er stelle auch nur irgendeine Krönung dar.

Seine Bedeutung muß herabgemin- dert werden ... Wir wollen nicht, daß die Kinder ihr sexuelles Leben in einer Gefühlswolke beginnen.

Das Gefühl muß aus dem Sex ver- bannt werden. Was wir wollen ist, daß die Kinder ... rational zuein- ander kommen." 2)

Die Folgen dieses Erziehungsexpe- riments, 1929 begonnen, 1956 zum Großschulexperiment erhoben, be- schreibt der Engländer Huntfort in einer gründlichen Analyse Schwe- dens in seinem Buch: „Wohlfahrts- diktatur" folgendermaßen:

„Die schwedische Sexualpolitik hat nicht so sehr Emanzipation einge- bracht als vielmehr eine Konven- tion durch eine andere ersetzt.

Wenn die alte Moral Unterdrük- kung beinhaltet hat, dann führt die neue Libertinage zur Zwangsse- xualität. Unter schwedischen Schulkindern scheint man sich schon regelrecht zum Beischlaf ge- zwungen zu fühlen, ob man nun will oder nicht . . . Und dennoch sind die Schweden nicht wirklich zufrieden. Die Kopulationsfreiheit hat zu einer sexuellen Besessen- heit geführt, die das ganze schwe- dische Leben durchtränkt." (eben- da S. 266 ff.)

• Eine schwedische Kommission hat jüngst die Ergebnisse die- ses Experiments zusammenge- stellt: „Die Zahl der wegen Verge- waltigung Verurteilten, mit einem zunehmend steigenden Anteil Ju-

2) Zitiert nach: Huntford, R.: Wohlfahrts- diktatur, Ullstein 1971, S. 265 ff.

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Erziehungsexperimente

gendlicher, ist von 1950 bis 1972 um 400 Prozent gestiegen; die Zahl der aufgeklärten Fälle von Homo- sexualität an Jugendlichen unter 15 Jahren ist von 1973 bis 1974 um 100 Prozent gestiegen; die Zahl un- erwünschter Schwangerschaften bei Mädchen unter 14 Jahren ist um 900 Prozent zwischen dem Jah- re 1956 und dem Jahr 1972 gestie- gen. Im Jahre 1973 hat man mit 681 Lebendgeburten bei 14- bis 16jähri- gen absoluten Rekordhöchststand erreicht. Die Zahl der durchgeführ- ten Schwangerschaftsunterbre- chungen bei Mädchen unter 15 Jahren ist zwischen 1968 und 1974, trotz Freigabe der lnterruptions- möglichkeit um 200 Prozent ange- stiegen, trotz Aufklärungskampag- ne mit Präventivmitteln und so wei- ter. Die Zahl der Interruptionen ist bei 19jährigen von 2500 auf 7400 pro Jahr angestiegen, nur um eini- ge klare Zahlen und nicht Prozent- zahlen zu nennen. Die Zahl der Fälle von Gonorrhoe ist bei Kin- dern unter 14 Jahren zwischen 1950 und 1972 um 900 Prozent an- gestiegen. Die Zahl der Fälle bei unter 19jährigen hat sich von 1600 auf 7000 Fälle gesteigert." Die Un- tersuchung entstammt einer ge- meinsamen Initiative des Schwedi- schen Sozial- und Justizministeri- ums. (Vorgetragen in einer Po- diumsdiskussion der „Salzburger Nachrichten" am 16. 6. 1976 von Dr. med. A. Staudach, Landeskran- kenhaus Salzburg.)

Neben dieser erschreckenden Bi- lanz haben neueste Statistiken auf- gedeckt, daß bereits jeder zehnte jugendliche Schwede alkoholkrank ist — eben gewiß nicht zuletzt, weil die Notwendigkeit, sich zu betäu- ben, grundsätzlich dort erheblich ansteigt, wo Sinnlosigkeit, Lange- weile und Gleichgültigkeit den Menschen in ein nicht mehr über- bietbares Unglücklichsein hinein- stürzen.

Man mag einwenden, daß die sexu- elle Libertinage allein dieses ge- waltige kollektive Unglück nicht heraufbeschworen haben kann.

Das ist richtig; aber dennoch ist sie ein höchst gewichtiger Pfeiler

dieser Entwicklung. Praxiserfah- rung, das Wissen auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie, der Psychoanalyse, der Biologie und der Psychopathologie über die Ent- wicklungsbedingungen der Art Mensch im allgemeinen und seiner Sexualität im besonderen können bestätigen, daß eine derart brutal und pornographisch gehandhabte Sexualerziehung die bösesten Fol- gen haben muß.

Die kollektive Gefahr, die daraus resultiert, daß viele Kinder auf Grund solcher Fehlvorstellungen ih- rer Erzieher zu schweren existen- tiellen Fehlhaltungen gebracht wer- den, ist evident. Sie bedeutet nicht nur Gefühlsabstumpfung und -ver- armung durch die Sinnentleerung der Sexualität und als Folge der Überstimulation, sie bedeutet Re- duktion des Geistes, des Intellekts und der schöpferischen Phantasie;

sie bedeutet darüber hinaus die massive Verstärkung einer allge- meinen Bindungslosigkeit in den Beziehungen unter den Erwach- senen. Denn die dem jungen Er- wachsenen natürliche Verknüpfung von Liebe und Sexualität ist ur- sprünglich ein starkes Zugmittel für die Dauerhaftigkeit der Bezie- hung, die damit die Chance erhöht, daß die aus der Verbindung her- vorgehenden Kinder in der Gebor- genheit und dem Schutz eines Ne- stes aufwachsen können, ohne den die seelische Gesundheit des Her- anwachsenden automatisch dezi- miert wird.

• Die sogenannten Progressiven, die unsere Kinder manipulieren wollen, sind im Grunde also kei- neswegs fortschrittlich, sondern in einer gefährlichen Weise Rück- schrittler, denn sie bedrohen durch ihre Eingriffe den Fortbestand des- jenigen Kollektivs, in welchem es ihnen gelingt, hinreichende Brei- tenwirkung zu entfalten.

Beispiel:

Das Experiment „Tagesmütter"

Die gleiche Tendenz, wenn auch auf einem anderen Sektor, steckt in den Experimenten mit Tages-

müttern von Säuglingen. Das Gan- ze sieht wiederum so nett, so freundlich aus: 800 000 Babies und Krabbelkindern, deren Mütter ar- beiten müssen, weil angeblich sonst nicht genug Geld zum Leben da ist, soll geholfen werden: Sie können in einer Tagespflegestelle untergebracht werden. Damit es genug Frauen gibt, die ihre Tür und ihr Herz für eine solche Aufga- be öffnen, werden sie vom Staat für diesen Dienst honoriert.

Um sicher zu sein, ob eine solche Maßnahme realitätsgerecht ist und den Kindern bekommt, wurde vor dem endgültigen Startschuß auf Bundesebene zunächst vor zwei Jahren mit 300 Kindern ein wissen- schaftlich begleiteter Versuch un- ternommen — so vorsichtig und umsichtig ist das Ministerium.

Dies ist die Version, unter der die Regierung die Öffentlichkeit über eine neue Reform unterrichtet.

Wer gegen eine so hübsche runde Sache ist, offenbart damit eigent- lich doch wohl nur irgendeine irra- tionale Widerborstigkeit, Reaktio- närstum, Opposition oder Fort- schrittsfeindlichkeit. Und doch tritt hier — ob das dem Ministerium be- wußt oder unbewußt ist, mag da- hingestellt sein — mit lieblicher Stimme und bemalt weißer Pfote der Wolf ins Haus der Geißlein, denn: Diese in jenem Bericht ge- nannte Zahl von 800 000 mutterlo- sen Säuglingen verdeckt die Tatbe- stände.

Die wenigsten dieser Kinder sind in Kinderkrippen unterge- bracht und werden außerhäuslich versorgt. Die meisten von ihnen bleiben noch, zur Zeit wenigstens, bis das Tagesmüttermodell für alle steht, in der konstanten Umgebung des elterlichen Nestes und werden dort im allgemeinen von Großeltern oder anderen Personen, die zur Familiengemeinschaft gehören, be- treut. Jede Konstanz der Pflege- personen und der Umgebung in seiner ersten Lebenszeit ist aber für das seelische Gedeihen des Menschen erheblich viel besser als

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Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen Erziehungsexperimente

häufiger Wechsel, wie das Tages- müttermodell es vorsieht.3)

..,. Damit zeigt sich, daß die Argu- mentation des Ministeriums, man wolle mit dem Tagesmütterprojekt für vernachlässigte Säuglinge ein

"kleineres Übel" schaffen, weil Kinderkrippen und Heime sie mehr schädigen, nicht stichhaltig ist. Für die meisten der 800 000 Babies ar- beitender Mütter wäre das Tages- mütterprojekt das größere Übel, 1. weil es die Kinder aus der Kon- stanz der Umgebung herauslöst und 2. weil es von Staats wegen den Status: arbeitende Säuglings- mutter legitimiert und damit viele junge Mütter geradezu verführt, die prächtige neue Einrichtung in Anspruch zu nehmen. Vom Schreib- tisch her mag so eine Regelung denkbar sein.

ln der Wirklichkeit sieht das Schicksal der Kinder und der un- bekümmert abschiebenden Mütter traurig aus. So berichtet zum Bei- spiel eine Frau, die einen Säugling in Tagespflege genommen hatte:

"Ich war ca. ein Jahr lang eine Art Tagesmutter und kann dieses Pro- blem aus Erfahrung beurteilen. Ein junges Paar - er Student, sie ar- beitete in einem Büro, beide sehr liebenswerte Menschen. Ich be- treue ihr Töchterchen von seiner sechsten Lebenswoche ab täglich von 8.00 Uhr bis zum Nachmittag, manchmal auch länger. Es gab kei- ne Schwierigkeiten, solange das Kind noch im Körbchen lag. Als diese kleine Sandra kriechen und laufen lernte, sah sie mich als ihre eigentliche Bezugsperson an, und es gab stets Tränen und Abwehr, wenn sie von ihren Eitern abgeholt wurde. Sie wollte nur bei mir blei- ben. Das Kind stand in dieser Ab- holphase stets unter einem Schock."

'l Ein umfängliches Literaturverzeichnis zur Deprivationsforschung befindet sich in: Christa Meves, Verhaltenstörungen bei Kindern, Piper 1975, im Kinderneu- rologischen Zentrum, Mainz, Prof. J.

Pechstein, und Hassenstein, B.: Das Projekt Tagesmütter, Z. f. Päd. 20, 415 u. 929 (1974)

Das Bedenkliche aber ist, daß sol- che Sandras ihre täglichen Schocks zwar vergessen, daß sie aber den- noch später den Charakter eines solchen Menschen labilisieren kön- nen. Wie oft zeigt sich in den psy- chotherapeutischen Betreuungen Jugendlicher, daß ihr Unglück- lichsein, ihr Versagen, ihre Haltung der Verneinung und des Hasses in der dumpf empfundenen Urverlet- zung ihre Ursache haben: daß man sie verließ und daß sie nun die Vor- stellung haben, daß der Mensch im allgemeinen treulos und unzu- verlässig ist und daß man sich da- gegen empören muß. Ohne die Vorleistung der Stetigkeit, der Treue, der Verläßlichkeit durch die Erzieher haben sie keine Aussicht diese so lebenswichtigen und

wert~

vollen Eigenschaften in sich selbst und in ihren Kindern zur Entfaltung zu bringen. Menschen mit Urverlet- zungen haben Angst vor neuen Verletzungen und wehren sich au- tomatisch selbst dort, wo von der realen Situation her keine Notwen- digkeit dazu besteht. Menschen, die man in dieser Weise in der Säuglingszeit aus Mangel an Er- kenntnissen schädigte, haben es später schwerer, Vertrauen in die Weit, Glauben an die Menschen und Liebe für sie zu entfalten. Die Lebensschwierigkeiten, die Schul- schwierigkeiten, die dadurch ent- stehen, sind oft unübersehbar groß. Nicht selten werden sie an- fällig für Süchte aller Art.

..,. Szondi bezeichnet die Sucht als einen Ersatz für die veruntreute Mutter.

Experiment an Menschen

Das dreijährige Versuchspro- gramm zur "Sozialisation von Kleinkindern" nun soll dem Modell den Stempel wissenschaftlicher Legitimation vermitteln. Nun, dies ist leichter gesagt als getan. Ein solches Experiment an Menschen kann, abgesehen von dem durch und durch unmoralischen Unter- fangen eines solchen Versuchs, nur stichhaltige Ergebnisse erbrin- gen, wenn sie von Wissenschaft- lern durchgeführt werden, die über

2272 Heft 36 vom 2. September 1976 DEUTSCHES ARZTEBLATT

die Kleinkinderdeprivation bereits langanhaltende Vorerfahrungen ha- ben. Bisher ist nicht bekannt, daß die eine oder die andere Voraus- setzung bei der wissenschaftlichen Regelung des Projekts erfüllt wür- de. Es wurde vielmehr bekannt daß weder ein Psychiater noch

ei~

Psychotherapeut noch ein Kin- derpsychologe am Projekt beteiligt ist.4)

..,. Vor allem aber ist dieses Expe- riment mit Säuglingen deshalb eine fragwürdige Angelegenheit, weil die Schädigungen bei drei- bis vierjäh- rigen Kindern häufig noch so sub- til sind, daß sie auch Kennern nicht immer sofort mit hinreichender Deutlichkeit sichtbar werden. Den roten Faden der Schädigung ein- deutig zu verfolgen, dazu bedarf es eines Beobachtungszeitraumes bis ins Erwachsenenalter hinein. Oft erst an der Schwelle zur Eigenge- staltung des Lebens wird das un- terschwellige Geschwür manifest erst hier erweist sich dann oft

ekla~

tant, daß der Lebensgrund nicht fest genug gebaut ist.

Es ist also ein Scheinstempel, den das Familienministerium sich hier durch sogenannte Wissenschaftlich- keit erworben hat. Die Wissen- schaftler werden in die Funktion des Müllers gedrückt, der dem Wolf die schwarze Pfote fein weiß macht, damit das Geißlein Volk nicht merkt, daß er Schlimmes im Schilde führt. Auf diese Weise ist alles fein abgesichert: das Ministe- rium durch die Wissenschaft, die Wissenschaft durch ihr Recht auf Irrtum, und die Geißenmütter zah- len, wie schon so oft in der Ge- schichte, die Zeche allein; denn nicht einmal zur Therapie der ge- störten Jugendlichen wird diese Wissenschaft eintreten: Wenn Frühschäden dieser Art sich erst als neurotische Verwahrlosung, als Renegatenturn und Süchtigkeit ma- nifestiert haben, gibt es heute kaum die Heiler und Heilverfahren, die als Schere wirksam werden könnten, um die Geißlein aus dem

4) Nach einer Zuschrift von Dr. E. Hirsch- berg im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT, Heft 25/1976, Seite 1696

(8)

Wolfsbauch zu befreien. Abgese- hen davon zeigt sich erst dann, wie teuer dem Steuerzahler neuroti- sche Frühschäden werden müssen.

..". Wie nötig haben die Familien- mütter heute ein Familienministe- rium, das die Belange der Müt- ter und damit der Familie wirk- lich und realitätsgerecht vertritt!

Wie lange ist hier schon durch Unterlassung gesündigt worden, wie hoch soll die Springflut der Neurotisierung der Jugend noch steigen, bis hier von der Regierung her konstruktive Maßnahmen er- griffen werden, die für verantwor- tungsbewußte Eitern gangbar sind?

Bewußter Weg

zur Familienzerstörung

Die allgemeine Marschrichtung ist deutlich erkennbar. Für das Vor- schulalter sind Tagesmütter, Kin- dertagesstätten und Vorschule, für das Schulalter die Ganztagsschule vorgesehen. Die Familie wird ihres sperrigen, individualistischen Ein- flusses beraubt. Denn Familie steht dem Trend zur totalen Gleichheit schlimm entgegen. Familie be- wirkt Vielfältigkeit, unterschied- liches, personales Menschentum.

Diese Fahrtrichtung zur Gleich- schaltung unserer Kinder nach He~

ringsschwarmmanier soll - daran besteht trotz aller Beschönigungen kein z;weifel - konstant fortgeführt werden.5) Die "Sozialisation" der Babies durch Tagesmütter, die sie.

nicht sozial, sondern unsozial wer- den läßt, steht im Dienste des Pro- krustes: Wenn einige Kinder keine konstante Bezugsperson haben, so will man sie möglichst vielen neh- men, um ihnen allen gleich mäßige Chancen für ihr Leben zu bieten.

..". Diese Maxime widerspricht echter pädagogischer Verant- wortung, die uns verpflichtet, jedes Kind auf das ihm mögliche Opti- mum seiner Entfaltung zu fördern;

es widerspricht auch einer staats-

5) S. auch das Interview von Bundeskanz- ler Schmidt mit der Zeitschrift Brigitte, ebenda Heft 16/76 Seite 76/77.

Erziehungsexperimente

politischen Verantwortung, denn mit einem Heer von Frühgeschä- digten läßt sich später ein hohes Leistungs- und Lebensniveau nicht halten; das hängt von der Arbeits- fähigkeit, dem Pflichtbewußtsein und der Einsatzbereitschaft der ar- beitenden Jahrgänge ab. Die aber wird es nur geben, wenn genug Ei- tern auf dem Posten stehen, die bereit sind, für ihre Kinder die Vor- leistungen Einsatz, Pflicht und Ver- läßlichkeit zu erbringen.

..". Nur wenn Sie die eindeutigen Ziele dieser Marschrichtung hell- wach erkennen und mutig genug sind, sich dagegen zu wehren, ha- ben wir in später Stunde vielleicht noch die Chance, diesem Irrweg zu entgehen.

Festvortrag bei der feierlichen Er- öffnung des Internationalen Semi- narkongresses für praktische Medi- zin der Bundesärztekammer in Da- vos am 19. Juli 1976

Anschrift der Verfasserin: Christa Meves, Psychagogin Albertstraße 14

3110 Uelzen

r-ziTAT

Den Kranken stimulieren

"Statt den Kranken zum Mit- mühen um seine Gesundheit zu stimulieren, ,verarztet' ihn das anonyme ,Betreuungssy- stem' als unmündiges Objekt.

Die Anonymität der Kosten verhindert die Erkenntnis der Solidarhilfe durch die Versi- chertengemeinschaft: Der Versicherte ist im Kranken- haus, beim Arzt und bei an- deren Heilbehandlern sowie in der Apotheke unmündiger Kunde."

Dr. Hans-Aibrecht Bischoff, Vorsitzender des Ausschus- ses für soziale Sicherung der Bundesvereinigung Deut- scher Arbeitgeberverbände (BOA), Köln

Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen FORUM

Tests im Hochschul- Zulassungs-

verfahren

für die Medizin

Zu dem gleichnamigen Beitrag von Prof. Dr. phil. Josef Hitpaß in Heft 4/1976, Seite 191 ff.

Hitpaß kommt zu dem Schluß, daß

"nach Abschätzung der noch zu

leistenden Arbeiten ... davon aus- gegangen werden" kann, "daß 1977 ein Testverfahren für Human- und Zahnmedizin als Ergänzung zum Abitur zur Verfügung stehen könnte". Die Misere des Hoch- schulzugangs, die ein von der Öf- fentlichkeit akzeptiertes Auswahl- verfahren bei den derzeitigen auf die Hochschulen zukommenden Abiturientenzahlen politisch not- wendiger als je macht, hat dazu geführt, daß das Bundesministe- rium für Bildung und Wissenschaft seit rund eineinhalb Jahren auf der Suche ist nach Experten, die "wis- senschaftliche" Verfahren entwik- keln, nach denen der Hochschulzu- gang gesteuert werden kann. Die jahrzehntelange Diskussion um die Kriterien für die Auswahl von ge- eigneten Abiturienten hat eines deutlich gemacht: Es lassen sich die vielfältigsten Arten von Tests und sonstigen Bewertungsverfah- ren entwickeln. Alle haben eine be- stimmte Vorhersagegenauigkeit Allerdings immer nur für einen be- grenzten Ausschnitt des vom Arzt verlangten Wissens und Könnens.

Eben dieses geforderte Wissen und Können ist aber Gegenstand von Bewertungen, bei denen es immer auf den Standpunkt des Bewerters ankommt. Es ist daher in erster Li- nie Gegenstand von gesundheits- politischen Entscheidungen.

Bei den Multiple-choice-Prüfungen im Medizinstudium haben bisher in eindeutiger Weise die Studenten mit den besten Abiturnoten auch am besten abgeschnitten. Will man daraus den Schluß ziehen, daß also die besten Abiturienten auch die besten Ärzte werden? Der vor-

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 36 vom 2. September 1976 2273

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