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Archiv "Kriegskinder: Erst im Alter wird oft das Ausmaß der Traumatisierungen sichtbar" (05.04.2013)

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A 656 Deutsches Ärzteblatt

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eder Krieg hinterlässt Kriegs- kinder – eine Generation, die im Krieg geboren und aufgewach- sen ist und ihn samt seiner Folgen miterlebt hat und, bei den neuen Kriegen, immer noch miterlebt.

Solche Erlebnisgenerationen zeitig- ten die beiden Weltkriege. Aber auch die ungezählten Kriege in Vietnam, Exjugoslawien, Ruanda, der Golfregion und Afghanistan, um nur einige zu nennen, haben ih-

re Kriegskinder. Von ihnen (und ihren Müttern und Verwandten) und ihren Traumata ist öffentlich wenig die Rede. Weniger jedenfalls als von den Kämpfern und deren post- traumatischen Belastungsstörungen, die sie zum Beispiel am Golf oder in Afghanistan erlitten haben.

Besser steht es um die (deut- schen) Kriegskinder des Zweiten Weltkrieges. Seit gut einem Jahr- zehnt wird erforscht, was aus ihnen

geworden ist, welche Spätfolgen ih- re Kriegs- und Nachkriegserlebnisse hatten und wie sie gegebenenfalls behandelt werden können. Eine Fül- le von wissenschaftlicher Literatur, von Sachbüchern, Dokumentatio- nen und Reportagen zeugten vom Interesse an den Söhnen und Töch- tern ohne Väter. Ein erster Kongress führte 2005 etwa 600 Experten in Frankfurt am Main zusammen (sie- he „Kollektive Aufarbeitung not-

Foto: ullstein bild

KRIEGSKINDER

Erst im Alter wird oft das Ausmaß der Traumatisierungen sichtbar

Seit einem Jahrzehnt wird erforscht, was aus den zwischen 1930 und 1945

Geborenen geworden ist. Ein Thema für alle, die Senioren behandeln und pflegen.

Ein Kongress in Münster über Kindheit im Zweiten Weltkrieg

Kinder in den Ruinen von Nürn-

berg, um 1946

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wendig“, DÄ, Heft 17/2005). Nun folgte ein zweiter, in Münster am 22. und 23. Februar mit circa 300 Teilnehmern. Es hätte nach Aus- kunft des Veranstalters, Prof. Dr.

med. Gereon Heuft, dem Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätskli- nikum Münster, die doppelte Zahl sein können. Doch die Tagungs - kapazitäten in der Katholischen Akademie in Münster reichten ein- fach nicht. Das Interesse war jeden- falls überwältigend, der Kongress ein interdisziplinäres Unterfangen, an dem Ärzte und Psychologen, ins- besondere Psychotherapeuten, Zeit- historiker und Sozialwissenschaftler beteiligt waren. Dazu kamen Auto- ren und Autorinnen (diese vor al- lem), die zum Schicksal ihrer Eltern und damit auch dem eigenen recher- chieren oder dem zunehmenden Trend zur Erforschung der jüngeren Vergangenheit folgen. Im Mittel- punkt des Kongresses stand die sogenannte Erlebnisgeneration der 1930 bis 1945 Geborenen und deren Nachkommen.

Die Kriegskinder-Forschung be- gegnete anfangs vielen Vorbehal- ten. Der schlichteste, inzwischen längst widerlegte Einwand, war noch der, es gebe keine sich nach Jahrzehnten manifestierende Trau- matisierung. Politisch brisanter war der Vorwurf von Shoa-Überleben- den, der Blick auf die Kriegskinder führe dazu, den Mord an den Ju- den zu relativieren. Noch auf dem Frankfurter Kongress 2005 verwahr- te sich Dr. Dieter Graumann von der jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main gegen ein „Einebnen der Unterschiede“, vor allem dürfe die

„Frage der Schuld nicht ausgeblen- det werden, wenn Deutsche als Op- fer des Krieges thematisiert werden“.

Jahrzehntelang Tabuthema Beim Münsteraner Kongress erin- nerte Prof. Dr. med. Hartmut Rade- bold, einer der frühen Protagonisten der Kriegskinder-Forschung, jetzt daran, dass man sich noch in den Jahren 2000 bis etwa 2003 die Frage stellte, ob eine Forschung zu deut- schen Kriegskindern „erlaubt“ sei.

Das Thema galt auch den über Jahr- zehnten intellektuell tonangebenden

„68ern“ als tabu. Die Autorin Sabine Bode („Die vergessene Generation.

Kriegskinder brechen ihr Schwei- gen“, 2004) berichtete in Münster, dass sie sich gegenüber ihren 68er Gesinnungsgenossen – sie ist Jahr- gang 1947 – wegen ihres Interesses rechtfertigen musste. Ihre Argumen- tation: Auch wenn die Deutschen als Tätervolk unendliches Unrecht ver- ursacht hätten und sich dessen be- wusst sein müssten, so hätten doch die deutschen Kinder ihrerseits viel Leid erfahren, das es wert sei, gehört und erkannt zu werden. Leid gegen Leid könne, so die Autorin, niemals aufgerechnet und durch das Befas- sen mit den Kriegskindern nicht die Täterschuld relativiert werden.

Dem Vorwurf Graumanns von 2005, die „Holocaust-Kinder abge- drängt“ zu haben, begegneten die Kongressmacher des Jahres 2013 unter anderem, indem sie die Sozial- psychologin Prof. Zahava Solomon, Tel Aviv, prominent zu Wort kom- men ließen. Das bot sich auch von der Sache her an. Denn Solomon, ei- ne renommierte Traumaforscherin, hat sich mit den Folgen der von Is - rael geführten Kriege 1973 und 1982 sowie dem Golfkrieg von 1991 für die Gesellschaft und den Einzel-

nen differenziert auseinandergesetzt.

Das auch mit Bezug zur Shoa.

Bei Überlebenden der nationalsozia- listischen Judenverfolgung, die im Alltag lange unauffällig gelebt hat- ten, brachen beim Golfkrieg alte Er- innerungen auf. Sie reagierten mit Stress und Ängsten, von denen sie sich nur schwer erholen konnten.

Die Kinder seien von den Verletzun- gen ihrer Eltern mittelbar betroffen (secondary traumatization). In den Familien sei über die Vergangen - heit zwar nicht gesprochen worden (conspiracy of silence), man habe sich mit dem Aufbau des jungen Staates beschäftigt, doch seien die Ängste der Eltern spürbar gewesen und hätten sich in einer übertriebe- nen Besorgnis für die Kinder aus - gedrückt. Erst die Enkelgeneration stehe dem Geschehen unbefangener gegenüber. Sie informiere sich und reise zum Beispiel nach Polen. Das Schweigen sei nun gebrochen. Die Frage, ob bei Überlebenden von Krieg oder Völkermord – der Shoa oder des Genozids in Ruanda etwa – ein signifikant höheres psychopa- thologisches Risiko zu beobachten ist, kann Solomon zufolge nicht eindeutig beantwortet werden: Bei einigen ja, bei anderen nein. Aber da seien natürlich die flashbacks, siehe die Reaktionen auf den Golfkrieg.

Folgen erst im Alter sichtbar Solomons Ergebnisse gleichen de- nen anderer Traumaforscher. Das lange Schweigen der Betroffenen, die unauffälligen Zeiten mit dem Blick nach vorn, die aufblitzenden Erinnerungen (flashbacks) bei aku- ten Ereignissen, das Aufflammen traumatischer Erlebnisse im Alter, die stillschweigende Weitergabe der Traumatisierung an die Kinder, de- ren Ahnen, aber Nichtwissen vom Leid der Eltern.

Erinnern kennzeichnet zwar oh- nehin das Alter – das sagt jenseits al- ler Forschung schon die Lebens - erfahrung –, doch bei den Kriegskin- dern wird „oft erst im Alter das gan- ze Ausmaß der Folgen sichtbar“, er- läutert die Entwicklungspsychologin Prof. Dr. phil. Insa Fooken, Siegen.

Und dann treffen, ergänzt Heuft, die alten Bedrohungen auf die Bedro- hungen des Alters. Man schätzt, dass Spiele inmitten

einer in Trüm- mern liegenden Stadt

Foto: SZ Photo

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etwa ein Drittel der Kriegskinder traumatisiert ist, etwa fünf Prozent schwer. Es gebe zwar unendlich vie- le hilfsbedürftige Kriegskinder, doch nicht alle gingen zum Arzt, auch wenn sie psychopathologisch auffäl- lig seien, vermutet Fooken und for- dert Aufklärung durch die Medien.

Radebold und Heuft fordern zu- dem von (Haus-)Ärzten und Psycho- therapeuten, bei Patienten der ein - schlägigen Jahrgänge an mögliche Kriegsfolgen zu denken – und nach- zufragen (siehe „Drei Fragen an . . .“). Dazu bedarf es Geduld. Denn ein Kennzeichen von Kriegskindern scheint das beharrliche Schweigen zu sein. Der Psychoanalytiker Dr.

phil. Werner Bohleber, Frankfurt am Main, spricht von innerem Rückzug und nennt als Beispiel Kinder, die merkten, dass ihnen ihre Mutter, ei- gentlich der Inbegriff der Zuflucht, bei einem Bombenangriff keinen Schutz bieten konnte. „Je jünger das Kind war, desto eher der Rückzug“ – und damit auch das Nichtverarbeiten der Vergangenheit.

Wiederbelebte Kriegserlebnisse können eine posttraumatische Belas- tungsstörung im Sinne von ICD 10/

F 43.1 hervorrufen, Depressionen,

Ängste, Panikattacken, Alpträume, psychosomatische Erkrankungen. Als Therapieziele empfahlen in Münster mehrere Referenten, die alten Erfah- rungen aufzuarbeiten, zu akzeptie- ren und in das Leben einzubeziehen, gemäß dem Merksatz: „So ist mein Leben gewesen“ (Heuft).

Übertragung der Lebensangst Den Kindern und Enkeln der Kriegs- kinder kommt eine besondere Rolle zu. Auch sie sollten geduldig nach- fragen. Und das auch im eigenen Interesse, denn sie können so „ge- ahntes Wissen“ (Bohleber) ans Licht bringen und noch dazu einiges über sich erfahren. Das geht sehr berüh- rend aus den Büchern von Anne-Ev Ustorf („Wir Kinder der Kriegs - kinder, 2008) und Katja Thimm („Vatertage“, 2011) hervor. Sie be- handeln die Probleme der Kriegs -

„enkel“. Laut Ustorf fordert die traumatisierte Elterngeneration von ihren Kindern besonders viel fami- liären Zusammenhalt und überträgt einen Teil ihrer Lebensangst auf die nachfolgende Generation, von der sie Leistung erwartet und deren Misserfolge sie ignoriert oder ver- drängt. Thimm schildert eindrucks-

voll den Lebenslauf ihres Vaters, der als Kriegskind und zudem Heimat- vertriebener doppelt belastet war.

Sie als Tochter nahm die Folgen sei- ner Verletzungen im Kindesalter al- lenfalls als Merkwürdigkeiten und Marotten wahr. Erst als er alt, krank und hinfällig war, brach er der be- harrlich fragenden Tochter gegen- über sein Schweigen.

Solches Fragen und Zuhören wä- re zwar allgemein wünschenswert, kann aber häufig weder von Thera- peuten mit ihrem vorgegebenen Zeitbudget geleistet werden noch von den pflegenden Angehörigen, die ständig mit organisatorischen Dingen überrollt werden. Erst recht kann es nicht im Altenheim, der Endstation vieler alter „Kriegskin- der“, erwartet werden, selbst wenn es sich um eine teure Seniorenresi- denz handelt. Das Personal steht un- ter großem Zeitdruck, ist gesprächs- therapeutisch zumeist wenig quali- fiziert und oft nicht einmal der deut- schen Sprache mächtig. Da bleibt es wohl weiterhin bei dem der Öffent- lichkeit selten bewussten Zustand:

„In deutschen Altenheimen tobt der Zweite Weltkrieg“ (Katja Thimm).

Bei den Kriegskindern verfolgen Medizinberufe und Historiker un- terschiedliche Interessen. Historiker sind bei oral history auf nachprüfba- re Fakten aus, das Zeitzeugeninter- view soll ihnen Material liefern, sie vernachlässigen dabei die Empathie mit dem Befragten. Umgekehrt die Mediziner: Im Blick das Individu- um, der historische Hintergrund fehlt (oft). Doch benötigen auch sie gerade bei der Therapie von Kriegs- kindern die historischen Zusam- menhänge, denen die Kriegserleb- nisse zuzuordnen sind.

Immerhin, Therapie kann manch- mal auch einfacher sein: eine Nach- frage, das Gespräch im Miteinander der Generationen, Erfahrungsaus- tausch in (moderierten) Gruppen.

Was aber, wenn das alt und sehr alt gewordene „Kriegskind“ kaum noch ansprechbar ist? „Auch der Schwerst - demente hat Gefühle“, versichert der Gerontologe Prof. Dr. med. Rolf.

Hirsch, Bonn, und ergänzt: „Umar- men kann man auch noch im Alter

lernen.“

Norbert und Adelheid Jachertz Wann sollte der Arzt an frühe-

re Kriegstraumata denken?

Heuft: Wenn er Patienten der Jahrgänge 1930 bis 1945 vor sich hat, soweit sie zeitge- schichtliche Erfahrungen ha- ben. Etwa ein Drittel dieser Jahrgänge hat schwere Erleb- nisse hinter sich. Viele dieser Kriegskinder haben ihr Leben bewältigt, indem sie aktiv nach vorne dachten. Aber jetzt, im Al- ter, besteht ein erhöhtes Risiko, dass die Traumatisierungen wieder zutage treten und sich in psychischen Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten äu- ßern. Ängste, Depressionen, auch funktionelle Körpersym - ptome, zum Beispiel nach einer

als lebensbedrohlich empfun- denen Krankheit können mit Kriegstraumata zusammenhän- gen. Die Symptome können sehr unspezifisch sein.

Wer übernimmt sodann die Abklärung?

Heuft: Der normale Hausarzt könnte im Verdachtsfall erste Fragen nach der Kriegsbelastung stellen. Dazu bedarf es jedoch bei den Hausärzten weiterer Sen- sibilisierung, etwa im Rahmen der Weiterbildung zur „Psychoso- matischen Grundversorgung“.

Wie ist das weitere Vorgehen?

Heuft: Bei manchen Betroffe- nen können Gespräche im

Rahmen der Psychosomati- schen Grundversorgung aus- reichen. Wenn die Symptome persistieren oder schlimmer werden, dann sollte an einen Spezialisten überwiesen wer- den. Allerdings haben auch die Psychotherapeuten oft noch erheblichen Informationsbe- darf bezüglich der Psychothe- rapie Älterer. Es ist empfeh- lenswert, sich in der Region, in der man arbeitet, nach ambu- lanten und stationären Be- handlungsmöglichkeiten für Ältere mit Trauma-Reaktivie- rung im Alter umzuhören.

Denn den Betreffenden ist mit traumafokussierenden Techni- ken oft gut zu helfen.

3 FRAGEN AN . . .

Prof. Dr. med. Gereon Heuft, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Foto: UKM

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