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er Andrang war groß. Jüdische Ärzte trafen sich Ende November in Düsseldorf, um sich auszutau- schen und den Vortrag des Psychiaters Peter Liebermann zu hören: Der Um- gang der Kinder der Holocaust-Überle- benden mit dem Trauma der Eltern. Es war die achte Veranstaltung in diesem Jahr, zu der der Verband jüdischer Ärz- te in Nordrhein-Westfalen eingeladen hatte. Inzwischen ist die Zahl der Mit- glieder auf rund 100 gewachsen. „Es be- steht ein immer größeres Interesse an unserer Organisation“, sagt der Präsi- dent Dr. Simon Reich, Facharzt für Allgemeinmedizin in Köln. Reich will die Gemeinschaft jüdischer Ärzte in Deutschland stärken. Ein Dachver- band, der die Aktivitäten in den Län- dern vorantreibt, soll gegründet wer- den. Neben Nordrhein-Westfalen gibt es seit 15 Jahren eine Organisation jüdi- scher Ärzte in Berlin; weitere Gruppen existieren in München und Frankfurt.Angst, sich zu outen
Wegen der aktuellen rechtsradikalen Ausschreitungen will der Dachverband gegen Fremdenfeindlichkeit aktiv wer- den und in ärztlichen Gremien bera- tend mitwirken. „Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland macht mich betroffen“, sagte Reich.
„Es geht weniger um Antisemitismus als um Intoleranz gegen alles Fremde.“
Einige Mitglieder ließen sich Post, aus der ihre Zugehörigkeit zum Verein her- vorgeht, nur an ihre Privatadresse sen- den, berichtet Reich. „Manche haben Angst, sich als jüdischer Arzt zu outen.“
Ziele des Dachverbandes sind der fachliche Austausch über Krankheiten, die in der jüdischen Bevölkerung ver- gleichsweise häufig vorkommen. Asch-
kenasische Juden aus Osteuropa bei- spielsweise stellen eine besondere Risi- kogruppe für die genetisch bedingten Stoffwechselstörungen Morbus Gou- cher und die Tay-Sachs-Krankheit dar.
Der Dachverband will ethische Grund- sätze in der Gentechnologie mitbestim- men: Ein Symposium zum Thema
„Judentum und Genetik“ fand im Sep- tember in Antwerpen statt.
Etwa 2 500 jüdi- sche Ärzte leben zur- zeit in Deutschland, schätzt Reich. Für die in den letzten Jahren aus Russland immi- grierten Ärzte sollten die Ärztekammern mehr Integrationshil- fen anbieten, zum Beispiel Ausbildungs- plätze in Praxen und Ambulanzen, fordert Dr. med. Peter Sum- ma-Lehmann, Rhei- nische Landeskliniken Düren.
Der Vortrag des auf Traumabehandlung spezialisierten Psych-
iaters Peter Liebermann, Stiftung Tan- nenhof, Remscheid, verdeutlichte, wie schwierig es ist, die konkreten Auswir- kungen der Holocaust-traumatisierten Eltern auf die Kinder zu fassen. Die psy- chischen Folgen der Opfer wurden in der Literatur häufig beschrieben: Zer- störung des Grundvertrauens, Überle- bensschuld, Erschöpfungszustände, psy- chosomatische Beschwerden, Schlaf- störungen und Depressionen. Für die Kinder blieben viele Reaktionen der El-
tern unverständlich und fremd, erklärt Liebermann, der sich mit dem Thema auch aus eigener Betroffenheit beschäf- tigt. „Das Trauma der Eltern wird un- weigerlich von einem oder beiden El- ternteilen übertragen.“ Die zweite Ge- neration, und zum Teil auch die dritte, habe oft mit psychischen Problemen zu kämpfen: Aggressionen können nicht si- tuationsadäquat geäußert werden; die gefühlsmäßige Autonomie von den El- tern wird selten erreicht. Die Identitäts- bildung gelinge nur schwer: Kann man sich mit dem Land, in dem man lebt, identifizieren, oder sollte Israel als Hei- mat gewählt werden?
Eine Studie aus New York (Rachel Yehuda et al. 1998 und 2000) ergab, dass die Kinder der Überlebenden eine Hochrisikogruppe für Posttraumatische Belastungsstörungen darstellen. Ebenso fand sich ein größeres Ausmaß an Angst
und affektiven Störungen als in der Kon- trollgruppe. Eine israelische Studie (Lea Baider et al. 2000), die Frauen mit Brust- krebs untersuchte, stellte bei Töchtern von Überlebenden ein deutliches Risiko für Angststörungen, Depressionen und psychosomatische Symptome fest.
Liebermann betont, dass „das Trau- ma die Nachgeborenen beeinflusst, doch sind die Auswirkungen nicht vor- hersehbar“. Der historische Kontext müsse in der Behandlung berücksich- tigt werden, doch dürfe man die zweite Generation nicht in jedem Fall wegen des elterlichen Traumas patholo-
gisieren. Petra Bühring
P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000 AA3309
Das Staatsmuseum Auschwitz-Birkenau in Polen dient als Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus.
Foto: Ryszard Domasik/Auschwitz-Birkenau State Museum
Jüdische Ärzte
Intoleranz macht betroffen
Jüdische Ärzte in Deutschland wollen sich zusammenschließen.
Ein Ziel ist die Diskussion gemeinsamer Themen: Der Umgang der Kinder mit dem Holocaust-Trauma der Eltern.
Informationen zum Verband Jüdischer Ärzte gibt Dr.
Simon Reich unter Fax: 02 21/54 49 03 oder E-Mail:
simonreich@gmx.de