A 2256 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 47|
22. November 2013FORSCHUNGSPREIS
„Aus der Vergangenheit lernen“
Am 15. November wurde zum vierten Mal der Forschungspreis
zur „Rolle der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus“ verliehen.
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ie Verbrechen des National- sozialistischen Regimes lie- ßen auch 68 Jahre nach dessen Un- tergang die Menschen nicht los, sagte der Präsident der Bundesärz- tekammer (BÄK), Professor Frank Ulrich Montgomery, bei der Ver - leihung des Forschungspreises zur„Rolle der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus“ im Medi- zinhistorischen Museum der Chari- té in Berlin. Der Preis wurde ge- meinsam vom Bundesgesundheits- ministerium, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der BÄK zum vierten Mal vergeben. Es sei wichtig, dieser dunklen Epoche deutscher Vergangenheit und ihrer Opfer zu gedenken, denn „die Zu- kunft kann nur gestalten, wer mit den Fakten der Vergangenheit lebt“, verdeutlichte Montgomery.
Ärztlicher Nachwuchs soll sich dem Thema widmen
Die Vertreibung jüdischer Ärzte sei durch Mithilfe ihrer nichtjüdischen Kollegen geschehen. Repräsentan- ten der Ärzteschaft hätten die Taten nicht nur zugelassen, sondern sich auch aktiv daran beteiligt. Mont - gomery schlug vor, den Preis künftigals Herbert-Lewin-Forschungspreis zu verleihen, da der Lebensweg die- ses jüdischen Arztes beispielhaft für die Verfolgung der Juden und vor al- lem jüdischer Ärzte sei.
Dr. med. Manfred Richter- Reichhelm, ehemaliger KBV-Vor- sitzender und Mitglied der Jury des Forschungspreises, appellierte an den ärztlichen Nachwuchs, sich der Vergangenheit der Ärzteschaft im Nationalsozialismus zu widmen und sie zum Thema ihrer Disser - tation zu machen. Dies helfe da- bei, medizinethische Fragen der Gegenwart und Zukunft zu thema- tisieren.
Zudem rief Richter-Reichhelm dazu auf, die Erinnerungs-, Bil- dungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse zu unterstützen. An dem Ort in Mecklenburg-Vorpommern rich- tete das NS-Regime einst eine
„Führerschule der deutschen Ärzte- schaft“ ein. Etwa ein Sechstel aller Ärztinnen und Ärzte durchliefen in dieser Zeit die Schulung, in der sie auf das Gesundheitskonzept der Nazis eingeschworen wurden. Die Träger dieses Projekts sind der ge- meinnützige Förderverein Erinne- rungs-, Bildungs- und Begegnungs-
stätte Alt Rehse, der jüdische Verein Beth Zion sowie die Ärzteschaft in Gestalt der KBV und der BÄK.
Den 1. Preis erhielt Dr. med.
Karl Werner Ratschko für seine Dissertation „Kieler Hochschulme- diziner in der Zeit des National - sozialismus – Die Medizinische Fakultät der Christian-Albrechts- Universität im Dritten Reich“. Die Arbeit sei eine detailgenaue Be- schreibung, wie eine Fakultät von nationalsozialistischer Propaganda durchdrungen wurde. Sie besitze ei- nen hohen Multiplikationsfaktor, andere Hochschulen zu inspirieren, ihre Geschichte während der Nazi- diktatur aufzuarbeiten, heißt es in der Begründung der Jury.
Der 2. Preis ging an Matthis Kri- schel, Friedrich Moll, Julia Bell- mann, Albrecht Scholz und Dirk Schultheiss für ihre Veröffentli- chung „Urologen im Nationalso - zialismus“ ( Hentrich & Hentrich Verlag). Der Doppelband zur Ge- schichte der Urologie in Deutsch- land und Österreich ginge über die üblichen Arbeiten deutlich hinaus.
Es handele sich um eine grundle- gende Darstellung, die es verdiene, breit wahrgenommen zu werden.
Außerdem ging ein Sonderpreis an Ruth Jacobs für die Publikation
„Jüdische Ärzte in Schöneberg – Topographie der Vertreibung“
(Hentrich & Hentrich Verlag), die zeige, wie durch Entrechtung, Ver- folgung und die daraus resultieren- de Emigration oder Ermordung Lü- cken in die medizinische Versor- gung gerissen wurden. Ein weiterer Sonderpreis wurde an Sigrid Fal- kenstein für „Annas Spuren – Ein Opfer der NS ,Euthanasie‘“ (Herbig Verlag) verliehen. Am Beispiel ei- nes geistig behinderten Mädchens wird die Unmenschlichkeit der am
„Euthanasieprogramm“ beteiligten Ärzte geschildert.
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Philipp Ollenschläger BÄK-Präsident
Frank Ulrich Mont- gomery überreicht den Sonderpreis an Ruth Jacobs für die Publikation „Jüdische Ärzte in Schöneberg – Topographie der Vertreibung“.
Foto: Georg J. Lopata