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Archiv "Plädoyer für mehr evidenzbasierte Chirurgie" (06.02.2004)

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D

ie wesentlichen Fortschritte in der Chirurgie sind bisher nicht durch die Anwendung der Methoden der evidenzbasierten Medizin (EbM) erreicht worden. Der Chirurg mit sei- nen handwerklichen Fähigkeiten gilt häufig als Garant für eine hochwertige Krankenversorgung, da ihm die ent- scheidende Bedeutung für den Erfolg oder das Scheitern einer operativen Therapie zukommt. Bis heute werden Vorbilder wie Theodor Billroth und Theodor Kocher sowie verschiedene operative Schulen, die sich bis in die Blütezeit der deutschen Chirurgie zwi- schen 1880 und 1930 zurückverfolgen lassen, in Deutschland als Meinungs- bildner akzeptiert. Neue operative Ver- fahren werden oft nicht über einen transparenten und wissenschaftlich re- produzierbaren Weg in die Kranken- versorgung implementiert. Die am häu- figsten angewendeten Studienformen in der Chirurgie sind retrospektive Analysen von Fallserien und Vergleiche einer prospektiv geführten Erhebung mit einer historischen Kontrollgruppe.

Warum heute deutlich mehr Patien- ten als früher riskante Operationen überleben, kann zum Beispiel auf die neben dem operativen Verfahren eben-

so wichtige Indikationsstellung und die optimierte Begleitthe- rapie zurückgeführt werden.

Durch die Anwendung von, in randomisierten kontrollierten Studien geprüften, Medika- menten zur Anästhesie, An- tibiotikaprophylaxe und -the- rapie, Thromboseprophylaxe und Chemotherapie sind große Erfolge erzielt worden. Der Einfluss von EbM ist in den operativen Techniken schein- bar niedriger. Als mögliche Gründe werden dafür die schlechtere Qualität chirurgi- scher Studien und die angeb- lich schwierige Übertragbarkeit chirur- gischer Evidenz auf das eigene Handeln angeführt (10).

Seit 1996 wird in Deutschland zuneh- mend über die EbM geschrieben und dis- kutiert. Von „Beraubung der ärztlichen Therapiefreiheit“ bis „Kochbuchmedi- zin“ lauteten die Argumente der Kriti- ker,die bei genauer Betrachtung und An- wendung der Definition nicht aufrecht

Plädoyer für mehr

evidenzbasierte Chirurgie

Christoph M. Seiler1, Hanns-Peter Knaebel1, Moritz N. Wente1, Matthias Rothmund2, Markus W. Büchler1

Zusammenfassung

Die Bedeutung der evidenzbasierten Medizin für die Chirurgie ist bisher nicht ausreichend in Forschung und Krankenversorgung beachtet worden. Randomisierte kontrollierte Studien (RCT) sind zur Überprüfung der Wirksamkeit ei- nes operativen Verfahrens geeignet. Die Be- handlungsgleichheit kann durch Operations- manuale und möglichst die Verblindung von Therapeuten und Patienten erreicht werden.

Die Beobachtungsgleichheit wird durch zuver- lässige Messinstrumente und unabhängige Analysten erreicht. Studien sind nach den Richtlinien von „good clinical practice“ (GCP) zu planen und durch Ethikkommissionen zu be- urteilen. Arbeiten zu laparoskopischer Ad- häsiolyse, Cholezystektomie, Arthroskopie und Chirurgie des Prostatakarzinoms zeigen die sinnvolle Anwendung von Verblindung und Placebochirurgie. Die Ergebnisse haben ange- nommene Vorteile für die Laparoskopie nicht bestätigen können und beim Prostatakarzinom

gleiche Gesamtüberlebenszeiten für die ab- wartende Haltung gegenüber der Operation ergeben. Neue Verfahren, wie beispielsweise die roboterassistierte Chirurgie, endoskopische Antirefluxverfahren oder interventionelle ra- diologische Techniken, sollten vor der breiten Anwendung in RCT getestet werden.

Schlüsselwörter: chirurgische Therapie, evi- denzbasierte Medizin, klinische Forschung, Pla- cebotherapie, Therapiestudie

Summary

Pleading for Evidence-Based Surgery Evidence-based Medicine in surgery is consider- ed to be insufficiently involved in research and patient care so far. Randomized controlled trials (RCT) are most valuable to test the effec- tiveness of a given surgical technique versus another treatment. Interventions have to be done following manuals and if possible, mask-

ing of therapeutic persons and blinding of pa- tients regarding the treatment which has to be performed. Reliable measuring instruments and independent outcome assessors should be used. Studies have to be approved according to good clinical practice guidelines by ethics committees. Studies from outside Germany for laparoscopic adhesiolysis, cholecystectomy, arthroscopic surgery and surgery of prostate cancer show the effects of blinding and place- bo surgery. Their results could not demonstrate a substantial advantage in favor of laparo- scopy. In prostate cancer the total survival curves for watchful waiting versus prostatectomy led to similar survival curves. New procedures like the robotic assisted surgery, endoscopic anti- reflux treatment or radiological intervention techniques should be tested in RCTs before introduced in general practice.

Key words: surgery, evidence based medicine, clinical research, placebo therapy, therapeutic study

1Klinisches Studienzentrum Chirurgie, Chirurgische Uni- versitätsklinik (Direktor: Prof. Dr. med. Dr. h. c. Markus W.

Büchler), Ruprecht Karls-Universität, Heidelberg

2Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie (Direk- tor: Prof. Dr. med. Matthias Rothmund), Klinikum der Phi- lipps-Universität, Marburg

M E D I Z I N

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erhalten werden konnten. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie hat sich in den 1990er-Jahren erfolgreich in der Er- stellung und Verbreitung von Leitlinien in der Arbeitsgemeinschaft Medizinisch Wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF) engagiert. Die Verknüpfung mit den Kenntnissen und der Methodik der EbM erfolgte bei den ersten Überar- beitungen der Leitlinien und setzt sich bis heute fort. Auf den Kongressen und in den Mitteilungen der Gesellschaft wurde das Thema und seine Relevanz für Klinik und Forschung breit diskutiert (11).

Wenn eine Krankheit durch eine neue operative Therapie geheilt oder Leiden vermindert werden kann, sollte dieser Effekt in randomisierten kontrollierten Studien (randomized controlled trial, RCT) in der Chirurgie genauso wie in al- len anderen Fächern nachgewiesen wer- den können. Voraussetzung für einen RCT sind das Vorhandensein einer eta- blierten Therapieform, mit der die unter- suchende Behandlung verglichen wer- den kann. Falls keine geeignete Operati- on für ein schwerwiegendes Krankheits- bild besteht, kann ein neues Verfahren auch ohne RCT eingeführt werden,wenn es zu einer wesentlichen Verbesserung für den Patienten führt (Alles-oder- nichts-Verfahren). Grundsätzlich eignen sich abhängig von der Fragestellung auch Kohortenstudien und Fall-Kontroll-Stu- dien für chirurgische Themen.

Alle Argumente, die bisher gegen die Einführung von doppelblinden randomi- sierten kontrollierten Studien in der Chirurgie aufgeführt wurden, sind inzwi- schen durch aktuelle eindrucksvolle Bei- spiele widerlegt worden. Sie belegen die heutige Bedeutung des RCT, wo Fort- schritte durch neue Verfahren kritisch überprüft werden sollten. Letztendlich kann der RCT als wissenschaftliches Ex- periment eine zuverlässige Aussage über einen beobachteten Effekt für den primären Endpunkt treffen.

Laparoskopische Chirurgie:

Fundierte Studien erforderlich

Eine wesentliche Neuerung in der Chir- urgie ist die flächendeckende Ein- führung der laparoskopischen Technik in den letzten zehn Jahren. Der Stellen- wert dieser Methodik im Vergleich zu

den konventionellen offenen Verfahren wurde umfassend diskutiert, aber nicht genügend in wissenschaftlichen Stu- dien überprüft. Für die laparoskopische Cholezystektomie wurde bei folgenden Merkmalen eine Überlegenheit gegen- über der alten Technik postuliert: post- operative Schmerzen, Rekonvaleszenz, kosmetisches Ergebnis und eine Ver- kürzung der Krankenhausverweildauer.

Trotz kritischer Stellungnahmen zu die- sem Thema (3) werden in Deutschland, wie auch in anderen Ländern die lapa- roskopischen Methoden weiterhin flä- chendeckend angewendet (16).

Durch Verblindung des Patienten und des Analysten für den primären Endpunkt können Beobachtungs- und Behandlungsgleichheit hergestellt wer- den. Die Randomisierung alleine ist unzureichend, denn sie stellt nur die Strukturgleichheit der Studienteilneh- mer in den verschiedenen Gruppen am Anfang des Experimentes sicher. Fehlt die Verblindung, können systematische Fehler (einseitige stetige Abweichung vom tatsächlichen Ergebnis) die Resul- tate stark verzerren (4).

Majeed hat die laparoskopische und die offene Cholezystektomie randomi- siert bei 200 Patienten unizentrisch im Zeitraum von 1992 bis 1995 in Großbri- tannien verglichen. Die Behandlungs- gleichheit wurde durch einen identi- schen Wundverband des Abdomens (Verblindung des Patienten) und die postoperative Betreuung durch Kran- kenschwestern, die keine Kenntnis vom Operationsverfahren hatten, sicherge- stellt. Den Analysten der Endpunkte war die gewählte Technik beim einzel- nen Patienten ebenfalls nicht bekannt, sodass eine Beobachtungsgleichheit er- reicht wurde.

Die Operationszeit war für die Lapa- roskopie signifikant länger (Median 65 [27 bis 140] min versus 40 [18 bis 142]

min, p < 0,001). Kein Unterschied konnte für die Krankenhausver- weildauer (Median 3,0 [1 bis 17] Tage für die Laparoskopie versus 3,0 [1 bis 14] Tage für die offenen Verfahren, p = 0,74) und Rekonvaleszenz (Median 3,0 Wochen versus 3,0 Wochen, p = 0,15) festgestellt werden (8). Das Editorial im Lancet zu dieser Arbeit A

A340 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 66. Februar 2004

Postoperativer Schmerz bei Patienten mit chronischen Kniegelenkschmerzen, randomisiert zu Arthroskopie mit Lavage, Arthroskopie mit Débridement oder Placeboeingriff

Grafik 1

Aus: Moseley JB, O'Malley K, Petersen NJ, Menke TJ, Brody BA, Kuykendall DH et al.: A controlled trial of ar- throscopic surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med 2002; 347: 81–88, mit freundlicher Genehmi- gung Massachusetts Medical Society

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verglich die chirurgische klinische For- schung damals mit einer komischen Oper, bei der für viele Fragen nur wenig Antworten zu finden seien (6). Damit hat ein operatives Verfahren Einzug in die Grundversorgung erhalten, dessen Kosten das System heute belasten, aber dessen wirklicher Nutzen nicht ausrei- chend belegt worden ist.

Placebochirurgie ist ethisch und klinisch notwendig

Eine Bestandsaufnahme klinischer Stu- dien in der Chirurgie im Jahr 2000 ergab einen Anteil an randomisierten kontrol- lierten Studien von nur 2,8 Prozent. Da- mals wurde die Placebochirurgie allge- mein noch als unethisch abgelehnt (14).

Diese Auffassung muss heute revidiert werden. Chirurgie und ihr Erfolg ist nicht nur nach Komplikations- und Mor- talitätsraten zu messen. EbM hat zur Fo- kussierung auf die Wünsche der Patien- ten in Zusammenhang mit ihrer Krank- heit geführt. Zeichen dieser Entwick- lung ist die Berücksichtigung von sub- jektiven Parametern, wie zum Beispiel Schmerz und Lebensqualität, als primä- re Endpunkte in Studien. Ein Placebo wird dann essenziell notwendig, wenn bei einem chirurgischen Verfahren ent- sprechende Kriterien objektiv kontrol- liert werden sollen. Alle anderen Maß- nahmen würden die Ergebnisse verzer- ren. Die Begleitrisiken sind soweit wie möglich zu reduzieren, wie in einem Bei- spiel zur Arthroskopie des Kniegelenkes bei Arthrose für die Anästhesie (Intuba- tionsnarkose versus Analgosedierung) gezeigt werden konnte (9).

Chirurgen sollten nicht die End- punkte bei Maßnahmen erheben, die sie selbst durchgeführt haben. Die Stu- die von Moseley und Mitarbeitern stellt die in Deutschland häufig vorgenom- mene Arthroskopie bei einem Teil der Patienten mit Kniegelenkschmerzen in- frage. 180 Patienten mit seit mindestens sechs Monaten bestehenden Beschwer- den ohne stattgehabte Vorspiegelung innerhalb der letzten zwei Jahre wurden im Zeitraum vom Oktober 1995 bis September 1998 eingeschlossen und in drei Gruppen nach Schweregrad strati- fiziert und dann randomisiert (Lavage, Débridement, Placebo). Weder der Pa-

tient noch die postoperativ betreuen- den Fachkräfte am Houston Veterans Affairs Medical Center erfuhren von der angewendeten Therapieform (Ver- blindung), wodurch die Behandlungs- gleichheit sichergestellt wurde. Die Pa- tienten in der Placebogruppe hatten bei tiefer Analgosedierung die gleiche Auf- enthaltszeit im Operationssaal und wurden in gleicher Weise abgedeckt, abgewaschen und bewegt wie die Pa- tienten in den Verumgruppen. Auch die Hautinzisionen wurden in gleicher Weise durchgeführt, sodass eine voll- ständige Verblindung angenommen werden kann. Die Endpunktbewertung wurde durch spezielles Studienperso- nal durchgeführt. Dieses hatte keine Kenntnis von der Art der Behandlung und war damit verblindet, wodurch ei- ne Beobachtungsgleichheit angenom- men werden kann. Das Studienproto- koll dieser Arbeit minimierte die Mög- lichkeit von zufälligen Fehlern durch eine ausreichende Fallzahl (Struktur- gleichheit der Patientengruppe) und einen Chirurgen (Behandlungsgleich- heit). Zusätzlich wurden zuverlässige

und valide Messinstrumente zur Bewer- tung herangezogen. Die interne Vali- dität der Studie ist dementsprechend hoch und erbrachte keinen Vorteil der Kniegelenkstoilette gegenüber Placebo im zeitlichen Verlauf (Grafik 1) (9). Ob diese Ergebnisse auf Deutschland über- tragbar sind, ist eine Frage an die exter- ne Validität dieser Studie. Nach den Ein- und Ausschlusskriterien ist dies si- cherlich möglich. Allerdings wäre es besser, dieses Protokoll multizentrisch mit verschiedenen Chirurgen und Or- thopäden in Deutschland zu wiederho- len, um die Ergebnisse zu reproduzie- ren. Es wäre unethisch, weiter Patienten zu arthroskopieren, ohne sie auf die Er- gebnisse dieser Studie und die mögli- chen Nebenwirkungen der operativen Therapie wie Thrombose oder Kniege- lenksempyem hinzuweisen.

Für die Viszeralchirurgie gibt es eine ähnliche aktuelle Studie. Ob die laparoskopische Adhäsiolyse bei chro- nischen Bauchschmerzen nach abdo- minalchirurgischem Eingriff für Patien- ten sinnvoll ist, war bis vor kurzem nicht hinreichend geklärt. In einer niederlän- dischen Arbeit wurde ein Pa- tientenkollektiv mit Verdacht auf Adhäsionen rekrutiert, bei dem durch Voruntersu- chungen eine andere organi- sche Ursache ausgeschlossen wurde. Während der Lapa- roskopie erfolgte die Ran- domisierung zur Adhäsiolyse versus Scheinoperation, wenn sich dieser Verdacht bestätig- te. Wiederum wurde dem Pa- tienten nicht mitgeteilt, wel- cher Behandlungsgruppe er angehörte, und die Bewerter der Endpunkte wussten eben- falls nicht, ob Verum oder Placebo angewendet wurde.

Das Ergebnis nach einem Jahr ergab für beide Gruppen eine deutliche Verbesserung der Schmerzen und eine Ver- besserung der Lebensqualität (Differenz auf der visuellen Analogskala nach 12 Mona- ten betrug 3 Punkte, 95-Pro- zent-Konfidenzintervall 7 bis 13 Monate; p = 0,53) (Grafik 2) (13). Jedoch waren keine relevanten Unterschiede zwi- Postoperativer Schmerz, angegeben auf visueller Ana-

logskala, bei Patienten mit chronischen Abdominal- schmerzen bei Adhäsionen, randomisiert zu Adhäsiolyse oder Placeboeingriff

Aus: Swank D, Swank-Bordewijk S, Hop W, van Erp W, Janssen I, Bonjer H et al.: Laparoscopic adhesiolysis in patients with chro- nic abdominal pain: a blinded randomised controlled multi- centre trial. Lancet 2003; 361: 1247–1251, mit freundlicher Ge- nehmigung von The Lancet Publishing Group

Grafik 2

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schen den Gruppen festzustellen. Das bedeutet, dass die laparoskopische Ad- häsiolyse in Zukunft bei chronischen Abdominalschmerzen nicht eingesetzt werden sollte, ohne die Patienten über den reinen Placeboeffekt zu informie- ren.

Diese Beispiele zeigen eindrucksvoll die Relevanz des Placebos in der Chir- urgie. Ein Verzicht auf diese Methodik in der chirurgischen Forschung könnte für die Patienten erhebliche nachteilige Effekte haben und die Chirurgen in Unkenntnis über ihren wirklichen Ein- fluss auf ein Leiden lassen. Die positi- ven Effekte des operativen Aktes mit dem gesamten Umfeld als solchem, sind bereits seit langem bekannt (1).

Endpunkte in der

onkologischen Chirurgie

Die 5-Jahres-Überlebenszeit sowie die Mortalität und Morbidität als kritische Endpunkte in der onkologischen Chir- urgie sind bis heute ein Dogma für fast alle Studien. Ob diese Endpunkte aus Sicht der Patienten oder des Gesund- heitssystems auch in Zukunft relevant sind, wird sich zeigen. Bis dato konnten die Grundlagenwissenschaften keine durchgreifend wirksame kausale Thera- pie bei vielen Tumorformen entwickeln.

Der Stellenwert der Empirie und das Wissen aus einer Vielzahl von Studien sind die Grundlagen der modernen Tu- morchirurgie. Das Thema Lebensqua- lität hat eine besondere Bedeutung er- langt und kann als Entscheidungskrite- rium für oder gegen eine Operation herangezogen werden.

Bereits zwischen 1989 und 1999 ha- ben schwedische Urologen 695 Patien- ten mit einem umschriebenen Karzinom der Prostata (UICC-Stadium T1b, T1c oder T2) randomisiert und entweder ei- ne radikale Prostatektomie vorgenom- men oder kontrolliert abgewartet (5).

Die Gesamtmortalität war nach ei- ner medianen Nachbeobachtungszeit von 6,2 Jahren in beiden Gruppen gleich (relatives Risiko 0,83; 95-Pro- zent-Konfidenzintervall 0,57 bis 1,2;

p = 0,31) (Grafik 3). Es wurde jedoch ein signifikanter Unterschied bezüglich der tumorbezogenen Letalität zugun- sten der operierten Patienten (relatives

Risiko 0,50; 95-Prozent-Konfidenzin- tervall 0,27 bis 0,91; p = 0,02) festge- stellt. Ob die Chirurgie nun die geeigne- te Therapieoption für den Patienten ist, hängt also von seinen Präferenzen ab.

In einer Teilgruppe von 376 Patien- ten wurden verschiedene patientenrele- vante Endpunkte untersucht. Die Rate der erektilen Dysfunktion (80 Prozent versus 45 Prozent) und der Harninkon- tinenz (49 Prozent versus 21 Prozent) war in der operativen Gruppe höher, wogegen die Harnobstruktionsrate (28 Prozent versus 44 Prozent) erniedrigt war. Insgesamt konnte kein Unter- schied bezüglich der Lebensqualität als Summe einer Vielzahl von Parametern festgestellt werden. Spielt für einen Pa- tienten die Sexualität eine wichtige Rol- le, wäre zum Beispiel von einer operati- ven Therapie eher abzuraten (5).

Für die onkologische Forschung sind damit Studien zu konzipieren, die sich jeweils am Krankheitsbild und der da- hinter stehenden Patientenpopulation orientieren müssen. Die Wahl der rich- tigen Endpunkte gehört zu den schwie- rigsten Aufgaben in der Studienpla- nung. Erwartungen an eine Operation aus Sicht des Patienten und des Chirur-

gen können erheblich differieren. Die Ergebnisse der Zukunft könnten sich aus einer Integration in einem Drei- Komponenten-Modell mit klassischen Ergebnisvariablen (Überlebensrate, Komplikationen, Laborwerte), herme- neutischen Endpunkten (Lebensqua- lität, Erwartungshaltung, negativer Af- fekt, soziale Stigmata) und qualitativen Analysen der Endpunkte zusammen- setzen (7).

Chirurgische Forschung und evidenzbasierte Medizin

Eine Krankenversorgung ohne die Be- achtung der Prinzipien der EbM ist heute nicht mehr vertretbar. Die Berücksichtigung der Patientenpräfe- renzen und die Umsetzung der Ergeb- nisse aus Studien sind für eine hoch- wertige Medizin unerlässlich. Die Chirurgie in Deutschland hat zusam- men mit den Institutionen der For- schungsförderung (BMBF und DFG) und den Leistungserstattern die Auf- gabe, in den kommenden Jahren eine leistungsfähige Forschungslandschaft für patientenorientierte Studien in der A

A342 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 66. Februar 2004

Gesamtüberlebensrate bei Patienten randomisiert zu radikaler Prostatektomie oder einem kontrollierten Abwarten beim Prostatakarzinom

Aus: Holmberg L, Bill-Axelson A, Helgesen F, Salo JO, Folmerz P, Haggman M et al.: A randomized trial com- paring radical prostatectomy with watchful waiting in early prostate cancer. N Engl J Med 2002; 347:

781–789, mit freundlicher Genehmigung Massachusetts Medical Society Grafik 3

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Chirurgie aufzubauen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (2) und die Boston Consulting Group (12) haben bereits eindrücklich die bestehenden Defizite aufgezeigt und eine Verände- rung angemahnt.

Während die europäischen Nach- barn, insbesondere Skandinavien und die Niederlande, seit Jahren systema- tisch Strukturen für klinische Studien in der Chirurgie aufgebaut haben und über eine entsprechende Forschungs- kultur verfügen, fehlen derartige fach- gebietsbezogene Einrichtungen in Deutschland. Die Oncology Group des American College of Surgeons verfügt über ein eigenes Studienzentrum mit mehr als 100 Mitarbeitern und einem Jahresetat von 14 Millionen Dollar. Die Etablierung der Koordinierungszen- tren für klinische Studien an den Fakul- täten und die Einrichtungen für theore- tische Chirurgie haben wichtige Vorar- beiten geleistet, die jetzt an und in den Kliniken umgesetzt werden müssen.

Leider mangelt es derzeit an gut ausge- bildeten Chirurgen mit epidemiologi- schen Kenntnissen sowie Studienfach- pflegekräften.

Die Patienten sind Studien gegen- über in der Regel aufgeschlossen. Eine Herausforderung stellt bis heute die Abwicklung von Verfahren vor den Ethikkommissionen dar. Oft ist die Zahl der involvierten Ethikkommissio- nen identisch mit den teilnehmenden Studienzentren. Wenn die beteiligten öffentlich-rechtlichen Institutionen sich an die Verpflichtung der gegenseitigen Anerkennung von einmal getroffenen Erstvoten erinnern und ihre Aufgabe für die forschenden Kollegen ohne in- dustrielle Unterstützung unentgeltlich, im Sinne des officium nobile durch- führen würden, könnte eine wesentli- che Verbesserung der jetzigen Situation eintreten. In der Regel sind die Projek- te nämlich multizentrisch, um die exter- ne Validität von Studien sicherzustel- len. Selbstverständlich gelten interna- tionale wie nationale Regelungen für die Forschung am Menschen auch für chirurgische Studien uneingeschränkt.

EbM bedeutet bei jedem neuen The- rapieverfahren, zu dem eine operative oder medikamentöse Alternative be- steht, eine randomisierte Studie durch- zuführen. Die unkontrollierte Anwen-

dung neuer Techniken außerhalb von Studien ist zum Schutz der Patienten abzulehnen. Bereits etablierte Verfah- ren müssen durch Studien hinterfragt werden dürfen, um auf patientenrele- vante Endpunkte geprüft zu werden.

Beispielsweise wurden derzeit ohne Va- lidierung in Studien interventionelle Therapieverfahren bei resektablen Le- bermetastasen, endoskopischen Anti- refluxverfahren oder bei der Roboter- assistierten Chirurgie eingeführt.

Gründung eines

Studienzentrums Chirurgie

Das Präsidium der Deutschen Gesell- schaft für Chirurgie hat sich zur Grün- dung eines eigenen Zentrums für die patientenorientierte Forschung ent- schlossen. Aufgabe dieser Einrichtung ist die Planung, Durchführung und Auswertung von multizentrischen ran- domisierten kontrollierten Studien in der Chirurgie unter Verantwortung der Fachgesellschaft. Damit wird die nötige Sicherheit und Transparenz für die Finanzierung der Projekte durch Drittmittel von öffentlicher und indu- strieller Seite hergestellt. Alle Chirur- gen werden eingeladen, ihre Ideen und Patienten in relevante Studien einzubringen und damit einen Beitrag für den Forschungsstandort Deutsch- land zum Wohle der Patienten zu lei- sten.

Patientenorientierte Forschung in der Chirurgie zur Verbesserung der Evidenzlage wird in Heidelberg in Form eines klinischen Studienzen- trums betrieben. Seit Mai 2002 werden systematisch alle Patienten der Klinik durch einen Studienarzt auf die Ein- und Ausschlusskriterien von derzeit 22 randomisierten kontrollierten Studien untersucht. Bei Eignung erfolgt die Einladung zur Teilnahme. Auf diese Weise konnten bereits mehr als 600 Patienten protokollgerecht behandelt werden. Regelmäßiges externes unab- hängiges Monitoring und Auditing ge- währleistet eine laufende Kontrolle der Qualität. In einem interdiszi- plinären Team von weitergebildeten Studienärzten und Studienpflegekräf- ten werden Protokolle für chirurgi- sche Studien nach den Richtlinien von

GCP im Metaplanverfahren nach fest- gelegten Eckpunkten erstellt. In enger Kooperation mit dem Institut für Me- dizinische Biometrie und Informatik der Universität Heidelberg (Prof. Dr.

rer. nat. N. Victor) wird auf die metho- dischen Anforderungen geachtet und die Biometrie von Anfang an bei der Planung mit einbezogen. Derzeit lau- fen erste chirurgische Studien mit eu- ropäischen Partnern nach der Begut- achtung durch die lokale Ethikkom- mission.

Die Errichtung eines derartigen Zentrums ist mit einem Strategie- wechsel in der Forschung auch an an- deren Universitäten und Krankenhäu- sern der Maximalversorgung denkbar.

Schlussfolgerung

EbM in der Chirurgie ist notwendig, um eine Krankenversorgung nach heute bekannten wissenschaftlich hochwerti- gen Maßstäben durchzuführen. Derzeit sind für weniger als 15 Prozent aller Fragen in der Chirurgie Daten aus ran- domisierten kontrollierten Studien ver- fügbar (15). Für eine EbM in Deutsch- land sind der Aufbau und die Förderung einer multizentrischen Studienkultur notwendig. Neue und alte Verfahren in der Chirurgie müssen ihre Leistungs- fähigkeit unter Umständen auch in pla- cebokontrollierten Studien beweisen.

Neben den verfahrensorientierten End- punkten sind patientenorientierte End- punkte stärker zu berücksichtigen. Das Studienzentrum der Deutschen Ge- sellschaft für Chirurgie soll einen Bei- trag zur Optimierung der vorhandenen Strukturen leisten.

Manuskript eingereicht: 8. 8. 2003, revidierte Fassung angenommen: 27. 10. 2003

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2004; 101: A 338–344 [Heft 6]

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Markus W. Büchler Chirurgische Universitätsklinik Heidelberg Ruprecht Karls-Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 110, 69120 Heidelberg E-Mail: Markus_Buechler@med.uni-heidelberg.de Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit0604 abrufbar ist.

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