• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Plädoyer für mehr evidenzbasierte Chirurgie: Reizthema" (03.09.2004)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Plädoyer für mehr evidenzbasierte Chirurgie: Reizthema" (03.09.2004)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Schlechtes Beispiel

In dem Beitrag, wird auf eine Studie von Moseley JB et al. (N Engl J Med 2002; 347: 81–88) Bezug genommen, welche unter Experten erhebliche Dis- kussionen auslöste.

Im Endeffekt hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Moseleys Ergebnis- se nicht haltbar sind, da er undifferen- ziert Patienten mit verschiedenen Ar- throsestadien unterschiedlicher Genese den in dieser Studie angewendeten The- rapien zuführte und dann auch noch die Möglichkeiten der modernen Arthro- skopie nicht ausschöpfte.

So teilen Keith Cambers et al., Van- couver Center of Clinical Epidemiolo- gy and Evaluation, mit (1): „Die Art, mit der die Ergebnisse analysiert wur- den und die Methoden der statistischen Analyse sind grob fehlerhaft.“ Stephen S. Burkhart, President der Arthroscopy Association of North America (AA- NA) meint (3): „Die offizielle Position der AANA ist, dass bei sorgfältig aus- gewählten Patienten mit Gonarthrose und mechanischen Symptomen ein ar- throskopische Vorgehen indiziert ist.“

In der renommierten nordamerikani- schen Zeitschrift „Arthroscopy“ stel- len Fond et al. fest (2): Arthroskopi- sches Debridement bei Arthrose des Kniegelenkes erbringt hervorragende Ergebnisse bei geeigneten Patienten.

Den unbestreitbaren Vorteil arthro- skopischer Interventionen bei einer

Vielzahl von Gelenkschäden belegen viele Studien.“

Patienten mit beginnender Gonar- throse bei zum Beispiel Instabilität und/oder begrenztem Knorpelschaden und/oder mechanisch wirksamem Me- niskusschaden einer Placebooperation zuzuführen ist ebenso unethisch, wie bei mittelgradigem Kniegelenkver- schleiß und fokalen „Knorpelglatzen“

die Durchführung einer arthroskopi- schen Operation ohne die Anwen- dung knorpelstimulierender Verfah- ren. Ebenso ist bei hochgradiger Gon- arthrose mit Fehlstellung und Bewe- gungseinschränkung das Experiment eines isolierten arthroskopischen De- bridements abzulehnen. All dies wird in der Moseley-Studie getan, da hier keine Differenzierung der untersuch- ten Patienten vorgenommen wird.

Dass Moseley auch noch im Verlauf der Studie das Studiendesign änderte, sei nur am Rande erwähnt. Insofern ist gerade diese Studie ein Beispiel, wie auf keinen Fall evidenzbasiertes Zah- lenmaterial zustande kommen kann.

Im Gegenteil: die von Moseley getätig- ten Aussagen sind, obwohl vordergrün- dig evidenzbasiert, vorwiegend wegen ungenügender Schärfe der Einschlus- skriterien, als falsch einzustufen. Somit ist gerade diese Studie kein Plädoyer für mehr evidenzbasierte Chirurgie.

Literatur

1. Chambers KG, Schulzer M: Artheroscopic surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med 2002 Nov 21;

347: 1717–1719.

2. Fond J, Rodin D, Ahmad S, et al.: Arthroscopic debride- ment for the treatment of osteoarthrosis of the knee.

Arthroscopy 2002; 18: 829–834.

3. Stephen SB: Do statistics ever lie? Arthroscopy 2002;

18: 823.

Dr. med. Emanuel Ingenhoven

Bundesverband für ambulante Arthroskopie e.V.

Breite Straße 96 41460 Neuss

Reizthema

Seiler und Kollegen greifen ein Reiz- thema der modernen Chirurgie auf und fordern zurecht „eine Optimierung der vorhandenen Strukturen“. Die Lösung sehen die Autoren in einer Erhöhung des Anteils randomisierter Studien in der klinisch-chirurgischen Forschung.

Die Aussage, „Evidenzbasierte Medizin bedeutet bei jedem neuen Therapiever- fahren . . . eine randomisierte Studie durchzuführen“, geht allerdings an ei- ner sehr viel subtileren Definition von evidenzbasierter Medizin (EbM) als Methode der Synthese von interner und externer Evidenz vorbei und gießt Öl auf das Feuer ihrer unbelehrbaren Kri- tiker. Es macht zudem den chirurgi- schen Kolleginnen und Kollegen, die versuchen, die Idee, Philosophie und Methoden der EbM in Kursen zu ver- mitteln, das Leben unnötig schwer.

Randomisierung ist ein exzellentes In- strument zur Balancierung des biologi- schen Risikoprofils, aber nicht die einzi- ge Form des wissenschaftlichen Er- kenntnisgewinns.

Es wird zudem unterschlagen, dass 44 Prozent der Patienten in der Mose- ley-Studie einer zufälligen Zuteilung in Therapiearme nicht zustimmten. In ei- ner Untersuchung von Solomon waren lediglich 42 Prozent der Patienten und 44 Prozent der Chirurgen bereit, an ei- ner (wenn auch fiktiven) randomisier- ten, kontrollierten Studie (RCT, „ran- domized controlled trial“) teilzuneh- men (1). Die aus RCT gewonnenen Da- ten geben uns damit eine Information über diejenigen Patienten und Ärzte, die tatsächlich keinerlei Präferenz für ein bestimmtes Verfahren besitzen – für diejenigen also, für die das Prinzip der therapeutischen Unsicherheit (Equi- poise) uneingeschränkt zutrifft. Gibt es tatsächlich Chirurgen, denen es a priori egal ist, ob sie eine Leistenhernie offen oder laparoskopisch operieren und die zudem beide Interventionen gleich gut beherrschen? Ohne Frage ist auch eine Verblindung in chirurgischen Studien möglich. Es sollte aber kritisch hinter- fragt werden, ob bei der klinischen Prü- fung zweier operativer Verfahren die Definition einer Doppelblindstudie wirklich zutrifft, wenn der Patient und ein unabhängiger Untersucher gegen- über der Intervention verblindet sind, naturgemäß jedoch nicht der ausüben- de Arzt. Übersetzt bedeutet dies doch lediglich: Ich weiß, wie ich Sie operiere – aber ich sage es Ihnen nicht.“ Verblin- dung in der operativen Medizin berührt daher stärker die Einzel- als die Dop- pelverblindung mit all ihren ethischen Problemen.

M E D I Z I N

A

A2398 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 363. September 2004

zu dem Beitrag

Plädoyer für mehr

evidenzbasierte Chirurgie

von

Dr. med. Christoph M. Seiler Dr. med. Hanns-Peter Knaebel Dr. med. Moritz N. Wente Prof. Dr. med.

Matthias Rothmund Prof. Dr. med. Dr. h. c.

Markus W. Büchler in Heft 06/2004

DISKUSSION

(2)

Die Gründung des klinischen Studi- enzentrums Chirurgie ist ein Meilen- stein in der nationalen Forschungsland- schaft; der Leistung der Heidelberger Kollegen ist uneingeschränkt Respekt zu zollen. Allerdings sollte nicht die Chance vertan werden, Alternativen zur randomisierten Studie (zum Bei- spiel Hybrid-Design) zu entwickeln und zu etablieren.

Ein viel größeres Problem als der Mangel an chirurgischen RCT ist doch, dass wir keine Informationen über Pati- enten haben, die außerhalb kontrollier- ter Studien behandelt werden. Diesen Missstand zu beseitigen, sollte die ge- meinsame Aufgabe der theoretisch- chirurgischen Zentren in Deutschland sein. Evidenzbasierte Chirurgie ist eben nicht nur evidenzbasierte Medizin in der Chirurgie.

Literatur

1. Solomon MJ, Pager CK, Young JM, Roberts R, Butow P:

Patient entry into randomized controlled trials of colo- rectal cancer treatment: factors influencing participa- tion. Surgery 2003; 133: 608–613.

Dr. med. Dirk Stengel

Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Unfallkrankenhaus Berlin

Warener Straße 7 12683 Berlin

E-Mail: dirk.stengel@ukb.de stengeldirk@aol.com

Manipulierbarer Begriff

Kann die Gründung eines Studienzen- trums Chirurgie in Heidelberg unter Zuhilfenahme „neuer Strategien“ um randomisierte Placebostudien die Evi- denzlage chirurgischer Erkenntnisse wirklich nachhaltig verbessern oder re- flektiert dieses Plädoyer nicht nur ein eher trendig aufgeblähtes Aktionsprofil für unumstritten notwendige, solide kli- nische Studienarbeiten, wie sie tagtäg- lich an unseren forschenden chirurgi- schen Einrichtungen geleistet werden?

Was bedeutet evidenzbasierte Medizin (EbM) eigentlich?

Nach allgemeinem Verständnis iden- tifiziert EbM jedenfalls nicht automa- tisch den momentanen Stand medizi- nisch-chirurgischer Erkenntnis (3). Sie hilft lediglich, die Qualität von klini- schen Studien hinsichtlich ihrer Metho- dik formal beurteilbar zu machen. EbM

erweist sich als manipulierbarer Begriff, weil individuelle klinische Expertise so- wie die Patientenwünsche inhaltlich un- definierbar bleiben. Diese Manipulier- barkeit könnten Gesundheitspolitiker nutzen, um die Patientenversorgung trotz wissenschaftlicher Erkenntnis so zu gestalten, dass sie ausreichend, ja zweckmäßig ist und das Maß des Not- wendigen nicht überschreitet.

Die berechtigte Kritik an der „Evi- dence Based Medicine (Surgery)“ wur- de vor Jahren von Charlton and Miles (1) zutreffend wie folgt formuliert:

EbM bringt den Wissenschaftlern in der Medizin keine neuen Maßstäbe. EbM wird unter anderem von Politikern, Ge- sundheitsmanagern, Funktionären, Ge- sundheitsökonomen und im wissen- schaftlichen Bereich von Epidemiolo- gen und Biostatistikern aufgegriffen und propagiert.

EbM stellt die epidemiologische

„Evidenz“ über Grundlagenforschung, Laborbefunde und klinische Intuition.

Es gibt keinen Hinweis, dass medizi- nische Forschungsergebnisse und deren Integration und Umsetzung für die praktische Medizin auf „Evidenz“-Gra- de oder Checklisten reduziert werden können.

EbM ist kein neues Paradigma, sie schärft allenfalls unseren Blick für die Qualität klinischer Therapiestudien.

Man kann nur hoffen, dass das im Entstehen begriffene Studienzentrum in Heidelberg dieser Kritik offen ge- genübersteht und die Feststellungen Poppers berücksichtigt, dass es „er- kenntnistheoretisch völlig gleichgültig ist, ob eine Überzeugung schwach oder stark ist, ob ,Evidenz‘ vorliegt oder nur eine Vermutung. Mit der Begründung wissenschaftlicher Sätze hat das nichts zu tun“ (2).

Literatur

1. Charlton BG, Miles A: The rise and fall of EBM. QJM 1998, 91: 371–374.

2. Popper K: Logik der Forschung (10. Auflage). Tübin- gen: Verlag J.V.B. Mohr 1994.

3. Reinauer H: Evidenzbasierte Medizin. Journal DGPW Nr. 28/Oktober 2003.

Prof. Dr. med. Lothar Kinzl Abteilung für Unfallchirurgie, Hand- und Wiederherstellungschirurgie

Chirurgische Universitätsklinik Steinhövelstraße 9 89075 Ulm

Begründung fehlt

Die Autoren argumentieren in ihrem Beitrag wie folgt: „Wenn eine Krankheit durch eine neue operative Therapie ge- heilt oder Leiden vermindert werden kann, sollte dieser Effekt in randomisier- ten kontrollierten Studien . . . nachgewie- sen werden können.“ Dieser Satz bleibt ohne Begründung, ein „weil“ wird ver- gebens gesucht. Statt dieser Begründung wird von den Autoren eine Studie zitiert, mit der Vorteile einer im klinischen All- tag bestens etablierten chirurgischen Therapie infrage gestellt werden sollen, nämlich die Studie von Majeed zur la- paroskopischen versus offenen Chole- zystektomie.

An dieser Stelle könnte argumentiert werden, dass diese Studie tatsächlich teils überraschende Ergebnisse birgt, nämlich eine im Median längere Operationszeit der laparoskopischen Operation bei glei- cher Krankenhausverweildauer und glei- cher Rekonvaleszenz. Bei näherer Be- trachtung lassen sich die Ergebnisse nicht auf das Patientenkollektiv unseres Hau- ses übertragen: 65 Minuten Operations- zeit ist für geübte Operateure nach Ab- schluss ihrer Lernkurve eine sehr lange Zeit, drei Tage Krankenhausverweildau- er für eine offene Galle sind möglicher- weise eher durch Bettenknappheit im National Health Service (NHS) bedingt als durch postoperative Schnellheilung.

Diese Betrachtungen sollen die Über- tragbarkeit der Studienergebnisse hin- terfragen, nicht aber die EbM für nicht sinnhaft erklären, denn das entscheiden- de Argument ist ein anderes und soll als Kernpunkt unserer Kritik an diesem Ar- tikel verstanden werden:

Es ist wissenschaftlich nicht korrekt, aus (scheinbar) überraschenden Ergeb- nissen einer Studie, die einen hohen EbM-Level erreicht, auf die Notwen- digkeit von evidenzbasierter Medizin (EbM) zu schließen. Müsste die EbM sich mit dem von ihr selbst verlangten hohen Level begründen lassen, müsste sie unter den Bedingungen einer rando- misierten kontrollierten Studie nachwei- sen, dass sich mit ihrer Hilfe generell ei- ne bessere Medizin erzielen ließe. Eine solche Studie gibt es unseres Wissens nicht.

Die Autoren begründen die Notwen- digkeit der Placebochirurgie in analoger M E D I Z I N

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 363. September 2004 AA2399

(3)

Weise: die erste zitierte Studie von Mose- ley und Mitarbeitern stellt unter RCT- Bedingungen die Sinnhaftigkeit (RCT,

„randomized controlled trial“) von ar- throskopischer Lavage und arthroskopi- schem Debridement bei Kniegelenk- schmerz infrage. Die Autoren des Plä- doyers zweifeln an ihrer externen Vali- dität. Die eigentliche mögliche Kritik bleibt ungeäußert: Chronischer Knie- schmerz ist eine schlechte Operationsin- dikation, eine bessere Indikation sind deutliche pathologische Befunde in der klinischen Untersuchung. Bei der zwei- ten hier genannten Studie von Swank et al. wird das statistische Verfahren über- strapaziert: Aus einer mangelnden Un- terschiedlichkeit der postoperativen Er- gebnisse (p = 0,53) kann nicht zwingend auf Gleichwertigkeit der Ergebnisse ge- schlossen werden. Aber auch hier gilt als Kernpunkt der Kritik: „Eindrucksvolle Beispiele“ sind ausgewählt und somit zwangsläufig willkürlich, damit als Be- gründung nicht hinreichend.Auf die Not- wendigkeit von Placebochirurgie dürfte unter EbM-Bedingungen nur geschlos- sen werden, wenn sich ein besseres Er- gebnis für den Patienten innerhalb von RCT-Studien zeigt, wenn diese placebo- kontrolliert durchgeführt werden. Dass Aspekte der Lebensqualität in vielen chirurgisch und onkologisch konzipier- ten Studien bisher zu Unrecht vernach- lässigt oder sogar negiert werden, möch- ten wir in keiner Form in Abrede stellen.

Befremdlich an dem veröffentlichen Artikel ist der selbstgewählte Plädoyer- Charakter. Ein Plädoyer hält ein sinnvol- lerweise parteiischer Anwalt vor einem Gericht. In einer innerärztlichen Ausein- andersetzung mit dem Ziel der Mei- nungsbildung sollte ein – selbstverständ- lich immer vorläufiges und sich dieser Vorläufigkeit immer bewusstes – Urteil auf der Höhe des zur Verfügung stehen- den Wissens gefällt werden.

Wir begrüßen die Konzeption und kontinuierliche Weiterentwicklung von Leitlinien unserer und anderer me- dizinisch-wissenschaftlicher Fachgesell- schaften. Wir begrüßen, dass sie aus- drücklich als Leitlinien mit prinzipieller Therapiefreiheit und nicht als Richtlini- en mit Gesetzescharakter verstanden werden wollen. Der medizinische Fort- schritt muss immer hinterfragt werden, ob er auch Fortschritt ist. Auch müssen

scheinbar bewährte Verfahren sich im- mer wieder prüfen lassen. Wir wünschen uns zu vielen Fragestellungen, alten und neueren therapeutischen Verfahren me- thodisch saubere, transparent finanzier- te Studien jeder Art. Diese zu konzipie- ren und durchzuführen, benötigt Zeit.

Die Einführung neuer therapeutischer Verfahren darf dabei nicht durch das Dogma einer immer notwendigen RCT- Prüfung verhindert werden. Medizin ist mehr als EbM.

Priv.-Doz. Dr. med. Karl-Heinz Bauer Lukas Niggemann

Chirurgische Klinik

Knappschafts-Krankenhaus Dortmund Wieckesweg 27

44309 Dortmund

Vorgehensweise fragwürdig

Es ist sicherlich sehr zu begrüßen, dass sich die Deutsche Gesellschaft für Chir- urgie für den Aufbau eines eigenen Zen- trums für die patientenorientierte For- schung entschlossen hat. Insbesondere ist es jetzt und für die Zukunft wichtig, evidenzbasierte Medizin durchzuführen beziehungsweise die Grundlagen zur Durchführung von randomisierten kon- trollierten Studien zu schaffen, da nach Einführung des DRG-bezogenen Ent- geldsystems die Vergleichbarkeit der Leistungen unter den Kliniken weiter zunehmen wird und das gesamte medizi- nische System für alle weiter an Transpa- renz gewinnt. Vor diesem Hintergrund kann man das Plädoyer der Autoren für mehr evidenzbasierte Medizin nur un- terstreichen und unterstützen.

Sehr fragwürdig ist jedoch, dass ein Chirurg versucht, Stellung im Bereich der Behandlung des lokalisierten Pro- statakarzinoms zu beziehen und damit elementar in das urologische Fachge- biet eingreift. In einem der ersten Sät- ze in der Zusammenfassung des Artikels steht der plakative Satz, dass sich beim Prostatakarzinom gleiche Gesamtüber- lebenszeiten für die abwartende Hal- tung gegenüber der Operation ergeben.

Ein Allgemeinmediziner oder Hausarzt, der im Gebiet der Urologie nicht so ver- siert ist, wird nun annehmen, dass die Operation des lokalisierten Prosta- takarzinoms (PCa) keinen Nutzen für den Patienten bringt und sich damit ver-

anlasst sieht, die „wait and see“-Strate- gie einzuschlagen. Doch das ist so verall- gemeinert aus Sicht der Urologen falsch.

Im weiteren Verlauf wird die sehr be- kannte Studie von Holmberg et al.zitiert, die letztendlich die Gesamtmortalität vergleicht zwischen „wait and see“ und Operation sowie das tumorspezifische Überleben. Wichtig hierbei ist herauszu- stellen, dass es einen signifikanten Un- terschied im tumorbezogenen Überle- ben zugunsten der operierten Patienten gibt. Es wäre also wichtig, diesen Fakt in den Vordergrund zu stellen und nicht die unkommentierte Aussage, dass die Ge- samtmortalität des PCa bei der Operati- on und der abwartenden Strategie gleich ist.

In der Märzausgabe 2003 der Zeit- schrift „Aktuelle Urologie“ (2: 63–66;

2003) wurde bezüglich der Daten von Holmberg Stellung bezogen von nam- haften nationalen und internationalen Urologen. Von diesen Urologen wur- de zusammenfassend betont, dass es nach diesen Daten bezüglich der Ge- samtüberlebenszeit keinen Unterschied zwischen den genannten Therapiestrate- gien gibt, jedoch eindeutig die Opera- tion versus „wait and see“ ein signifikan- tes karzinomspezifisches Überleben er- bringt.

P. Walsh vom Johns Hopkins Hospital, Baltimore, USA, wurde in diesem Arti- kel mit dem Editorial zitiert, das in der gleichen Ausgabe des New England Journal of Medicine (2002; 347: 839–840) erschien, indem auch die Studie von Holmberg publiziert wurde. Nach sei- ner Aussage gibt es das erste Mal eindeu- tige Belege dafür, dass die operative Behandlung das Sterblichkeitsrisiko in- folge PCa verringert. Bei einer längeren Nachbeobachtung würden sich die Un- terschiede in der Sterblichkeit zugunsten der Prostatektomie weiter verändern.

Zudem betonte Walsh, dass in der Hand von erfahrenen Operateuren Potenzra- ten von 62 bis 86 Prozent und Kontinenz- raten von 92 bis 95 Prozent erreicht wür- den. Des Weiteren äußerte er Kritik am Studiendesign der Holmberg-Studie, da vor allem viele Patienten, die älter als 65 Jahre waren, in diese Studie einge- schleust wurden; bei diesen treten In- kontinenz und Impotenz häufiger auf als bei jüngeren Männern. 28 Prozent er- M E D I Z I N

A

A2400 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 363. September 2004

(4)

hielten zudem eine Hormontherapie in der Nachbeobachtungszeit. Außerdem wurde in der schwedischen Studie nicht routinemäßig eine nerverhaltende Ope- ration durchgeführt. Diese drei Faktoren könnten erklären, so Walsh, dass die Komplikationsrate der radikalen Prosta- tektomie höher war als zu erwarten ge- wesen wäre. Zum Abschluss stellte Walsh dezidiert die Frage nach der Kon- sequenz der Holmberg-Studie. Seiner Meinung nach sollten jetzt nicht alle Pa- tienten operiert werden, sondern es müs- se eine entsprechende Selektion der Pa- tienten durchgeführt werden bezüglich ihrer Komorbiditäten, ihres Alters sowie der Wahrscheinlichkeit, die nächsten zehn Jahre zu überleben. Daraus schlus- sfolgernd stellt für P. Walsh die radikale Prostatektomie beim jüngeren Mann mit lokalisiertem PCa die beste Thera- pieoption dar, wenn sie von einem erfah- renen Operateur vorgenommen werde.

Im weiteren Verlauf des Artikels in der „Aktuellen Urologie“ (2003; 2:

63–66) stellte Prof. Huland, Hamburg, kritisch zur Holmberg-Studie fest, dass das Nachsorgeintervall zur Demonstra- tion eines Überlebensvorteils definitiv nicht ausreichend sei (gerade das Nach- sorgeintervall ist bei der Beurteilung der Gesamtüberlebensrate in beiden Thera- piearmen entscheidend).

Dr. med. oec. med. Jens Westphal Urologische Abteilung

Sankt Josefshospital Uerdingen Kurfürstenstraße 69 47829 Krefeld

Schlusswort

Wir freuen uns über die durchaus kon- troversen und sehr kritischen Kommen- tare zu unserer Veröffentlichung. Sie zei- gen, dass es wichtig ist, die Diskussion über gute klinische Studien in der Chir- urgie zu führen.

Zu Herrn Ingenhoven – Jede rando- misiert kontrollierte Studie arbeitet un- ter experimentellen Bedingungen. Die schwierigste Aufgabe zu Beginn einer Studie ist es, ein homogenes Patienten- kollektiv durch Anwendung von Ein- und Ausschlusskriterien zu formieren.

Dies wurde in der Studie von Moseley in nachvollziehbarer und transparenter Weise vorgenommen. Naturgemäß gibt

es danach immer Diskussionen, ob man nicht das Kollektiv hätte anders zusam- mensetzen müssen. Die Ergebnisse sind dennoch so überzeugend, dass wir es für sinnvoll halten, gleichrangige Studien in Deutschland durchzuführen, um die an- geblichen, unbestreitbaren Vorteile der arthroskopischen Intervention zu bele- gen. Festzuhalten bleibt, dass die Place- bochirurgie einen Stellenwert nur in ran- domisiert kontrollierten Studien hat.

Placebooperationen außerhalb von Stu- dien sind gar nicht denkbar, weil der Patient naturgemäß über Risiken und Nebenwirkungen eines Eingriffs aufge- klärt werden muss. Über einen Place- boeingriff als alleinige Maßnahme auf- zuklären, ist unsinnig und nicht ziel- führend.

Zu Herrn Stengel – Die von Herrn Stengel aufgeführte Alternative zu ran- domisiert kontrollierten Studien zum

„Erkenntnisgewinn in der Chirurgie“ ist richtig; dennoch bleibt zu beachten, dass alle anderen Studienformen erhebliche Fehlergrößen aufzeigen. Trotz subtilster biometrischer Methoden sind diese Feh- lermöglichkeiten nie grundsätzlich aus- zuschließen, sodass wir bei konkurrie- renden Therapieverfahren bei gleichem Krankheitsbild nach wie vor auf das De- sign der randomisiert kontrollierten Stu- die zurückgreifen müssen.Aus langjähri- ger eigener Erfahrung in der Prüfung von Schulungsmaßnahmen zur evidenz- basierten Medizin ist uns mittlerweile die Erkenntnis gewachsen, dass es eher besser ist, gemeinsam mit evidenzsu- chenden Kollegen Studien durchzu- führen. Dies hat unter anderem zur For- mierung einer eigenen Studiengrup- pe geführt, die jetzt eine Studie zum Bauchdeckenverschluss (INSECT-Trial – ISRCTN-Nr. 2403541) durchführt.

Zu Herrn Kinzl – Für die wertvollen Gedanken von Herrn Kinzl danken wir.

Wir hoffen durch eine gute Kooperation mit seiner Klinik, auf unfallchirurgi- schem Fachgebiet Studien durchzu- führen, die zu einer Verbesserung der Evidenz beitragen können.

Zu Herrn Westphal – Es lag uns fern, eine Stellungnahme zu einer urologi- schen Operation abzugeben. Wir hielten es jedoch für außerordentlich anregend, dass gerade unsere urologischen Kolle- gen sich über die reinen harten Daten wie „Mortalität und Morbidität“ hinaus

mit dem Thema „Lebensqualität und Se- xualfunktion“ auseinandergesetzt ha- ben.

Deshalb haben wir diese Studie als ein Beispiel ausgewählt, an dem exempla- risch gezeigt werden kann, wie unter- schiedlich Ergebnisse möglicherweise aus Patienten- und Arztsicht interpre- tiert werden können. Selbstverständlich ist urologische Fachexpertise notwendig, um die Ergebnisse konkret mit den Pati- entenpräferenzen im Sinne der evidenz- basierten Medizin zu interpretieren. Für die Chirurgie stellt diese Studie einen Ansporn dar, auch in ihrem eigenen Fachgebiet, zum Beispiel bei der Thera- pie des Rektumkarzinoms, vermehrt nach Lebensqualität und Sexualfunkti- on zu forschen.

Es bleibt festzuhalten, dass an der Grundproblematik der mangelnden Evi- denz in operativen Fachgebieten weiter- gearbeitet werden muss. Randomisiert kontrollierte Studien bleiben bis zum Beweis des Gegenteils der Referenzstu- dientyp für die Situation der „clinical equipose“ das heißt, der Unwissenheit einer Überlegen- oder Unterlegenheit eines Verfahrens im Vergleich zu einer anderen Therapieoption bei gleichem Krankheitsbild.

Gut geplante klinische Studien pro- duzieren zuweilen überraschende und auch erstaunliche Ergebnisse. Die erste Reaktion hierauf liegt meist in der Über- prüfung der Validität der Resultate. Sind die Ergebnisse vom Leser so nicht er- wartet worden, wird meist das Studien- design oder die Patientenselektion kri- tisch hinterfragt. Eine weitere mögliche, aus evidenzbasierter Sicht wünschens- werte, Reaktion wäre jedoch, die Studie mit besseren Einschlusskriterien zu wie- derholen, um die in der ersten Studie generierten Ergebnisse zu widerlegen oder zu bestätigen.

Wir freuen uns auf eine weitere leb- hafte Diskussion und möchten an die- ser Stelle nochmals zur Einreichung von Studienideen auf dem chirurgischen Fachgebiet an das Studienzentrum der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (SDGC) aufrufen.

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Markus W. Büchler Chirurgische Universitätsklinik Heidelberg Ruprecht Karls-Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 110

69120 Heidelberg M E D I Z I N

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 363. September 2004 AA2401

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Dazu gehört auch, dass sie ihre Forde- rung nach einer Neukonzeption konkretisieren und eine eigene Vision entwickeln, wie eine Gesundheitstelematik unter solchen Vorzeichen

Diese oder eine ähnliche Frage muß man sich wohl als Studierender immer mal stellen. Wenn man die Zeichen der Zeit bzw. der demo- kratisch legitimierten Regierung zu

Aber auch hier gilt als Kernpunkt der Kritik: „Eindrucksvolle Beispiele“ sind ausgewählt und somit zwangsläufig willkürlich, damit als Be- gründung nicht hinreichend.Auf die

Aber auch hier gilt als Kernpunkt der Kritik: „Eindrucksvolle Beispiele“ sind ausgewählt und somit zwangsläufig willkürlich, damit als Be- gründung nicht hinreichend.Auf die

Für die Chirurgie stellt diese Studie einen Ansporn dar, auch in ihrem eigenen Fachgebiet, zum Beispiel bei der Thera- pie des Rektumkarzinoms, vermehrt nach Lebensqualität

Wenn eine Krankheit durch eine neue operative Therapie geheilt oder Leiden vermindert werden kann, sollte dieser Effekt in randomisierten kontrollierten Studien (randomized

Für die- se Betriebe müßte der Staat, der sich durch die Einführung der 35-Stunden- woche bei vollem Lohnausgleich be- trächtliche finanzielle Mittel er- spart, (1 % Arbeitslose

Wichtig für den Therapie- erfolg seien, so Bonsmann, evidenzba- sierte, praxisnahe Konzepte, verbunden mit einer realistischen Erwartungshal- tung bei Zahnärzten