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Archiv "Melancholie: Eine ungewöhnliche Krankheit" (31.10.1991)

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DAS EDITORIAL

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Melancholie

Eine ungewöhnliche Krankheit

rzte und Laien sprechen heute viel von Depression, als ob es sich um eine Krankheit handele. Tatsächlich aber ist Depression keine Krank- heitsbezeichnung, wenigstens nicht ohne nähere Bestimmung. Depressiv heißt be- drückt oder niedergeschlagen, beinhaltet also ein Symptom oder allenfalls Syndrom. So gese- hen gibt es nicht die Depression. Depressivsein kann in sehr verschiedenen Zusammenhängen stehen. Zur Differenzierung muß eine nähere Kennzeichnung hinzugefügt werden, zum Bei- spiel reaktive Depression, neurotische Depressi- on, endogene Depression, organische Depres- sion.

Zwar gibt es auch eine Theorie, die besagt, man könne letztlich nicht zwischen verschiedenen Depressionen unterscheiden, sondern es handele sich um eine Krankheit mit verschiedenen Akzen- tuierungen und Schweregraden. Für diese Theo- rie sprechen wohl einige Argumente. Aber es gibt klinisch und pathophysiologisch mehr Hinweise dafür, daß zwischen verschiedenen Depressions- formen zu unterscheiden ist. Klinisch gesehen ist eine Differenzierung geradezu geboten; denn dif- ferentialdiagnostisch sind verschiedenartige De- pressionstypen zu erkennen, die sich hinsichtlich der Therapieindikationen unterscheiden. Würde man auf diese Unterscheidung verzichten, nähme der Patient Schaden.

Was ist Melancholie?

Von den verschiedenen Depressionsformen hebt sich eine besonders ab, und zwar durch Symptomatik und Selbsterleben, durch den Kurz- und Langzeitverlauf sowie durch die The- rapie-Response. Gemeint ist die Melancholie. So heißt die Krankheit seit Hippokrates und Para- celsus. Eine Zeitlang wurde sie auch endogene Depression oder zyklothyme Depression ge-

nannt. Die neueren internationalen Klassifika- tionen formulieren etwas blaß: typische (schwe- re) depressive Episode, wobei meist hinzugefügt wird: mit Melancholie (oder: mit psychotischer Symptomatik). Die Bezeichnung Melancholie setzt sich aber wieder mehr und mehr durch.

Melancholien können einmalig oder wieder- holt auftreten; sie kommen auch im Wechsel mit Manien vor, was man bipolare Verlaufsform nennt. Das gesamte Krankheitsbild heißt affekti- ve Psychosen oder affektive Störungen, was den älteren Bezeichnungen manisch depressive Krankheit oder Zyklothymie entspricht.

Ungewöhnliche Symptomatik

Anders als sonstige Depressive ist der Me- lancholische gerade nicht traurig. Er fühlt sich leer, gleichgültig, versteinert, unlebendig und unfähig zum Fühlen, auch unfähig zum Traurig- sein. Da der Kranke hierunter leidet, bezeichnet man die Störung als gefühlte Gefühllosigkeit.

Während viele Depressive gehemmt sind, er- lebt der Melancholische eine durchgreifende Blockierung seines gesamten Antriebs, so daß er sich kaum zu etwas aufraffen kann. Alltägliches erscheint ihm wie ein Berg, der Zeitfluß ist ver- zögert. Mit dem „Wollen", das die Umgebung oft bemängelt, hat diese Störung nichts zu tun.

Der Melancholie-Patient ist gleichzeitig kör- perlich krank. Seine vegetativen und manche Stoffwechselfunktionen sind derart mitbetroffen, wie man es bei anderen psychischen Krankheiten nicht beobachtet. Diese körperlichen Störungen sind objektivierbar, zum Beispiel Dysorthostase des Kreislaufs, Gewichtsverlust, zuweilen herab- gesetzte Glukose-Toleranz, oft veränderte Corti- sol-Sekretion.

Trotz dieser tiefgreifenden psychischen und körperlichen Störungen zweifelt mancher Pa- tient mit schwerer Melancholie daran, krank zu sein. Statt Krankheit nimmt er eigenes Versagen Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991 (59) A-3731

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und persönliche Schuld an. Diese Form von Krankheitsuneinsichtigkeit gibt es bei keiner an- deren Krankheit.

Schwerstes Leiden

Während die meisten psychischen Krankhei- ten mit vielgestaltigen Symptomen einhergehen und eine große Variabilität des Krankheitsbildes aufweisen (zum Beispiel Neurosen oder Schi- zophrenien), ist die Melancholiesymptomatik ei- gentümlich einförmig. Was oben skizziert wurde, sind die wesentlichen Störungen. Nur die thema- tischen Ausgestaltungen können individuelle Zü- ge zeigen. Das melancholische Erleben ist das tiefste Leiden, das einem Menschen widerfahren, kann. Das betonen Patienten, welche die Melan- cholie mit einer vorausgegangenen sehr schwe- ren körperlichen Krankheit vergleichen können.

aber gute Prognose

Hiermit kontrastiert die vollständige Rück- bildung aller Melancholiesymptome am Ende der Phase. Auch das ist in der Medizin unge- wöhnlich: Auf einen extrem schweren Leidens- zustand folgt ein absolutes Wohlbefinden. Was der Melancholische während der Krankheitspha- se nicht glaubt und sich nicht vorstellen kann, tritt mit Sicherheit ein. Wohl bei keiner anderen Krankheit des Menschen stehen subjektive Ver- zweiflung und Hoffnungslosigkeit auf der einen Seite und objektiv uneingeschränktes Gesund- werden andererseits derart einander gegenüber.

und danach...

Nach der Phase kann der Patient an der Stel- le sozusagen wieder anknüpfen, an der ihn die Krankheit aus seinem gewohnten Lebensrhyth- mus geworfen hatte. Es ist erstaunlich, wie wenig Schwierigkeiten die meisten Genesenen nach der Rückkehr in ihren familiären, beruflichen und sozialen Lebensraum haben. Es scheint, als ob die Krankheit an der Persönlichkeit vorbei- laufe: Obwohl die Persönlichkeit während der Krankheit aufs Schwerste betroffen ist, wird sie durch die Krankheit im allgemeinen nicht verän- dert und in den Lebensbezügen wenig tangiert.

Verlauf

Anders als bei den meisten übrigen Krank- heiten ist auch der langfristige Verlauf. Melan-

cholien beginnen relativ spät, zum größten Teil um das vierte Lebensjahrzehnt. Das Erstmanife- stationsalter liegt im Mittel wesentlich später als bei Schizophrenien und Neurosen. Während die meisten Neurosen und Schizophrenien im mitt- leren bis fortgerückten Lebensalter eine Ab- schwächung der Krankheitsaktivität zeigen, ist das bei Melancholien nicht in gleicher Weise der Fall. Wenn es zu einem multiphasischen Verlauf kommt (der allerdings keineswegs die Regel ist), dann nimmt die Krankheitsaktivität mit den Jah- ren zu: Die Phasen werden häufiger, beziehungs- weise die Intervalle werden kürzer. Das gilt ins- besondere für die bipolare, das heißt melancho- lisch-manische Verlaufsform. Erst im Senium geht die Krankheitsaktivität zurück.

Weitere Besonderheiten der Melancholien sind die Seltenheit der Residualzustände (wie- derum im Vergleich mit neurotischen und schi- zophrenen Krankheiten) und die Beobachtung, daß eine Melancholie als Zweitkrankheit vor- kommen, also zu einer bereits bestehenden an- deren psychischen Krankheit desselben Men- schen hinzutreten kann. Das wird bei anderen psychischen Krankheiten kaum je beobachtet.

Wenig bekannt ist, daß die Melancholie insofern eine gefährliche Krankheit ist, als ungefähr zehn Prozent der Betroffenen durch Suizid sterben.

Diese immer noch hohe Letalitätsrate fordert ei- ne noch intensivere Therapie heraus.

Die Melancholie ist also in vieler Hinsicht ei- ne ungewöhnliche Krankheit. Was hier beschrie- ben wurde, ist nicht neu; Melancholien sind seit Menschengedenken bekannt und beschrieben worden. Die Besonderheiten müssen aber heute sozusagen neu entdeckt werden, nachdem allzu- viel von „der Depression" die Rede ist und Dif- ferenzierungen versäumt werden.

Behandlung

Unter den zahlreichen depressiven Patienten diejenigen mit einer Melancholie herauszufin- den, ist therapeutisch von größter Bedeutung.

Die Melancholien heben sich von den übrigen Depressionen auch durch eine besondere An- sprechbarkeit auf bestimmte Therapien ab. So- wohl antidepressive Medikamente als auch Wachtherapie (Schlafentzug) und Elektro- krampftherapie zeigen bei Melancholien er- staunlich günstige therapeutische Effekte, weit mehr als bei anderen Depressionen. Über die Behandlung der einzelnen Phase hinaus kann durch eine konsequente Langzeit-Medikation mit Lithiumsalzen oder Carbamazepin das Auf- treten erneuter Phasen bei dem größeren Teil A-3732 (60) Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991

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der Patienten verhindert werden. Auch das ge- lingt bei keiner anderen Depression und keiner sonstigen psychischen Krankheit.

Unterschiedlich ist auch das psychothera- peutische Vorgehen, es weicht wesentlich von der Psychotherapie neurotisch-depressiver Pa- tienten ab. Für Melancholiekranke wurden eige- ne Psychotherapieverfahren, zum Beispiel eine bestimmte kommunikative Psychotherapie ent- wickelt. Mit den sonst gebräuchlichen Psycho- therapiemethoden einen Melancholiekranken zu behandeln, ist hingegen gefährlich.

Allgemein bekannt sind in der Ärzteschaft wohl nur die antidepressiven Medikamente. Ihre Verschreibung allein ist aber noch keine anti- depressive Therapie. Hierzu gehört zunächst ein psychotherapeutisches Basisverhalten, mit ande- ren Worten: der auf eingehender Kenntnis und Erfahrung beruhende überlegte Umgang mit dem Kranken. So sind in einer psychiatrischen Abteilung oder Klinik nicht nur Ärzte, Schwe- stern und Pfleger, sondern auch Krankengymna-

stinnen, Ergotherapeutinnen und alle Mitarbei- ter darauf eingestellt, den melancholischen Pa- tienten in der richtigen Weise zu führen. Ohne diese Basis ist eine stationäre Behandlung nicht statthaft. Bettbehandlung mit Infusionen in ei- ner nicht psychiatrischen Abteilung sind kontra- induziert.

Die meisten Melancholischen aber können dank der heutigen therapeutischen Möglichkei- ten ambulant behandelt werden. Der Arzt in der Praxis kann sich hieran beteiligen, wenn er sich entsprechende Kenntnisse aneignet und mit ei- nem Psychiater zusammenarbeitet. Es gibt also eine Reihe von Gründen, sich über diese unge- wöhnliche Krankheit zu informieren, um nicht die wirksame Therapie zu vernachlässigen oder eine Überweisung zu versäumen.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Rainer Tölle

Klinik für Psychiatrie der Universität

Albert-Schweitzer-Straße 11 • W-4400 Münster

LP(a) —

eine Voraussage des koronaren Risikos

LP(a) stellt eine Klasse von Li- poproteinpartikeln dar, die in der Li- pidkomposition den Low-density-Li- poproteinen (LDL) verwandt sind, und eine Proteinbande, die ApoB 100. Es bestehen erhebliche struktu- relle Ähnlichkeiten mit Plasmino- gen. Hohe Plasmaspiegel von LP(a) bedeuten eine Verstärkung des athe- rosklerotischen und besonders des kardiovaskulären Risikos. Der Wir- kungsmechanismus betrifft sowohl die atherogenen Lipoproteine als auch die Gerinnungsfaktoren. Be- sondere Bedeutung kommt dem Faktor dann zu, wenn weitere Risi- kofaktoren bestehen. Deren Korrek- tur ist erfolgversprechender als eine gezielte Korrektur des LP(a), die noch immer unbefriedigend ist. Bei familiärer Belastung und insbeson- dere beim Auftreten von Herzinfark- ten im jugendlichen und mittleren Lebensalter sind also LP(a)-Analy- sen unbedingt erwünscht. Verwiesen sei ferner auf die protektive Wirkung

von HDL im Atheroskleroseprozeß, wie sie in einer neuesten Ubersicht in Clinical Cardiology ([14], 2, 1991, 1-17-24) durch John T. Gwynne be- richtet wurde. sht

A. M. Scanu: LP(a) as a Marker for Coro- nary Heart Disease Risk. Clinical Cardio- logy 14, 2, (1991), 35-39.

Angelo M. Scanu, The University of Chica- go, 5841 South Maryland Avenue, Box 231, Chicago, IL 60637, USA.

Thyroxin

und Knochendichte

Thyroxin beeinflußt den Kno- chenstoffwechsel durch direkte Sti- mulation von Osteoklasten und führt dadurch zu einer verminderten Kno- chendichte und erhöhter Frakturge- fährdung.

Um den Einfluß einer langjähri- gen Thyroxinmedikation auf die Ske- lettmineralisation festzustellen, un- tersuchten die Autoren bei je 28 prä- und postmenopausalen Frauen ra- diodensitometrisch die Knochen- dichte des Schenkelhalses sowie der Wirbelkörper. Alle Patientinnen hat- ten eine langjährige (10 bis 24 Jahre) L-Thyroxin-Therapie mit im Norm-

FUR SIE REFERIERT

bereich liegenden freien Thyroxin-In- dex (FT4I) durchgeführt. Prämeno- pausale Frauen hatten geringfügig, aber statistisch signifikant geringere integrierte Knochendichten für Wir- belkörper ( — 3,1 Prozent) und Schen- kelhals ( — 5,1 Prozent) als es dem Alter entsprochen hätte, bei den postmenopausalen Frauen zeigte sich eine signifikante Abnahme der Knochendichte nur am Schenkelhals ( — 6,2 Prozent). Nach Analyse von Untergruppen war dieser Unter- schied jedoch nur bei den Frauen mit früher behandelter Hyperthyreose vom Typ Basedow nachweisbar.

Eine L-Thyroxin-Medikation mit im Normbereich liegendem FT 4I hat nach Ansicht der Autoren nur geringe Auswirkungen auf die Kno- chendichte bei Frauen und sollte kei- ne Kontraindikation zur Therapie darstellen. acc

Greenspan, Susan L. et al.: Skeletal Integri- ty in Premenopausal and Postmenopausal Women Receiving Long-Term L-Thyrox-

ine Therapy. Am. J. Med. 91 (1991) 5-14 Susan L. Greenspan, M. D., Gerontology Division, Beth Israel Hospital, 330 Brook- line Avenue, Boston, Massachusetts 02215, USA.

Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991 (65) A-3733

Referenzen

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