POLITIK
KASSENÄRZTLICHE BUNDESVEREINIGUNG
Bericht zur Lage
,P • • • damit wir endlich aus diesem
Jammertal herauskommen"
KBV-Vorsitzender Dr. Winfried Schorre über die Verantwortung des Gesetzgebers für die Sparpolitik
und zu gesundheitspolitischen Alternativen
Der Bericht zur Lage des Vorsit- zenden der Kassenärztlichen Bun- desvereinigung, Dr. med. Winfried Schorre, beschäftigte sich mit drei Schwerpunkten:
1. Den Auswirkungen des Ge- sundheitsstrukturgesetzes auf die ambulante Versorgung,
2. Einer Analyse wesentlicher Ursachen der Sparpolitik sowie
3. Lösungsmöglichkeiten, um aus der gesundheitspolitischen Mise- re (Schorre: „Ein Jammertal") her- auszukommen.
Schorres Referat war auch un- mittelbar an Bundesgesundheitsmi- nister Horst Seehofer gerichtet, der während des Berichtes zur Lage im Plenum saß. Nachfolgend Auszüge aus dem Referat des Ersten Vorsit- zenden der KBV:
„Unser Ausgangspunkt ist die aktuelle gesellschafts- und berufspo- litische Situation. Sie ist geprägt durch die fatalen und zum Teil ver- heerenden Auswirkungen des Ge- sundheitsstrukturgesetzes auf die ambulante Versorgung. Für uns Ärz- te ist es erschreckend, feststellen zu müssen, wie mit diesem Gesetz Ele- mente kassenärztlicher Vergangen- heit aus den 30er Jahren und davor erneut bittere Realität geworden sind: Honorarbeschränkungen, Zu- lassungssperren, Leistungsbegren- zungen, Kopfpauschalen."
Schorre fuhr fort: „Unsere ärztli- che Arbeit wird überlagert
— von immer mehr Bürokratie und planwirtschaftlicher Einengung,
— von staatlichem Dirigismus bis hin zur Androhung von Diszipli-
narmaßnahmen bei Unbotmäßigkeit im System,
— von Rechtsunsicherheit einer- seits und massiver juristischer Ein- wirkung haftungsrechtlicher Aspekte in unseren Alltag."
Schließlich: „Ökonomische Un- ausgeglichenheit führt zu einem im-
Mit öffentlichen Äußerungen nach der Wahl zum KBV-Vorsitzenden zunächst zurückhaltend: Dr.
Winfried Schorre; bei der Vertreterversammlung trat er erstmals mit dem Bericht zur Lage hervor.
mer schärferen Verteilungskampf und einer immer stärker um sich greifenden Entsolidarisierung in der Ärzteschaft.
Die sogenannten Essentials ei- nes über viele Jahrzehnte gewachse- nen Versorgungssystems wie Sicher- stellungsauftrag für die Vertragsärz- te, Vertragsfreiheit, Freiberuflichkeit und freie Arztwahl bestehen nicht
mehr in der eigentlich gemeinten oder von uns gewollten Form oder sind nun endgültig bedroht.
— Der Sicherstellungsauftrag ist durch die gesetzlich gebahnte Ver- zahnung mit der stationären Versor- gung und eine ausufernde Leistungs- gewährung der Krankenkassen au- ßerhalb der Verträge aufgebrochen.
—Die Möglichkeiten der Selbst- verwaltung, Dinge zu regeln, sind deutlich eingeschränkt worden, ste- hen in vielen Bereichen unter der Drohung der Ersatzvornahme und sind durch eine starke Tendenz zur Regionalisierung gekennzeichnet.
— Die Freiberuflichkeit des ein- zelnen Kassenarztes ist bis zur Un- kenntlichkeit eingeschränkt. Der nie- dergelassene Arzt hat zwar das Risi- ko des Unternehmers, aber bald nur noch die Bedingungen eines Ange- stellten.
Bis zum Oktober dieses Jahres werden sich voraussichtlich etwa 10 000 Ärzte neu niederlassen. Die- ser Zustrom erfolgt für die Niederge- lassenen fast überfallartig. Er wird zu einer massiven Ballung in bestimm- ten Bereichen und damit zu einem noch größeren Konkurrenzdruck als bisher innerhalb der Ärzteschaft führen.
Die freie Niederlassung wird für die nachfolgende Generation erheb- lich eingeschränkt und soll dann — wie in den 30er Jahren — mit Ein- schreibelisten, Wartezeiten und ähn- lichem geregelt werden. Hier hat der Gesetzgeber brutal in die berufliche Planung einer ganzen Generation eingegriffen. Die Bedarfsplanung
A1-1396 (16) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 19, 14. Mai 1993
Fragen aus der Mitte der Vertreterversammlung an den Bundesgesundheitsminister. Nicht alle wurden präzise beantwortet.
An ihn richtete sich der Bericht zur Lage größtenteils: Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer. Rechts der Vorsitzende der Vertreterversammlung, Dr. Horst Kohne.
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nach Verhältniszahlen ist Planwirt- schaft in Reinkultur und paßt daher nach meinem Verständnis nicht in unsere gesellschaftspolitische Land- schaft.
Besondere Schwierigkeiten ma- chen uns die Budgets im Bereich des Honorars, der Arzneimittel und der Heilmittel, und zwar nicht nur unter dem Aspekt der zu erwartenden Aus- wirkungen auf die Honorarentwick- lung der Vertragsärzte, sondern auch wegen der zu befürchtenden Quali- tätseinbußen in der ärztlichen Ver- sorgung."
Dr. Schorre legte in seinem Re- ferat großen Wert darauf, die Ver- antwortung des Gesetzgebers für die Sparpolitik klar herauszustellen:
„Das Gesetz verpflichtet uns Ärzte zu Einsparungen. Dafür hat niemand anders die Verantwortung als der Gesetzgeber. Klar ist auf der ande- ren Seite, daß das medizinisch Not- wendige verschrieben werden muß.
Zur Zeit muß der Arzt in seiner Pra- xis entscheiden, wo und in welchem Umfang er spart.
Die Ärzte sind keine Verweigerer
Die Auswertungen des WIdO belegen eindeutig, daß die Ärzte die- ses ihnen angelastete Problem da- durch zu bewältigen versuchen, daß sie
1. vermehrt Generica verschrei- ben, was auch nicht ohne Probleme ist, und
2. in den Bereichen einsparen, wo die Wirksamkeit der Mittel um- stritten ist.
Durch die von Politikern ständig wiederholte Behauptung gegenüber
der Öffentlichkeit, es gebe keine Versorgungseinschränkungen, ge- paart mit der bisher nicht bewiese- nen Unterstellung, Ärzte verweiger- ten notwendige Therapien, ist der Arzt in seiner Praxis in den Augen des Patienten zum Verweigerer ge- worden. Er steht in einem ständigen Erklärungs- und Rechtfertigungs-
zwang, was die Atmosphäre in den Praxen erheblich beeinträchtigt. Es ist doch geradezu absurd, daß Mini- sterien und Krankenkassen — bei na- hezu hundertausend Ärzten — auf der Jagd sind nach dem Arzt, dem end- lich ein unkorrektes Verordnungs- verhalten nachgewiesen werden
kann. In allen bisher gemeldeten Fäl- len hat sich dieser Vorwurf als un- haltbar erwiesen. Lediglich in einem einzigen, umstrittenen Fall aus dem Bereich meiner KV (Nordrhein) ist bislang der Vorwurf aufrechterhalten worden, obwohl er aus unserer Sicht auch hier inhaltlich nicht gerechtfer- tigt erscheint."
Eine Folge könnte laut Schorre sein, „daß die Ärzte in ihrem Spar- willen mittlerweile unter dem Druck öffentlicher Bezichtigung und ange- sichts der Forderung des Patienten schon wieder zu resignieren begin- nen. Das würde bedeuten, daß die Ausgaben wieder ansteigen werden, daß dann das Budget überschritten wird und damit das Problem der Haf- tung auf die Ärzteschaft real zu- kommt. Es gibt leider überhaupt kei- nen Grund zur Entwarnung in dieser Problematik."
Sodann ging der KBV-Vorsit- zende auf die Frage ein, wie es zu ei- ner solchen Situation hat kommen können: Das Versorgungsniveau in der Bundesrepublik Deutschland
„war gekennzeichnet durch eine brei- te Anwendung des medizinisch Mög- lichen — im gegenseitigen Einver- Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 19, 14. Mai 1993 (17) A,-1397
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nehmen zwischen Patient, Arzt und Krankenkassen. Das additive Zusam- mentreffen der von den Ärzten ange- botenen medizinischen Möglichkei- ten mit den nicht zuletzt durch die Sozialpolitik geförderten Vorstellun- gen und Ansprüchen der Patienten hat in diesem Lande zu einer Versor- gung geführt, die sicherlich die Enge solcher Begriffe wie notwendig, zweckmäßig und ausreichend über- steigt und eigentlich das Gütesiegel Betreuung verdient."
„Mit Verknappung der Mittel", so wird im Bericht zur Lage erläutert,
„kam das ganze System durcheinan- der. Es tauchte jetzt das Problem der Menge auf. Die Mengen an Ärzten, Patienten, Leistungen und Ansprü- chen sowie an verfügbarem Geld wurden mit einem Mal zu konkurrie- renden Elementen in einem bis dahin relativ ausgeglichenen System. Die Einzelelemente dieses Systems, das bis zu den 80er Jahren funktioniert hatte, büßten den Charakter des Komplementären ein und verkamen zu konkurrierenden Alternativen.
Die Geschlossenheit des Systems ging dadurch verloren. Es galt nun, in die Dreiecksbeziehung Patient — Arzt
— zur Verfügung stehende Mittel wie- der Ausgewogenheit hineinzubrin- gen."
Und nun das Ende dieser Ent- wicklung: „Schließlich griff der Ge- setzgeber gnadenlos ein und beant- wortete die Frage nach dem Gleich- gewicht zwischen dem, was moderne Medizin anzubieten hat, den Ansprü- chen der Patienten und den zur Ver- fügung stehenden Mitteln
1. mit der Begrenzung der Mittel einerseits,
2. mit der Zusage an den Bürger andererseits, daß ihm trotzdem wei- terhin alles zur Verfügung stehe, und
3. mit einer Art Zwangsrekrutie- rung der Ärzteschaft zur Erfüllung dieser Zusage.
Diese vom Gesetzgeber gewähl- te Lösung belastet die Ärzte in un- verträglichem Maße. Sie werden we- gen der ökonomischen Einengung und der Verzerrung ihrer Arbeitsbe- dingungen sehr bald ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht werden können.
Die Qualität der ambulanten Versor- gung muß unter solchen Bedingun- gen leiden. Die von Ihnen, Herr Mi-
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nister Seehofer, in der Konzertierten Aktion in den Raum gestellte These, die Versorgung sei unter den derzei- tigen Bedingungen ohne Qualitäts- verlust sichergestellt, stimmt sicher nicht. Durch die vom Gesetzgeber eingeleiteten Maßnahmen sind wir auf dem Wege von der Rationalisie- rung in die Rationierung ärztlicher Leistungen. Und das bedeutet Quali- tätsverlust!
Dabei möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, daß wir uns in der politischen Diskussion unbedingt über den Begriff ‚Qualität' verständi- gen müssen. ‚Qualität' ist sicherlich ein Begriff, der nicht nur mit statisti- schen Methoden zu erfassen ist. Die Qualität ärztlichen Handelns ist nicht nur dann gegeben, wenn ausrei- chend Pillen verordnet werden oder gut operiert wird. Die Qualität ärztli- chen Handelns im Rahmen einer mo- dernen Medizin ist insbesondere un- ter dem schon erwähnten Begriff der
‚Betreuung' zu sehen und hat auch etwas zu tun mit Inhalt und Umfang der Arzt-Patienten-Beziehung. In diesem Bereich ist es allerdings jetzt schon zu massiven Störungen gekom- men, und wir sind auf dem besten Wege zu einem Qualitätsverlust der medizinischen Betreuung."
Leitantrag des Vorstandes
Im dritten Teil seines Referates untersuchte Dr. Schorre Lösungs- möglichkeiten. Dabei stützte er sich auch auf einen Leitantrag des KBV- Vorstandes zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Die KBV sei grundsätzlich zur Mitarbeit bei einer wirklichen Reform bereit — unter gewissen Voraussetzungen:
Neben der Darstellung des me- dizinisch Möglichen müssen die Ärz- te auch ihre Erfahrung mit dem bis- herigen System in die anzustrebende gesellschaftspolitische Diskussion einbringen. Sie müssen sich dabei insbesondere mit der Frage ausein- andersetzen, ob dieses derzeitige Sachleistungssystem den Anforde- rungen einer modernen Medizin in der Zukunft entsprechen kann. Die Entscheidung über die letztendliche Ausgestaltung liegt jedoch beim
Staat. Die KBV hat nach den Neu- wahlen als Ausdruck des Willens, sich aktiv an der Neugestaltung des Gesundheitswesens zu beteiligen, be- gonnen, diese Vision eines zukünfti- gen Gesundheitwesens aus ärztlicher Sicht zu entwerfen. Vorstellungen dazu werden in dem Leitantrag um- rissen.
(Dieser wird auf einer der fol- genden Seiten dokumentiert).
Von vornherein lehnte Schorre Lösungsmöglichkeiten im Sinne des Einkaufsmodells oder eines Primär- arztsystems ab: „Sie sind staatsdirigi- stische Maßnahmen, die der Dyna- mik des Geschehens zwischen Arzt und Patient überhaupt nicht Rech- nung tragen, sondern letztendlich nur mit planwirtschaftlichen Mitteln die Strategie der Mangelverwaltung fortführen. Eine derartige Lösung würde sich allenfalls durch den ideo- logischen Hintergrund von der der- zeitigen Situation unterscheiden."
Als seine eher persönliche Mei- nung formulierte Dr. Schorre zusam- menfassend: „Insgesamt gesehen hal- te ich eine Kombination aus dem bis- herigen Sachleistungssystem, be- grenzt auf einen bestimmten Perso- nenkreis, und einem marktwirt- schaftlichen Versorgungssystem der- zeit für die beste Antwort auf die Frage nach der Struktur der künfti- gen Versorgung. Das ist allerdings meine persönliche Meinung, die ich bewußt auch in dieser Öffentlichkeit vortrage, damit die Diskussion auch über diesen Teil des ganzen Pro- blems in Gang kommt. Denn sie ist nötig. Ich glaube, daß sich hiermit die Möglichkeit bietet, das eigentliche Problem unseres Gesundheitswe- sens, nämlich das der Finanzierbar- keit, auf eine Weise zu lösen, wie es im übrigen auch in den anderen Be- reichen dieses Staatswesens üblich ist. Nicht umsonst gehört das Prinzip der Deregulierung nach allgemeinem Verständnis zu den wichtigsten Auf- gaben einer der sozialen Marktwirt- schaft verpflichteten Gesellschaft. In dieser Hinsicht haben unsere Sozial- politiker in der jüngsten Vergangen- heit massiv gesündigt. Das Gesund- heitsstrukturgesetz markiert einen bislang unerreichten Höhepunkt an staatlichem Dirigismus und Interven- tionsdrang." DÄ Ar 1398 (18) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 19, 14. Mai 1993