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Archiv "Evidenzbasierte Medizin: Konkurs der ärztlichen Urteilskraft? Unvernunft ist Standard geworden" (14.11.2003)

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Stelle prätherapeutisch den individuel- len Nachweis der Effektivität einer Therapie zu setzen. Dies geschieht im Dialog mit dem Körper, der auf jede Frage eine korrekte Antwort gibt, die quantifizierbar und objektivierbar ist.

Dazu sind energie-medizinische Me- thoden in der Lage, deren Validität wis- senschaftlich untersucht werden kann (und sollte) und die eine schemafreie Evidenzbasierung ärztlicher Urteils- kraft ermöglichen würden. Dieser dritte Weg wäre der richtige.

Dr. med. Manfred Doepp,

Holistic DiagCenter, Buchbichl 52, 83737 Irschenberg

Schlüssige Argumentation

Der Beitrag von Frau Kienle weist in ei- ner schlüssigen Argumentation darauf hin, dass sich die Medizin in ihrer Anhängerschaft an das naturwissen- schaftliche Paradigma und seine quanti- fizierend-experimentelle Methodologie selbst beschränkt. Dieser Neopositivis- mus missachtet nicht nur wissenschafts- theoretische Erkenntnisse der letzten fünfzig Jahre, sondern auch den Um- stand, dass der Wandel im Krankheits- spektrum (Zunahme chronischer Er- krankungen und psychosomatischer Leiden) die von vielen Patienten als technikorientiert und unpersönlich er- lebte „Schulmedizin“ vor Aufgaben stellt, die sich mit dem naturwissen- schaftlich-biologischen Inventar nicht lösen lassen. Vielmehr bedarf es eines umfassenden psychosozialen Versor- gungsangebotes, das allerdings bereits zunehmend von nichtärztlichen Ge- sundheitsberufen besetzt wird, die sich entsprechend selbstbewusst professio- nalisieren und die Medizin zukünftig weiter aus diesen Tätigkeitsfeldern ver- drängen werden. Möglicherweise wird die Art der Rezeption von Evidence- based Medicine wegweisend sein für zukünftige Entwicklungstendenzen in der Medizin: Kritische Stimmen proble- matisieren, dass die Methode von EbM den Veröffentlichungen von RCTs (ran- domisierten klinischen Studien) und Metaanalysen den Rang einer herausra- genden wissenschaftlichen Evidenz bei- misst. Dieses beruht auf der Prämisse, dass das statistisch ermittelte Ergebnis einer an mehreren Tausend Probanden

durchgeführten Wirksamkeitsprüfung ei- ner Intervention ein zuverlässiger Prä- diktor für deren Wirksamkeit im Einzel- fall bei einem individuellen Patienten ist.

Trisha Greenhalgh hat diese Annah- me mit einem anschaulichen Vergleich infrage gestellt: Sowenig wie sich in der Teilchenphysik die wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten über das Verhalten von Gasen auf das Verhalten eines ein- zelnen Moleküls übertragen lassen, sind in der Medizin die wissenschaftlichen Ergebnisse aus RCTs auf jeden einzel- nen Patienten anwendbar.

Tatsächlich ist EbM aber mehr als nur ein Plädoyer für RCTs oder Meta- analysen: Es handelt sich um eine diffe- renzierte Philosophie ärztlichen Han- delns, die einen Algorithmus zur Lö- sung klinischer Probleme enthält: Da- bei wird die Suche nach der besten ver- fügbaren wissenschaftlichen Evidenz und deren Bewertung ergänzt durch ei- ne kritische ärztliche Abwägung, ob die gefundene Evidenz überhaupt für die Behandlung dieses spezifischen Patien- ten praktikabel, tauglich und nutzbrin- gend ist. David Sackett weist explizit darauf hin, dass die 1 : 1-Umsetzung von publizierter wissenschaftlicher Evi- denz im klinischen Alltag keineswegs gutes ärztliches Handeln ist, sondern dass ebenso entscheidend die klinische Erfahrung des Arztes ist, die ihn dazu befähigt, über die Anwendung der Evi- denz in dem gegebenen Einzelfall sei- nes speziellen Patienten kompetent zu urteilen . . . Damit betont EbM sehr deutlich das Kriterium, das den Arzt als Vertreter einer Profession auszeichnet und das ihn von einem mechanisch ar- beitenden Handwerker unterscheidet:

Es ist die Fähigkeit, kompetent und au- tonom über die Anwendbarkeit von all- gemeingültigen, wissenschaftlich be- gründeten Fachkenntnissen auf den nicht generalisierbaren Einzelfall ent- scheiden zu können.

Diese komplexe Fähigkeit setzt vor- aus, den Patienten jenseits biologischer Parameter in seiner individuellen Sinn- gestalt als Subjekt wahrzunehmen und ihn mit seinen Bedürfnissen, Ressour- cen und Einschränkungen und mit sei- nen vielfältigen Bezügen zu erfassen . . .

Literatur beim Verfasser

Dr. med. Philipp Portwich,Universitäre Psychiatri- sche Dienste, Bolligenstraße 111, CH-3000 Bern 60

Atemberaubend

Die Publikation im Ärzteblatt ist (für mich) atemberaubend. Sie stimmt haar- scharf mit den Gedanken und täglichen Erfahrungen überein, die mich seit Jah- ren zunehmend bedrücken. Eigentlich müsste – bei der heute oftmals realisier- ten Form von EbM – hinter die Über- schrift eher ein Ausrufezeichen gesetzt werden. Als Ursache sehe ich, parallel zu dem allgemeinen Werte- auch den Wissensverfall, der es dem passiven Mit- schwimmer erleichtert, sich (z. B.) hin- ter EbM zu verschanzen, dem Kämpfen- den jedoch das Leben immer schwerer macht. Ausgenutzt wird das gnadenlos und bringt den Lobbys, wie im Artikel beschrieben, das Geld. Um nicht miss- verstanden zu werden: Der Gedanke EbM per se ist gut und eine (so weit möglich) objektive Erfolgskontrolle un- verzichtbar. Doch ist die Medizin nun mal eine biologische Wissenschaft, und da stößt jeder Versuch der Kategorisie- rung, Tabellarisierung und eben auch Randomisierung an Grenzen.

Außerdem müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Motivation für EbM ja vor allem auf materiellem Gebiet liegt.

Das ist an sich nichts Verwerfliches, nur eben geht es oft und vordergründig nicht um den ökonomischen Vorteil für die ge- beutelte Solidargemeinschaft, zu der übrigens auch der Patient gehört(!), son- dern um den für die ungezählten Lobbys.

Und da wird’s ganz schnell unethisch.

Aus ärztlicher Sicht. Oder welchen ethi- schen Prinzipien sind eigentlich die Ma- nager in den Krankenhäusern unterwor- fen, wenn sie einfach Verfahren „unter- binden“, die „sich nicht rechnen“, und somit täglich neue patienten- und ver- sorgungsfeindliche Entscheidungen tref- fen? Von den anderen Mitgliedern der Administration (Politik, Berufverbän- den, Kassen usw.) ganz zu schweigen . . .

Prof. Dr. med. F. Weber,

D.-C.-Erxlebenstraße 2 a, 01968 Senftenberg

Unvernunft ist Standard geworden

. . . Die Autoren haben Empiriker auf- gelistet, zu denen man den Namen des Arztes und Philosophen John Locke (1632–1704) hinzufügen kann. Aller- T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4614. November 2003 AA2999

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dings ist es aus meiner Sicht nicht so wichtig, hier die empirischen Verfahren zu verbessern, die auf der Insel entstan- den sind und im anglo-amerikanischen Raum zur Meisterschaft fortentwickelt wurden. Vielmehr sollten wir uns auf die Erkenntnisse unserer Denker besinnen, die sich für Verstand und Vernunft aus- sprachen. Leibniz (1646–1716) unter- schied „Vernunft- und Tatsachen-Wahr- heiten“ und schrieb: „Die Sinne sind zwar für alle unsere wirklichen Erkennt- nisse notwendig, aber doch nicht hinrei- chend, um uns diese Erkenntnisse in ih- rer Gesamtheit zu geben, weil sie stets nur Beispiele, d. h. besondere oder indi- viduelle Wahrheiten geben.“ Ebenso wie Leibniz bezeichnete Kant (1724–1804) Locke als berühmt, kritisierte aber ihn und die Einseitigkeit der Empiriker in gleicher Weise, dass sie sich bei den „bei- den Stämmen der menschlichen Er- kenntnis, Sinnlichkeit und Verstand“

nur an die „Sinneserscheinungen“ hal- ten würden und nicht an den Verstand,

„die aber nur in Verknüpfung objektiv gültig von Dingen urteilen könnten“.

Unvernunft ist Standard geworden.

Darunter leidet nicht nur die Erfüllung der primären ärztlichen Aufgaben. Es entstehen auch enorme Kosten, wenn beispielsweise Forderungen nach dem Ersatz altbewährter und kostengünsti- ger Arzneimittel durch überteuerte In- novationen ohne sicheren therapeuti- schen Zugewinn erhoben werden, wenn bei den erforderlichen und prinzipiell er- wünschten kontrollierten Studien Blut nicht im nächsten Labor untersucht wird, sondern die „Logistik“ abläuft, dass ein Kurier von der Stadt A in die Gemeinde B in Gang gesetzt wird, der die Probe zum Flughafen C bringt, von wo es z. B. nach Edinburgh in Schottland transportiert wird. Kienle et al. zitieren, dass Kosten randomisierter Studien pro Patient bei 5 000 bis 10 000 Euro liegen.

Literatur beim Verfasser Priv.-Doz. Dr. med. R. Wörz, Friedrichstraße 73, 76669 Bad Schönborn

Schlusswort

Neben einer Flut bestätigender Zu- schriften erreichten uns auch zwei Kriti- ken zu grundsätzlichen Punkten, auf die anhand eines konkreten Fallbeispiels

aus The Lancet eingegangen sei: Eine 26- jährige Frau leidet seit zehn Jahren an exzessivem Hand- und Fußschweiß und war deshalb arbeitsunfähig. An der lin- ken Handfläche wurde Botulinustoxin intrakutan injiziert, an zehn verschiede- nen Stellen mit jeweils ungefähr 2,5 cm Abstand. Von den Injektionsstellen aus- gehend, bildeten sich innerhalb von 24 Stunden zirkuläre, kontinuierlich größer werdende anhidrotische Bezirke, die konfluierten. Die Hyperhidrosis war nach einer Woche verschwunden, auch bei einem 14-Wochen-Follow-up. Die Behandlung der anderen Hand führte zum gleichem Ergebnis. Die Wirksam- keit ist in diesem Falle evident. Jedoch:

Diese Evidenz ist keine nennenswerte Evidence im Sinne von Evidence-based Medicine (EbM), denn sie wurde nicht durch eine formal hoch stehende ver- gleichende Studie (z. B. RCT) erbracht.

Die – evidente – Wirksamkeit dieses Falles ist anhand von zwei Kriterien zu beurteilen: 1.) Vor der Behandlung be- stand die Symptomatik sehr lange, nach der Behandlung verschwand sie rasch (zehn Jahre/24 Stunden), und dieses große Vorher-nachher-Zeitverhältnis ist ein Hinweis auf einen Kausalzusammen- hang. 2.) Das Muster der zehn intrakuta- nen Injektionsstellen geht über in das Muster der zehn konfluierenden anhi- drotischen Bezirke, und diese abbilden- de Korrespondenz von Behandlungsmu- ster und Besserungsmuster belegt den Kausalzusammenhang. – Es gibt viele solcher Kriterien zum Erkennen von Kausalität (Wirksamkeit); sie sind völlig anders als das RCT-Kriterium eines sich unter kontrollierten Zufallsbedingun- gen ergebenden überzufälligen (d. h. sta- tistisch signifikanten) Ergebnisunter- schieds in Prüf- und Kontrollgruppe.

Deshalb kann die Einzelfall-Beurteilung anderes erfassen als die vergleichende Kohortenstudie, manches besser, man- ches schlechter. Sie ist nicht, wie unter- stellt, auf mechanistische Beispiele be- schränkt, sondern kann sich auf viele Be- reiche der – konventionellen oder kom- plementären – Medizin erstrecken (Arz- neitherapien, Chirurgie, Physiotherapi- en, Psychotherapien, Kreativtherapien).

Gibt es hierbei den Unterschied von Hy- pothesengenerierung und Hypothesen- testung? Durchaus: Vor der Behandlung der Patientin war es eine Hypothese,

dass ihr eine Botulinusbehandlung hel- fen könne, nach der Behandlung war es ein Faktum (die Hypothese war somit positiv getestet). Es ist genau wie bei ei- ner lege artis durchgeführten RCT: Man hat zuerst eine Hypothese, und nach der RCT ist deren Ergebnis, falls positiv, ein Faktum. (Die sog. Nullhypothese ist hierbei eine technische Spezifizierung.) Doch auch bei einer RCT wird das Fak- tum sofort wieder zur Hypothese: dass nämlich bei der nächsten Patientenko- horte wieder ein entsprechendes Ergeb- nis eintreten werde. Tatsächlich treten ja widersprüchliche RCT-Ergebnisse auf.

Im Übrigen kann die Einzelfall-Metho- de natürlich auch bei konsekutiv behan- delten Patienten zum Einsatz kommen und so das Resultat der Gesamtheit der behandelten Patienten ermitteln.

Führt die Methode der Einzelfall- Beurteilung zu dauerndem Experimen- tieren an Patienten? Nicht anders als nach einer RCT, die ja weder das Resul- tat künftiger RCTs noch künftiger indi- vidueller Patientenbehandlungen si- chert. Auch die Anwendung RCT-ge- prüfter Therapien ist ein – gesellschaft- lich sanktioniertes – Experimentieren am Patienten, was verschärft wird durch die oft erheblichen Unterschiede von RCT-Patienten und Praxispatienten.

Die Annahme, dass Ärzte die Wirk- samkeit ihrer Therapien nie beurteilen könnten und daher RCT-geprüften Angaben zu folgen hätten, führt zu ei- ner paternalistischen Regulation „von oben“, was die Begründer von Eviden- ce-based Medicine als deren Miss- brauch („misuse“) bezeichnet hatten und wogegen sie auf die Barrikaden ge- hen wollten. („Clinicians who fear top- down cook-books will find the advo- cates of evidence-based medicine joining them at the barricades.“) Um diesem Missbrauch zu entgegnen, muss zusätzlich zu EbM das Konzept und System der ärztlichen Urteils- und Er- fahrungsbildung, eine Cognition-based Medicine, expliziert und professionali- siert werden. Eine existenzielle Auf- gabe für den ärztlichen Berufsstand.

Literatur bei den Verfassern

Dr. Gunver S. Kienle, Dr. Markus Karutz, Dr. Ha- rald Matthes, Prof. Dr. Peter Matthiessen, Prof.

Dr. Peter Petersen, Dr. Helmut Kiene,Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Me- thodologie, Schauinslandstraße 6, 79189 Bad Krozingen T H E M E N D E R Z E I T

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A3000 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4614. November 2003

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