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Archiv "Die somatoforme Schmerzstörung" (26.05.2000)

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Academic year: 2022

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chmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzi- eller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird. Diese Schmerzdefinition der Internationa- len Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) beinhaltet einige zentrale Aspekte des heutigen Schmerzverständnisses:

❃ Die emotionale Komponente bei Schmerz wird gleichberechtigt ne- ben die sensorische gestellt.

❃ Schmerz ist eine subjektive Empfindung, der objektivierbare pe- riphere Läsionen im Sinne einer Reizauslösung fehlen können.

❃Die kausale Verknüpfung von Gewebsschädigung und Schmerzre- aktion wird aufgegeben, dass heißt ei- ne Gewebsschädigung ist weder eine notwendige noch – so sie nachweisbar ist – eine hinreichende Bedingung für Schmerz.

Trotz des sich in dieser Schmerz- definition ausdrückenden heutigen Wissensstands über die biopsychoso- ziale Komplexität des Phänomens Schmerz reduzieren die meisten Pati- enten und auch noch immer viele Ärz- ten in ihrem Denken und Handeln den Schmerz auf seine Rolle als Warn- signal („linear-kausales Schmerzver- ständnis“). So ist die Auffassung ver-

breitet, dass nur sensorische Reize zu Schmerzempfindungen führen kön- nen und die Intensität des Reizes direkt das Ausmaß der wahrgenom- menen Schmerzen bedingt. Ist eine Gewebsschädigung nicht nachweis- bar, kann der Patient keine Schmer- zen haben, er muss „sie sich einbil- den“.

Für das Handeln des Arztes bein- haltet dieses Reiz-Reaktions-Konzept die Gefahr, dass

❃psychische Störungen mit dem Leitsymptom Schmerz eine diagnosti- sche Restkategorie darstellen, die erst als Ultima Ratio in Betracht gezogen wird,

❃Normvarianten und Zufallsbe- funde diagnostisch überbewertet wer- den,❃ im Rahmen wiederholt durch- geführter somatischer Ausschlussdia- gnostik Patienten iatrogen geschädigt werden

❃ und aufgrund multipler Ab- klärungen nicht zuletzt erhebliche Kosten entstehen.

Die häufigste psychische Störung mit dem Leitsymptom Schmerz ist die anhaltende somatoforme Schmerz- störung (ICD–10: F45.4), früher auch

„psychogenes Schmerzsyndrom“ ge- nannt.

Definition

Im Vordergrund steht eine schon mindestens sechs Monate lang anhal- tende Schmerzsymptomatik (chroni- scher Schmerz), welche durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht hinreichend erklärt werden kann. Neben dem Aus- schluss einer zugrunde liegenden kör- perlichen Ursache muss gleichzeitig im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn dieser Schmerzsym- ptomatik eine psychosoziale Bela- stungssituation (Scheidung, Pflege/

Tod eines nahen Angehörigen, Ar- beitsplatzverlust) oder eine innere Konfliktsituation nachweisbar sein.

Ein psychophysiologischer Mechanis- mus, beispielsweise eine funktionelle muskuläre Verspannung, darf nach dieser Definition dem Schmerzgesche- hen nicht zugrunde liegen, da es sich hierbei – wenngleich häufig durch das Einwirken psychosozialer Belastungs- faktoren ausgelöst – um ein nozizepti- ves Schmerzgeschehen handelt.

Die somatoforme Schmerzstörung

Ulrich Tiber Egle

1

Ralf Nickel

1

Rainer Schwab

2

Sven Olaf Hoffmann

1

Psychische Störungen mit dem Leitsymptom Schmerz stel- len für viele Ärzte, auch Schmerztherapeuten, eine diagno- stische Restkategorie dar. Die Diagnose somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) wird häufig erst nach mehrjähriger Krankheitsdauer und multiplen diagnosti- schen Abklärungen, teilweise auch iatrogenen Schädigun- gen gestellt. Eine genauere Kenntnis des gegenwärtigen Wissensstandes kann Chronifizierung verhindern. Es wird

ein Überblick über das klinische Er- scheinungsbild und die Diagnostik

der somatoformen Schmerzstörung, der Differenzialdia- gnose zu anderen chronischen Schmerzerkrankungen so- wie wirksamen Therapieansätzen gegeben.

Schlüsselwörter: Somatoforme Schmerzstörung, somato- forme Störung, Kindheitsbelastungsfaktor, sexueller Miss- brauch, körperliche Misshandlung

ZUSAMMENFASSUNG

Somatoform Pain Disorders

Mental disorders with pain as a leading symptom are rem- nant diagnostic categories for physicians, even if they are educated in pain treatment. Patients with somatoform pain disorder (ICD-10: F45.4) are often diagnosed only after several years and multiple diagnostic procedures, in some cases after iatrogenic impairment. A more precise

knowledge of the disorder can prevent chroni- fication. The clinical features, diagnostic pro-

cedure and differential diagnosis in somatoform pain pa- tients as well as current psychotherapeutic approaches are outlined.

Key words: Somatoform pain, somatoform disorder, child- hood adversity, sexual abuse, physical abuse

SUMMARY

S

1 Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Direktor: Prof. Dr. med. Dipl.- Psych. Sven Olaf Hoffmann) der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz

2Klinik für Anästhesiologie (Direktor: Prof. Dr.

Wolfgang Dick) der Johannes Gutenberg- Universität, Mainz

(2)

Kasuistik

Bei einer 54-jährigen Angestell- ten bestehen seit acht Jahren multi- lokuläre Schmerzen, welche in einer rheumatologischen Klinik als primä- re Fibromyalgie eingeordnet worden waren. Sie ist seit über 25 Jahren in kinderloser Ehe mit einem alkohol- abhängigen Mann verheiratet, der wenige Jahre zuvor wegen einer Herzangstsymptomatik in einer psy- chosomatischen Fachklinik behan- delt worden war.

Das Ausmaß seiner Alkohol- problematik war der Patientin zum Beginn der Behandlung noch nicht klar. Seit Beginn der Ehe fühlt sich die Patientin vom Ehemann auf Schritt und Tritt kontrolliert.

Kommt sie fünf Minuten später nach Hause als vereinbart, muss sie Re- chenschaft ablegen. Auch wie sie sich kleidet, schminkt oder bewegt, wird von ihm kommentiert und über- wiegend bestimmt. Spricht die Pati- entin von sich, schildert sie vor allem das, was ihr Ehemann sagt und meint. Sein dominantes Verhalten wird auch im Rahmen eines diagno- stischen Paargesprächs deutlich, in dem die Patientin trotz entsprechen- der Interventionen des Therapeuten überhaupt nicht zu Wort kam. Diese Ehe war die Patientin eingegangen, als sie um jeden Preis aus dem El- ternhaus raus wollte, wo sie sich ganz ähnlich eingeschränkt und regle- mentiert gefühlt hatte.

Als Flüchtlinge war das Denken und Handeln der Eltern immer von dem Bemühen geprägt gewesen, in der Kleinstadt, in die sie gekommen waren, keinesfalls aufzufallen. Zu- vor waren die Eltern sowie die Pati- entin und ihre beiden älteren Ge- schwister in der Nachkriegszeit als Deutschstämmige im heutigen Polen mehrere Jahre interniert und die Pa- tientin zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr immer wieder mehrere Wochen von den Eltern ge- trennt gewesen. So hatte sie früh ge- lernt, möglichst nicht aufzufallen, sich anzupassen und eigene Wün- sche und Vorstellungen zurückzu- stellen. Im Unterschied zu ihrer älte- ren Schwester, die sie darum benei- dete, fehlte ihr jegliches Selbstbe- wusstsein. Schon die Vorstellung, ei-

gene Wünsche umzusetzen oder Ge- fühle zu äußern, erlebte sie als exi- stenziell bedrohlich. Die inzwischen über 77-jährige Mutter ergriff im Rahmen ihrer regelmäßigen Besu- che bei jedem sich auch nur andeu- tenden Widerspruch gegenüber dem Ehemann für diesen Partei und un- terband damit jeden Konflikt im Keim. Dabei wünschte sich die Pati- entin ihr Leben lang nichts sehnli- cher, als einmal bei der Mutter auf Verständnis zu stoßen, statt einen

„Verhaltenspanzer“ umgelegt zu be- kommen. Verschiedene Analgeti- ka, auch das als Ultima Ratio einge- setzte Morphinderivat, hatten kei- ne wesentliche Schmerzlinderung er- bracht.

Epidemiologie

Studien zur Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung fehlen bis- her. In der Allgemeinpraxis wird von fünf bis zehn Prozent ausgegangen, in einer interdisziplinären Univer- sitäts-Schmerzambulanz liegt der Anteil bei nicht tumorbedingten Schmerzpatienten bei 25 bis 30 Pro- zent (19).

Anamnese und klinischer Befund

Als erster Indikator für eine so- matoforme Schmerzstörung können die Schmerzbeschreibungen des Pa- tienten verwendet werden: Somato- forme Schmerzpatienten beschrei- ben ihre Schmerzen häufig mit affek- tiven Begriffen (zum Beispiel scheußlich, grauenhaft, beängsti- gend) und einem hohen Wert auf ei- ner visuellen Analogskala (VAS: 0 bis 100) zwischen 80 und 100; auffäl- lig ist oft die dazu diskrepante gerin- ge affektive Beteiligung bei der Schmerzschilderung.

Der Beginn der Schmerzsym- ptomatik liegt üblicherweise vor dem 35. Lebensjahr, nicht selten schon in Kindheit und Jugend. Frau- en sind im Verhältnis 2 bis 3 : 1 häufi- ger betroffen. Die Lokalisation vari- iert stark. Besonders häufig betrof- fen sind die Extremitäten, aber auch Gesichtsbereich und Unterleib. Be-

sonders auffällig ist eine Häufung im Bereich der Unterarme (oft lange als Symptome eines Karpaltunnel-Syn- droms fehlinterpretiert) und Knie bei jungen Frauen. Im Rahmen einer sorgfältigen biografischen Anamne- se kann herausgearbeitet werden, dass sich diese Patientinnen in einer subjektiv als zwiespältig erlebten Ablösesituation vom Elternhaus be- finden und die Symptomatik inso- fern Ausdruckscharakter hat, als sie ihr Leben buchstäblich „in die eige- ne Hand nehmen“ beziehungsweise

„auf ihren eigenen Beinen stehen“

sollen.

Auch ein Teil der Patienten mit multilokulären Schmerzen, die vom Rheumatologen als generalisierte Tendomyopathie oder primäre Fi- bromyalgie diagnostiziert werden, können aufgrund der skizzierten bio- grafischen Entwicklung und der feh- lenden somatischen Befunde als so- matoforme Schmerzstörung klassifi- ziert werden (ein anderer Teil als So- matisierungsstörung).

In der Vorgeschichte dieser Pa- tienten finden sich nicht selten eine Reihe anderer funktioneller Be- schwerden, vor allem Kloß und En- gegefühle, Bauchschmerzen (oft schon in der Kindheit), Mundbren- nen sowie eine insgesamt erhöhte ve- getative Reaktionsbereitschaft. Bei Exploration der Entwicklung in Kindheit und Jugend fällt auf, dass diese Patienten zunächst dazu nei- gen, pauschal eine „glückliche“, zu- mindest jedoch „unproblematische“

Kindheit zu vermitteln. Erst bei ge- nauerem Nachfragen wird dann ein erhebliches Ausmaß an emotionaler Deprivation, körperlicher Misshand- lung und auch sexueller Missbrauchs- erfahrungen deutlich, das jedoch selbst dann noch oft bagatellisiert beziehungsweise verleugnet wird.

Das Erwachsenenalter ist auf dem Hintergrund der als Resultat dieser Kindheitsentwicklung ent- standenen Selbstwertproblematik von einer permanenten Suche nach Anerkennung und einer hohen Kränkbarkeit geprägt. Eine psychi- sche Verursachung der Schmerzen wird von diesen Patienten deshalb auch aus Angst vor einer damit ver- bundenen Stigmatisierung meist ab- gelehnt.

(3)

Diagnostik

Im Folgenden werden Indikato- ren für eine somatoforme Schmerz- störung erläutert.

❃Ausschluss nozizeptiver oder neuropathischer Schmerzverursa- chung,

❃Beginn der Symptomatik vor dem 35. Lebensjahr,

❃Schilderung von Schmerz- merkmalen weniger typisch (oft recht vage) als bei organischer Schmerzur- sache,

❃Angabe überwiegend hoher Schmerzintensität ohne freie Inter- valle,

❃Charakterisierung der Schmer- zen mit affektiven Adjektiven (scheußlich, fürchterlich, schrecklich),

❃wechselnde Angaben nach Lo- kalisation und Modalität,

❃Nichteinhaltung anatomischer Grenzen der sensiblen Versorgung (zum Beispiel beim Gesichtsschmerz die Mittellinie zur Gegenseite oder die Unterkiefergrenze zum Hals),

❃nach oft lokalem Beginn er- folgt starke Ausweitung.

Der Nachweis einer somatofor- men Schmerzstörung ist nur im Rah- men einer engen interdisziplinären Kooperation möglich, deren Grund- lage ein biopsychosoziales Schmerz- verständnis aller Beteiligten ist und bei der nicht vorschnell fachspezifi- sche (Zufalls-)Befunde und Norm- varianten dem Patienten als ursäch- lich relevant vermittelt werden. Von Beginn an und nicht erst als Ultima Ratio sollte dem Patienten die Be- deutung psychosomatischer Zusam- menhänge bei jedweder Form chro- nischer Schmerzzustände dargelegt werden und deren Abklärung als Routinemaßnahme mit demselben Stellenwert wie eine neurologische oder orthopädische Untersuchung.

Wichtigstes diagnostisches Ver- fahren zum Nachweis einer somato- formen Schmerzstörung ist die bio- grafische Anamnese. Die skizzierten biografischen Belastungsfaktoren ha- ben eine Sensitivität und eine Spezi- fität von 80 bis 90 Prozent hinsichtlich der Abgrenzung zu einem primär or- ganisch determinierten chronischen Schmerzsyndrom (3, 8).

Bei den häufig bestehenden Partnerschaftskonflikten sollte wenn

möglich ein diagnostisches Paarge- spräch durchgeführt werden; von der Erhebung einer Fremdanamnese oh- ne Beisein des Patienten ist auf dem Hintergrund der skizzierten Psycho- dynamik abzuraten!

Differenzialdiagnose

Weitere psychische Störungen mit Schmerz als vorherrschendem Symptom sind neben den somatofor- men autonomen Funktionsstörun- gen, die Somatisierungsstörung, die posttraumatische Belastungsstörung, depressive und Angststörungen, Hy- pochondrie und hypochondrischer Wahn sowie die coenästhetische Psy- chose.

Abzugrenzen sind Patienten mit nachweisbaren muskulären Span- nungszuständen, auch wenn diese durch psychosoziale Stresssituatio- nen bedingt sind („funktionelle“

Schmerzzustände, ICD-10 F54). Des Weiteren müssen Patienten mit primär nozizeptiv oder neuropa- thisch determinierten Schmerzzu- ständen unterschieden werden, de- ren Strategien der Krankheitsbewäl- tigung inadäquat sind (zum Beispiel Katastrophisieren, fatalistisches Re- signieren) oder die zusätzlich unter einer psychischen Erkrankung leiden (somatische und psychische Komor- bidität). Bei einer Prävalenz psychi- scher und psychosomatischer Störun- gen in Deutschland von 20 bis 25 Pro- zent (18) ist letzteres mit statistischer Wahrscheinlichkeit bei jedem vierten bis fünften Schmerzpatienten mit ei- ner primär nozizeptiv oder neuropa- thisch determinierten Schmerzer- krankung zu erwarten (9).

Ätiologie und Pathogenese

Somatoforme Schmerzen laufen auf einer rein zentralen Ebene ab, werden vom Patienten jedoch peri- pher lokalisiert. Eine wesentliche Be- deutung scheint dabei der frühen in- trapsychischen Verknüpfung von kör- perlichen Schmerzerfahrungen und affektiven Zuständen in Kindheit und Jugend zuzukommen. Wie bei vielen anderen psychischen und psychoso-

matischen Erkrankungen prädispo- nieren eine Reihe psychosozialer Be- lastungsfaktoren in Kindheit und Ju- gend für die spätere Entwicklung ei- ner somatoformen Schmerzstörung.

Besonders bedeutsam erscheint dabei die Kombination einer früh gestörten Mutter/Eltern-Kind-Beziehung (das heißt dem primären Bindungsbedürf- nis des Säuglings/Kleinkindes wird von der Hauptbezugsperson – sei es in Form eines emotionalen Desinteres- ses, sei es im Sinne einer überzogenen Einengung seiner Neugier – nicht adä- quat begegnet) sowie ausgeprägter körperlicher oder schwerer sexueller Misshandlung (2, 3, 20, 8).

In der Grafik werden die bei so- matoformen Schmerzpatienten heute empirisch gut belegten psychosozia- len Belastungsfaktoren (7) zu einem pathogenetischen Modell integriert:

Chronische Disharmonie, Trennung und Scheidung ebenso wie körperli- che Misshandlungen können als Sym- ptome eines unter ausgeprägtem Druck stehenden Familiensystems verstanden werden (22), in dem diese Patienten aufwuchsen. Sozialer Stress – oft eine starke berufliche Beanspru- chung der Eltern von klein auf oder auch eine chronische körperliche be- ziehungsweise psychische Erkran- kung bei einem Elternteil, einem Ge- schwister oder einem anderem Fami- lienmitglied – erhöht die Wahrschein- lichkeit, dass bei entsprechend dispo- nierten Eltern Alkoholabusus ebenso wie familiäre Gewalt und emotionale Vernachlässigung des Kindes zum Ventil für eine körperliche wie psy- chische Überforderung werden. Die darin enthaltene emotionale Zurück- weisung als Kind ist das primäre Trauma dieser Patienten. Ein daraus resultierendes unsicheres Bindungs- verhalten und die damit einhergehen- de Selbstwertproblematik werden durch Überaktivität und Leistungs- orientierung zu kompensieren ver- sucht. Diese Neigung zu erhöhter Ak- tivität (Action Proneness) (12) präg- te die Lebensgestaltung in der Pri- märfamilie ebenso wie – zumindest bis zum Einsetzen der Schmerzen – das Erwachsenenleben der späteren somatoformen Schmerzpatienten.

Vor dem Hintergrund dieser Ent- wicklung in Kindheit und Jugend ste- hen zur Bewältigung äußerer Bela-

(4)

stungs- und innerer Konfliktsituatio- nen im Erwachsenenalter nur unreife Konfliktbewältigungsstrategien (zum Beispiel Wendung gegen das Selbst, Projektion) zur Verfügung (6). Über- fordernde Belastungssituationen sind dann meist der Auslöser für das Schmerzgeschehen.

Dabei greift der Patient nicht sel- ten bei der Lokalisation seiner Schmerzsymptomatik unbewusst auf Schmerzmodelle in der Primärfamilie zurück. Neben einem Krankheitsmo- dell kann die Lokalisation jedoch auch, wenngleich sehr viel seltener, über den symbolhaften Ausdrucksgehalt der Symptomatik determiniert sein.

Dieses pathogenetische Modell integriert entwicklungspsychologisch heute gut belegte Risikofaktoren und frühe Lernerfahrungen. Wie sehr frühe Schmerzerfahrungen von Klein- kindern deren späteres Schmerz- erleben und -verhalten prägen, konn- te in einer jüngst erschienen Studie über die Auswirkungen von Be- schneidungen mit und ohne Narkose eindrucksvoll belegt werden (21). Sca- rinci et al. (17) konnten experimentell zeigen, dass die Schmerzschwelle bei in der Kindheit psychisch traumati- sierten Frauen mit verschiedenen ga- strointestinalen Störungsbildern im Vergleich zu nicht traumatisierten deutlich herabgesetzt ist.

Arzt-Patient-Beziehung

Patienten mit anhaltender soma- toformer Schmerzstörung sind meist von einer körperlichen Ursache ihrer Schmerzen überzeugt („ich hab es in den Armen und nicht im Kopf“) und verlangen nicht selten von sich aus diagnostisch wie therapeutisch inva- sive Interventionen. Bringen sie nicht die erhoffte körperliche Er- klärung für die Schmerzen bezie- hungsweise deren Linderung, so zweifeln die Patienten an der Qua- lität des betreffenden Arztes und su- chen einen anderen auf („doctor hopping“). Da auch viele Ärzte bis heute von der Vorstellung ausgehen, dass jeder Schmerz eine körperliche Ursache hat (Reduktion des Schmer- zes auf seine Funktion als Warnsi- gnal), können somatische Zufallsbe- funde leicht überbewertet und kausal

mit den Schmerzen verknüpft wer- den. Dieser Circulus vitiosus zwi- schen Arzt und Patient leistet der Chronifizierung Vorschub und führt nicht selten zu sekundären iatroge- nen körperlichen Schädigungen (zum Beispiel Extraktion von Zäh- nen, „Verwachsungen“ nach Lapara- skopien und Laparatomien, Karpal- tunnel- oder Bandscheibenoperatio- nen und so weiter). Bei somatofor- men Schmerzpatienten werden im Vergleich zu solchen mit nozizeptiv beziehungsweise neuropathisch de- terminierten Schmerzzuständen in- vasive Eingriffe deutlich häufiger

durchgeführt; einen Analgetikaabu- sus entwickeln nach unseren klini- schen Beobachtungen circa 30 Pro- zent.

Folgende Prinzipien sollten bei der Gestaltung der Arzt-Patient-Be- ziehung berücksichtigt werden:

❃Im Umgang mit diesen Patien- ten ist wichtig, dass ihnen ihre Schmerzen genauso „geglaubt“ wer- den wie jenen, bei denen eine organi- sche Ursache nachweisbar ist. Die Patienten spüren aufgrund ihrer ho- hen Sensibilität für Zurückweisung sehr schnell, ob sie mit ihren Be- schwerden ernst genommen werden.

Pathogenetisches Modell der somatoformen Schmerzstörung Grafik 1

(5)

❃Eine vertrauensvolle Arzt-Pa- tient-Beziehung ist deshalb die we- sentliche Voraussetzung für die Mo- tivierbarkeit dieser Patienten zu ei- ner Psychotherapie.

❃Eine Wiederholung der Muster der Eltern-Kind-Beziehung in der Arzt-Patient-Beziehung (zum Bei- spiel iatrogene „körperliche Miss- handlung“ in Form sehr breit gestell- ter Operationsindikationen) sind zu vermeiden.

❃Auch nach dem Beginn einer Psychotherapie sollte eine kontinuier- liche somatische Betreuung bei einem in der Schmerztherapie erfahrenen Arzt gewährleistet sein, um in dieser Zeit eine erneute diagnostische Odys- see beziehungsweise therapeutische Polypragmasie zu verhindern.

Medikamentöse Therapie

Für Analgetika besteht keine In- dikation! Dies gilt ganz besonders für die bei dieser Patientengruppe in letzter Zeit immer häufiger einge- setzten Morphinderivate. Antide- pressiva, vor allem Amitryptilin und Clomipramin, sind nur indiziert, wenn zusätzlich die Kriterien einer depressiven Störung erfüllt sind.

Psychotherapeutische Behandlung

Aus psychodynamischer Sicht sind vor allem die aus der belasteten Kindheit resultierenden Bindungs- und Beziehungsstörungen bei der Behandlung von Patienten mit so- matoformen Störungen zu berück- sichtigen. Im Mittelpunkt der Be- handlung steht die bei diesen Patien- ten fehlende Differenzierung von Schmerz und Affekt. Der Prozess der Somatisierung und Mangel an Symbolisierungsfähigkeit ist Aus- druck einer gestörten (disconnected) Kommunikation, der eine fehlende Kohärenz im Selbsterleben zugrun- de liegt (11, 14). In der Therapie wird die Aufmerksamkeit deshalb auf den kommunikativen Aspekt des Symptoms, das heißt auf die Art der Schilderung und des Umgangs damit gerichtet, um darüber seine interper- sonelle Bedeutung und Funktion zu

erschließen und einen Zugang zur Innenwelt des Patienten zu erhalten (10). Im Rahmen einer speziellen Form von Gruppenpsychotherapie (5, 16) sollten plastische Bilder und Narrative eingesetzt und später auch Episoden der gemeinsamen Grup- pengeschichte (Kohärenz) wieder- holt werden. Das Fokussieren auf die Kommunikation ist ein notwen- diger Schritt, um Gefühle verbalisie- ren und später zwischen Körpersym- ptom und Affekt differenzieren zu können. Über die Erkennung und Bearbeitung früherer Beziehungser- fahrungen werden überholte unsi- chere Bindungsmuster durch sichere ersetzt. Dies führt zu einem besseren Selbstwertgefühl und darüber zur Reduktion von Leeregefühlen. Die eigene Leistungsfähigkeit, welcher bei diesen Patienten eine große Be- deutung zukommt, wird realistischer eingeschätzt.

Durch eine Operationalisierung in Form eines Manuals ist heute eine erfolgreiche ambulante psychothera- peutische Behandlung durch 40 Grup- pensitzungen über einen Zeitraum von sechs Monaten möglich (16). Insofern leistet dieses Therapiekonzept auch ei- nen wesentlichen Beitrag zu einer Ko- stenreduktion im Gesundheitswesen, da dadurch dem regelhaften Arzt- wechsel dieser Patienten mit zahllosen technisch-apparativen Abklärungen entgegengewirkt werden kann.

Eine Einzeltherapie ist vor allem bei nicht gruppenfähigen Patienten in- diziert, was häufiger auf männliche Pa- tienten mit diesem Störungsbild zu- trifft, die nicht selten zusätzlich noch unter einer Persönlichkeitsstörung leiden. Entspannungsverfahren und Schmerzbewältigungsprogramme sind primär nicht indiziert, da sie im Hin- blick auf die zugrunde liegende Bezie- hungsstörung zu kurz greifen (13).

Ausnahmen bilden der Einsatz von Entspannungsverfahren im Rahmen eines multimodalen stationären The- rapieprogramms oder die vorgeschal- tete Durchführung von Schmerzbe- wältigungsprogrammen bei einer aus- geprägten Chronifizierung mit iatro- gener Schädigung (rehabilitative Ziel- setzung).

Die stationäre Aufnahme in ei- ner psychosomatischen Klinik ist in- diziert, wenn:

❃ein Missbrauch von Analgetika oder anderen Medikamenten besteht,

❃es zu Arbeitsunfähigkeit be- ziehungsweise häufigen Arbeitsfehl- zeiten gekommen ist,

❃eine ausgeprägte häusliche Kon- fliktsituation besteht,

❃mit dem Patienten Zusammen- hänge zwischen seiner Schmerzsym- ptomatik und psychischen Proble- men nicht erarbeitet werden können und damit seine Vermittelbarkeit zu einer ambulanten Psychotherapie nicht aussichtsreich erscheint.

Bei der Indikationsstellung sollte hierbei zwischen einer kurativen Ziel- setzung in einer psychosomatischen Akutabteilung (Therapieziel: Schmerz- freiheit) und einer rehabilitativen Zielsetzung in einer entsprechend aus- gerichteten psychosomatischen Fach- klinik (Therapieziel: adäquater Um- gang mit dem Schmerz) differenziert werden. Letzteres ist vor allem dann indiziert, wenn es im Rahmen des Chronifizierungsprozesses zu iatroge- nen körperlichen Schädigungen ge- kommen ist. Die Motivierung der be- troffenen Patienten zur Psychothera- pie ist dann besonders schwierig, wenn die Diagnose erst als Ultima Ratio in Betracht gezogen wird und der Patient sich damit in eine „Psycho-Ecke“ ab- geschoben fühlt. Aufgrund der Häu- figkeit der Erkrankung und des durch diese Übersicht vermittelten Wissens sollte bei jedem Patienten, der länger als drei bis sechs Monate unter Schmerzen leidet, vom betreuenden Allgemeinarzt oder Orthopäden die- ses Störungsbild differenzialdiagno- stisch in Betracht gezogen werden.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2000; 97: A-1469–1473 [Heft 21]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonder- druck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift für die Verfasser

Prof. Dr. med. Ulrich Tiber Egle Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Universitätsklinikum Mainz Johannes Gutenberg-Universität Untere Zahlbacherstraße 8 55131 Mainz

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