A-3294 (26) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 51–52, 27. Dezember 1999
T H E M E N D E R Z E I T
Dies ist die Beschreibung einer Realität, die als solche kein Problem darstellt (beziehungsweise darstellen sollte). Zum Konflikt kommt es dort, wo aufgrund von Personalmangel und Zeitnot Prioritäten im Arbeitsschwer- punkt gesetzt werden müssen. Es be- steht gerade im Krankenhaus eine deutliche Tendenz, dem kurativen An- teil eindeutige Priorität einzuräumen, was sinnvoll ist, da das Krankenhaus einen klaren Heilungsauftrag hat. Al- lerdings liegen neben Menschen mit guten Genesungsaussichten auch jene, die „nur noch“ Pflegefälle sind oder im Sterben liegen. Auch diese haben ein Anrecht auf menschenwürdige Be- treuung – und dafür wird mehr Pflege- zeit benötigt, was nach Ansicht vieler Pflegender nicht bei allen Ärzten auf Verständnis stößt. Die Priorität der kurativen Betreuung führt so manch- mal dazu, daß die direkte Pflege auch innerhalb der pflegerischen Berufs- gruppe weniger Anerkennung findet, zumal wenn erwartet oder indirekt verlangt wird, diese direkte Pflegear- beit zugunsten ärztlicher Hilfstätigkeit zu reduzieren. Dies geschieht nicht un- bedingt offensiv, sondern durch die oftmals selbstverständliche Erwartung mancher Ärzte, daß die Ausführung ihrer Anordnungen – die sich mehr auf diagnostisch-therapeutische Maßnah- men beziehen – Vorrang hat vor einer möglicherweise anderen Prioritäten- setzung der Pflegenden selbst.
Auch in diesem Zusammenhang geht es um ein divergierendes Selbst- verständnis der beiden Berufsgrup- pen. Beide haben dabei ein gleicher- maßen berechtigtes Anliegen. Es soll- te aber nicht darum gehen, wer recht bekommt, sondern wie ein für alle Be- teiligten hilfreicher Umgang mit kon- kurrierenden Situationen gefunden werden kann.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-3291–3294 [Heft 51–52]
Das Literaturverzeichnis ist über die Internet- seiten (www.aerzteblatt.de) erhältlich.
Anschrift der Verfasserin Irmgard Hofmann M. A.
Terofalstraße 5 80689 München
AUFSÄTZE/TAGUNGSBERICHT
it einem Vorschlag zur aktu- ellen Diskussion um die Rentenreform hat sich die Bundesversicherungsanstalt für An- gestellte (BfA) eingeschaltet. Diese beabsichtigt, dem gesellschaftlichen Wandel und dem Umstrukturierungs- prozeß auf dem Arbeitsmarkt Rech- nung zu tragen. Der Vorschlag, der noch nicht mit den Selbstverwaltungs- gremien der Bundesversicherungsan- stalt abgestimmt worden ist (Versi- cherten- und Arbeitgebervertreter) und deshalb als noch intern einzustu- fen ist, hat Chancen, von der Regie- rungskoalition in Kürze aufgegriffen zu werden. Bei einem Presseseminar der BfA in Weimar wurden der Mo- dellvorschlag präsentiert, das Pro und Kontra erörtert, die rentenpolitischen Ziele präzisiert und alternative Re- formmodelle erörtert. Wie der zustän- dige Referatsleiter für Entwicklungs- fragen und soziale Sicherheit der BfA, Dr. rer. pol. Reinhold Thiede, beton- te, soll der Reformvorschlag über fle- xible Anwartschaften und Anwart- schaftszeiten dazu dienen, eine eigen- ständige Frauenalterssicherung zu entwickeln und diskontinuierliche Le- bensbiographien von Versicherten teilweise zu kompensieren.
Da das BfA-Modell prinzipiell ausgabenneutral angelegt ist, werden folglich verstärkt Umverteilungs- und Umschichtungsprozesse implemen- tiert. Der Reformvorschlag der BfA geht von folgenden Rahmenbedin- gungen aus: Prinzipiell soll es beim tragenden Prinzip der lohn- und bei- tragsbezogenen Rente bleiben. Eine vorleistungsunabhängige Grundren- te, wie es beispielsweise das bereits zehn Jahre alte „Biedenkopf-Miegel- Reform-Modell“ empfiehlt und wie es sich die Zukunftskommission des
Freistaates Bayern und Sachsen zu ei- gen gemacht hat auch und von den Bündnisgrünen favorisiert wird, wird von der BfA als nicht rentensystem- konform abgelehnt.
Schließung von Deckungslücken
Der BfA-Entwurf empfiehlt, fle- xible Anwartschaften einzuführen, die mit der Entrichtung von Pflicht- beiträgen erhoben werden – und zwar zusätzlich zu den „normalen“ Renten- beiträgen. Im Gegensatz zu den „nor- malen“ Rentenanwartschaften sollen die flexiblen Anwartschaften nicht den Versicherungszeiten des Renten- versicherten zugeordnet werden, in denen sie erworben wurden. Die fle- xiblen Anwartschaften können flexi- bel eingesetzt werden, um dadurch Beitragslücken in der Erwerbsbiogra- phie des Versicherten zu schließen und/oder Zeiten mit relativ geringen Entgelten auf dem Rentenkonto auf- zufüllen. Dies ist zum Beispiel bei Teilzeitarbeit, geringfügiger Beschäf- tigung, Aushilfen und kombinierter angestellter und selbständiger Tätig- keit relevant. Nach der Reformoption sollen die Lückenschließung und/oder die Aufwertung von Zeiten mit gerin- gem Arbeitsverdienst unabhängig da- von erfolgen, aus welchem Grund die Deckungslücke entstanden ist oder weniger Beiträge an die Rentenversi- cherung entrichtet wurden.
Es wird vorgeschlagen, daß Versi- cherten mit diskontinuierlichen Versi- cherungsverläufen bis zu einer Höchst- dauer von fünf Jahren als flexible An- wartschaftszeiten durch die Renten- versicherung angerechnet werden, um Lücken bei der Belegung zu schließen.
Rentenreform
Flexible Anwartschaften verstärken Umverteilung
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte
bringt Modellvorschlag in die Reformdiskussion ein.
M
Unabhängig vom Grund der Finanzie- rungslücke wird die flexible Anwart- schaftszeit so bewertet, als ob der Ren- tenversicherte in dieser Zeit durch- schnittlich verdient hätte. Auf diese Weise werden Versicherungslücken, wie beispielsweise auf Grund von Pro- blemen beim Einstieg oder Wiederein- stieg ins Erwerbsleben, die wegen einer erziehungsbedingten Berufsunterbre- chung über das dritte Lebensjahr des Kindes hinaus oder im Zuge einer Exi- stenzgründung entstanden sind, in der Regel nicht mehr zu Defiziten in der Altersversicherung und zu einer unter- durchschnittlichen Rente führen.
Versicherte, in deren Erwerbsle- ben keine nennenswerten Lücken bei der Belegung mit Anwartschaften ent- standen sind, die aber zeitweise oder viele Jahre lang unterdurchschnittlich verdient haben, können diese mit Hilfe flexibler Anwartschaften auf- stocken. Der Wert der dadurch er- worbenen zusätzlichen Rentenanwart- schaften darf dabei insgesamt höch- stens noch so hoch sein wie die durch- schnittliche Lückenschließung mit den flexiblen Anwartschaften zu erzielen- den Rentenanwartschaften. Dies be- deutet: bei höchstens fünf Jahren fle-
xiblen Anwartschaften höchstens fünf Entgeltpunkte. Die Anwartschaften für einen bestimmten Zeitraum kön- nen höchstens auf jeweils den Wert an- gehoben werden, der sich bei einem Durchschnittsentgelt ergeben hätte.
Die zusätzlichen Anwartschaften kön- nen vom Rentenversicherten flexibel genutzt werden – also entsprechend den jeweiligen individuellen Erwerbs- verläufen. Allerdings sind die Mög- lichkeiten, flexible Anwartschaftszei- ten und flexible Anwartschaften ein- zusetzen sowie deren Umfang daran gekoppelt, daß der Versicherte auch durch eigene Beitragszahlungen Ren- tenanwartschaften erworben hat. Ent- sprechend bleiben die zusätzlichen Anwartschaften prinzipiell an die Vorleistungen des Rentenversicherten gekoppelt. In einer Modellvariante könnte das Reglement so ausgestaltet werden, daß beispielsweise für jeweils vier Beitragsmonate ein Monat fle- xible Anwartschaftszeiten angerech- net wird. Die höchstmögliche Zahl von fünf Jahren flexibler Anwart- schaftszeiten erhielten dann nur sol- che Versicherte, die mindestens 20 Beitragsjahre nachweisen können.
Dabei wird unterstellt, daß ein Ent-
geltpunkt der Rentenanwartschaft entspricht, die für ein Jahr Beitrags- zahlung bei einem durchschnittlichen Verdienst erworben wird.
Umverteilung verstärkt
Folgende Finanzierungsalterna- tiven sind denkbar:
– Finanzierung über einen höhe- ren Bundeszuschuß oder über einen höheren Rentenversicherungsbeitrag.
Beides sei aber politisch kaum durch- setzbar und wird deshalb von der BfA auch nicht in Betracht gezogen. Mit- hin bleiben folgende Finanzierungs- möglichkeiten:
– Umverteilung der Versicher- tenrenten durch eine niedrigere Be- wertung aller Rentenanwartschaften;
– Umschichtung von Mitteln, die heute zur Finanzierung der Hin- terbliebenenrente verwendet werden;
– Kombination aus Elementen der Umverteilung und Umschichtung von Mitteln der Hinterbliebenenren- te. Die Bewertung der Rentenanwart- schaften wäre etwas niedriger als beim Status quo. Gleichzeitig würden aber die Ausgaben für Hinterbliebe- nenrenten gemindert, um zusammen die zusätzlichen eigenständigen An- wartschaften zu finanzieren.
In den Finanzierungswirkungen geht die BfA von folgenden Berech- nungen und Folgerungen aus:
Ein Versicherter, der im Laufe seiner Erwerbsbiographie durch- schnittlich verdient hat, würde eine um rund 150 DM (rund sechs Prozent) höhere Rente als bisher erzielen (also künftig rund 1 200 DM). Für die durchschnittliche Rentnerin ergebe sich eine um rund 150 bis 185 DM (19 bis 21 Prozent) höhere Altersren- te aus eigenen Anwartschaften (rund 1 250 DM monatlich).
Tendenziell würden vor allem je- ne Versicherten eine höhere Rente als nach geltendem Rentenrecht erhal- ten, die zwar längere Zeiten der Ren- tenversicherung angehören, aufgrund größerer Lücken im Erwerbsleben oder Zeiten mit relativ geringer Ent- lohnung aber nur unterdurchschnittli- che Rentenansprüche erworben haben.
Dies dürfte für Frauen zutreffen, deren Alterssicherung die Politik verbessern will. Dr. Harald Clade A-3295 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 51–52, 27. Dezember 1999 (27)
T H E M E N D E R Z E I T TAGUNGSBERICHT
Tabelle
Vergleich der verfügbaren Rente eines Standard-Eckrentners mit 45 Versicherungsjahren in den alten und neuen Bundesländern
Stichtag verfügbare Standard-Eckrente Verhältniswert der verfügbaren Standard-Eckrente in den alten in den neuen in den neuen zu Bundesländern Bundesländern der in den alten
– DM – – M/DM – Bundesländern
(in Prozent)
30. 6. 1990 1 616 470 bis 602 29,1 bis 37,3
1. 7. 1990 1 667 672 40,3
1. 1. 1991 1 667 773 46,4
1. 7. 1991 1 751 889 50,8
1. 1. 1992 1 751 993 56,7
1. 7. 1992 1 798 1 120 62,3
1. 1. 1993 1 798 1 188 66,1
1. 7. 1993 1 868 1 357 72,7
1. 1. 1994 1 868 1 407 75,3
1. 7. 1994 1 931 1 451 75,1
1. 1. 1995 1 921 1 484 77,2
1. 7. 1995 1 933 1 522 78,8
1. 1. 1996 1 933 1 589 82,3
1. 7. 1996 1 942 1 598 82,3
1. 7. 1997 1 974 1 681 85,2
1. 7. 1998 1 980 1 694 85,6
1. 7. 1999 2 008 1 743 86,8
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung; für den Zeitraum ab 1. Juli 1997 wurde für den Beitrag zur Krankenversicherung der durchschnittliche Beitragssatz nach § 106 SGB VI (Zuschuß zur Krankenversicherung) unterstellt. Standard-Eckrente: Rente eines Durchschnittsverdieners, der 45 Jahre lang gearbeitet und Rentenversicherungsbeiträge gezahlt hat.