Deutsches Ärzteblatt
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16. November 2012 A 2307STUDIEN IM FOKUS
Die Arbeitshypothese in einer US- amerikanischen prospektiven Ko- hortenstudie war, dass sich durch die operative Magenverkleinerung (Roux- Y- Magenbypass) eine si - gnifikante Reduktion von Körper- gewicht und Morbidität für mindes- tens sechs Jahre erhalten lässt. Es wurden 1 156 Probanden aufge- nommen (mittlerer Body-mass-In- dex [BMI] 45,9), davon erhielten 418 einen Magenbypass. Die bei- den Kontrollgruppen waren Patien- ten, die auf eine Operation warteten (C 1: n = 417) oder nicht operiert werden wollten (C 2: n = 321).
92,6 % der Operierten konnten über sechs Jahre beobachtet wer- den. Bis dahin hatten sie durch- schnittlich 27,7 % ihres präoperati- ven Körpergewichts verloren, bei den Kontrollen blieb das Gewicht fast unverändert (C 1: +0,2 %; C 2:
0 %). Die Diabetesremissionsrate betrug 62 % im Chirurgie-Arm, 8 % in Gruppe C 1 und 6 % in der Grup- pe C 2, die Rate der Diabetesneuer- krankungen 2 % in der Gruppe mit Magenbypass sowie 17 und 15 % bei den Kontrollen. Auch die Lipid- werte sanken: Das Gesamtcholeste- rin verringerte sich nach OP um 28,7 mg/dl im Vergleich zu C 1 und 28,2 mg/dl im Vergleich zu C 2. Da- mit hatten sich die kardiovaskulä- ren Risikoprofile nach bariatrischer Chirurgie deutlich verbessert.
Positiv verändert hatte sich bei den Operierten im Vergleich zu den Kontrollgruppen die Lebensquali- tät, vor allem die körperlichen Komponenten, bei den psychischen Aspekten ließ sich keine Verbesse- rung nach Magenbypass feststellen.
Fazit: Die bariatrisch-chirurgische Therapie von Patienten mit mor - bider Adipositas ist mit einer deut lichen Reduktion von Körper- gewicht, Diabetesraten und anderen kardiovaskulären Risikofaktoren as - soziiert. „Die Studie ist mit einem
mehr als 90-prozentigen 6-Jahres- Follow-up eines umfangreichen Krankenguts methodisch ausge- zeichnet. Sie schließt eine Wissens- lücke über die Langzeitprognose von morbid adipösen Patienten“, kommentiert Prof. Dr. med. Norbert Runkel, Direktor der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Schwarzwald-Baar-Klinikum Villingen-Schwenningen.
Ohne Intervention sei das Adi - positas-Syndrom mit seinen kardio- vaskulären Risikofaktoren unauf- haltsam progredient. Mit operativer Intervention werde auch ohne ein strukturiertes Langzeitprogramm eine sehr zeitstabile Reduktion von
Gewicht und assoziierter Morbidi- tät erreicht. „Der Langzeitbenefit des Magenbypass für den Stoff- wechsel mit einer Diabetesremis - sionsrate von 62 Prozent ist beein- druckend“, erläutert Runkel. Eine Reduktion der Sterblichkeit sei in diesem Zeitraum nicht gemessen worden, vielleicht, weil die Suizid- rate in der operativen Gruppe leicht anstieg. Diese wichtige Studie defi- niere den Ergebnisstandard, an dem sich konservative und operative Intervention ausrichten müssten.
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
Adams TD, Davidson LE, et al.: Health benefits of gastric bypass surgery after 6 years. JAMA 2012; 308: 1122–31.
ADIPOSITAS
Morbidität wird für viele Jahre verringert
GRAFIK
Häufigkeitsverteilung der Gewichtsveränderungen im 2- und 6-Jahres-Follow-up im Vergleich zum Ausgangswert
Die Etablierung der hochaktiven antiretroviralen Kombinationsthe- rapie hat sich bei Aidspatienten auch auf Komplikationen wie die Zytomegalie(Virus)-/CMV-Retinitis positiv ausgewirkt. Eine An amnese mit CMV-Retinitis und eine annä- hernd normale Lebenserwartung haben die Katarakt zur zweitwich- tigsten Ursache einer verminderten Sehschärfe in diesem Kollektiv werden lassen. Eine amerikanische
Studiengruppe hat die Risikofakto- ren für die Linsentrübung evaluiert und 729 Augen von 489 Patienten mit Aids und CMV-Retinitis in ei- ner Kohortenstudie vierteljährlich auf ihren Linsenbefund untersucht;
die durchschnittliche Nachbeobach- tungszeit betrug 2 Jahre. Es stellte sich ein enger Zusammenhang zwi- schen der Retinitis und der Katarak- togenese heraus: Augen, die bei Erstuntersuchung noch keine Kata- ZYTOMEGALIE-RETINITIS
Einer Netzhautentzündung folgt häufig die Katarakt
Teilnehmer mit Magen-Bypass-Operation (in %)
Gewichtsveränderung (in 5-%-Intervallen)
zwei Jahre (n = 408) sechs Jahre (n = 379)
modifiziert: JAMA 2012; 308: 1122–31
M E D I Z I N R E P O R T
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16. November 2012 rakt aufwiesen, hatten pro Jahr eineInzidenz der Linsentrübung von 8,1 %. Bei bilateraler CMV-Retini- tis war die Wahrscheinlichkeit, eine Katarakt zu entwickeln, um knapp das Dreifache höher als bei unilate- raler Netzhautentzündung. Die Aus- dehnung der Retinitis stellte einen beträchtlichen Risikofaktor dar: Bei Patienten, bei denen mehr als 50 % der Netzhautfläche betroffen waren, war das Risiko einer visusrelevan- ten Katarakt (Sehschärfe auf ≤ 0,5 reduziert) gegenüber Augen, bei de- nen weniger als 25 % der Netzhaut von der Retinitis betroffen waren, um den Faktor 8,53 erhöht. Der
Einsatz von Ganciclovir und ande- ren antiviralen Wirkstoffen änderte nichts an der Assoziation von Reti- nitis und Katarakt. Den höchsten Risikofaktor stellte eine bei CMV- Retinitis und daraus resultierender Netzhautablösung oft notwendige Intervention dar: Nach einer Amo- tiooperation mit Einsatz von Sili- konöl war das Kataraktrisiko um den Faktor 19,73 erhöht. Wie in der Normalbevölkerung war das Alter ein weiterer wichtiger Risikofaktor:
Älter als 60 Jahre zu sein, ging mit einem gegenüber 40-jährigen oder jüngeren Patienten um das 12-fache erhöhten Kataraktrisiko einher.
Fazit: Die antivirale Therapie ver- mindert zwar Risiko und Ausprä- gung einer CMV-Retinitis, kann eine Katarakt aber offenbar nicht verhindern, wie die Studie bestätigt.
Es machte keinen Unterschied, ob eine aktive oder inaktive Retinitis vorlag, ein Hinweis darauf, dass der Effekt der Entzündung oder der Immunantwort auf die Linse kein akuter ist, sondern mit der Zeit ku- muliert. Dr. med. Ronald D. Gerste
Kempen JH, Sugar EA, Lyon AT, et al.: Risk of cataract in persons with cytomegalovirus reti- nitis and the acquired immune deficiency syn- drome. Ophthalmology 2012, http://dx.doi.org /10.1016/j.ophtha.2012.05.044
Vitamin-K-Antagonisten (VKA) werden häufig zur Langzeitprophy- laxe thromboembolischer Ereignis- se wie Schlaganfall oder Embolien bei Patienten mit Vorhofflimmern oder Herzklappenersatz angewandt.
Müssen die Patienten operiert wer- den, besteht bei Weiterführung der VKA-Therapie das Risiko vermehr- ter Blutungen, bei einer Unterbre- chung ein erhöhtes Risiko throm - boembolischer Ereignisse. Daher wurden in den letzten Jahren zuneh- mend kurz wirkende, parenterale Substanzen zur Überbrückung an- gewandt, wie unfraktioniertes (UFH) oder niedermolekulares Heparin
(NMH). Bislang ist aber unklar, welches Vorgehen optimal ist.
In eine Metaanalye wurden 34 Studien mit 7 118 Patienten einge- schlossen, in denen Patienten eine Heparin-Überbrückung erhielten, weil ihre VKA-Therapie unterbro- chen werden musste. Eine Studie war randomisiert, die übrigen wa- ren Beobachtungsstudien. Primäre Endpunkte waren Thromboembo- lien und große Blutungen.
Thromboembolien traten bei 73 von 7 118 Patienten (gepoolte Inzi- denz 0,9 %) mit, und bei 32 von 5 160 Patienten (gepoolte Inzidenz 0,6 %) ohne Überbrückungstherapie auf. In 8 Studien, die Gruppen mit und ohne Überbrückungstherapie di- rekt verglichen, unterschied sich die Rate thromboembolischer Ereignisse nicht (Odds Ratio 0,80; 95-%-Kon - fidenzintervall 0,42 bis 1,54). Eine Heparin-Überbrückung war in 13 Studien mit erhöhtem Risiko für alle Blutungen (OR 5,40; 95-%-KI 3,00 bis 9,74) und in 5 Studien mit erhöh- tem Risiko für größere Blutungen (OR 3,60; 95-%-KI 1,52 bis 8,50) assoziiert. Beim Vergleich von vol- ler vs. prophylaktischer/intermediärer Dosis einer NMH-Brückentherapie unterschied sich die Rate thrombo- embolischer Ereignisse nicht, es traten aber mehr Blutungen mit der höheren Dosierung auf.
Fazit: Bei Patienten, die bei Ope - rationen zur Überbrückung einer VKA-Therapie Heparine erhalten, ist das Blutungsrisiko erhöht, das Risiko für thromboembolische Er- eignisse aber vergleichbar der Situation ohne Überbrückungsthe- rapie. In Deutschland sei das Pro- blem des periprozedural deutlich erhöhten Blutungsrisikos seit Vor- stellung der „Bridging“-Konzepte mit kurz wirksamen, parenteralen Antikoagulanzien berücksichtigt, kommentiert Prof. Dr. med. Micha- el Spannagl, München. Dabei wür- den eine halbtherapeutische oder auch prophylaktische Dosierung sowie eine passagere Pausierung der Antikoagulanzien am Tag der Intervention empfohlen. Bei klei- nen Eingriffen genüge häufig eine gezielte Senkung des INR-Werts.
Unmittelbar periprozedural werde eine konsequente Individualisie- rung der Antikoagulation ange- strebt. Die Abwägung zwischen Thromboembolierisiken und/oder Blutungen könne allerdings kom- pliziert sein. Bemerkenswert an der Studie sei, dass die Thromboembo- lierate nicht beeinflusst wurde – wohl durch die niedrigen Zahlen und/oder weil die Umstellung per se das Risi- ko für Thromboembolien erhöhe.
Dr. rer. nat. Susanne Heinzl
Siegal D, et al.: Periprocedural heparin bridg - ing in patients receiving Vitamin K Antago- nists: Systematic review and meta-analysis of bleeding and thromboembolic rates.
Circulation 2012; 126: 1630–9.
THROMBOEMBOLIE-PROPHYLAXE
Heparin zur Überbrückungstherapie bei VKA-Patienten?
TABELLE
Thromboembolische Ereignisse und Blutungen: Gepoolte Inzidenzraten (95-%-Konfidenzintervall) sowie Ereignisse/
Patienten mit oder ohne Überbrückungstherapie mit Heparin
modifiziert nach: Circulation 2012; 126: 1630–9
thromboembolische Ereignisse arterielle thrombo - embolische Ereignisse venöse thrombo - embolische Ereignisse große Blutungen
Blutungen insgesamt
Mortalität
Mit Überbrückung
0,9 (0,0–3,4) 73/7 118 1,0 (0,0–2,8) 50/6 477 0,2 (0,0–0,6) 21/4 683 4,2 (0,0–11,3) 211/6 404 13,1 (0,0–45,2) 837/7 169 0,3 (0,0–1,0) 31/6 079
Ohne Überbrückung 0,6 (0,0–1,2) 32/5 160 0,5 (0,1–0,9) 15/2 468 0,3 (0,0–0,7) 11/2 141 0,9 (0,2–1,6) 18/2 104 3,4 (1,1–5,8) 100/5 160 0,1 (0,0–0,3) 4/2 393