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m vergangenen Sonntag lud die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin zu einer Gedenkfeier für die ermordeten und vertriebenen jüdi- schen Ärzte Berlins in das Centrum Ju- daicum in der Neuen Synagoge ein. Mit der Gedenkfeier wollten die KV, der Zentralrat der Juden in Deutschland, die Jüdische Gemeinde zu Berlin, der Bun- desverband Jüdischer Ärzte in Deutsch- land sowie das Institut für Geschichte der Medizin im Zentrum für Human- und Geisteswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin (ZHGB) ein Zei- chen gegen das Vergessen und Ver- harmlosen der NS-Verbrechensetzen.
„Wir dürfen nie wieder ge- sellschaftliche Bedingungen zulassen, unter denen solche Repressalien und Verbrechen möglich werden können“, sag- te Dr. med. Manfred Richter- Reichhelm, Vorsitzender der KV Berlin. Dies sei auch der Grund dafür, dass die KV Ber- lin in diesem Jahr mit der Auf- arbeitung der Rolle der Ärzte- schaft im Nationalsozialismus begonnen habe. Teil des Pro- jektes, das Richter-Reichhelm
auf einer Pressekonferenz erläuterte, ist eine im Oktober beendete Vortragsreihe zur ärztlichen Standespolitik während des Nationalsozialismus sowie die För- derung eines Forschungsprojektes zur Rolle der KV im Nationalsozialismus (siehe dazu den Bericht „Eugenik und Euthanasie: Aktuelle Vergangenheit“ in Heft 28–29/2002).
„Der Mantel des Schweigens muss endlich gelüftet werden“, fügte Richter- Reichhelm hinzu. „Das sind wir unse- ren jüdischen Kollegen und allen Op- fern des Nationalsozialismus schuldig.“
Deshalb sei er auf den Vorschlag des Bundesverbandes Jüdischer Ärzte ein-
gegangen, mit einem Projekt die Aufar- beitung zu beginnen.
Richter-Reichhelm will die Vortrags- reihe fortsetzen. Die kontroversen Dis- kussionen im Anschluss an die Vorträge – etwa zur schrittweisen Vertreibung jü- discher Ärzte aus ihrem Beruf – hätten deutlich gemacht, dass die Aufarbeitung noch am Anfang stehe. So habe sich nach dem Vortrag ein Arzt gemeldet und ge- äußert, dass er nicht immer in die Ver- gangenheit zurückschauen wolle.
„Seit 1945 hat sich bundesweit keine KV mit ihrer Rolle im Nationalsozialis- mus befasst“, sagte Dr. phil. Rebecca
Schwoch, Medizinhistorikerin beim ZHGB. Im Sommer bekam Schwoch den Werkauftrag von der KV Berlin, mit dem dieses wissenschaftliche For- schungsprojekt angeschoben werden sollte. „Erstmals in Berlin soll die Ver- treibung jüdischer, politisch opposi- tioneller und homosexueller Ärzte detailliert erforscht werden“, betonte Schwoch. Sie will eine Datenbank er- stellen und dort alle Berliner Kas- senärzte seit der Gründung der ersten KV im Jahre 1931 erfassen. So will sie etwas über die genauen Zufluchtsorte der „ausgeschalteten“ Ärzte erfahren und konkrete Zahlen zu den jüdischen
Kassenärzten im Jahr 1933 vorlegen.
„Vermutlich lebten bis 1933 etwa 3 600 Kassenärzte, darunter rund 2 000 jüdi- sche Kassenärzte, in Berlin“, fügte Schwoch hinzu. Sie will weiterhin den Fragen nachgehen:Wie ist die KV gebil- det worden? Was ist mit ihr nach 1933 geschehen? Wie sah die Ausschaltungs- praxis der KV aus? Schwoch hat ihren Forschungsantrag geschrieben und ist noch auf der Suche nach finanzieller Unterstützung.
„Das Berliner Projekt der KV war lange überfällig“, meinte Prof. Dr. phil.
em. Gerhard Baader vom Institut für Geschichte der Medizin an der Freien Universität. „Die ärztlichen Standesvertreter waren schließlich von Anfang an verlässliche Erfüllungsge- hilfen der nationalsozialisti- schen Gesundheitspolitik.“
Dr. Roman Skoblo, Vorsit- zender des Bundesverbandes Jüdischer Ärzte in Deutsch- land, hält es mit Ralph Gior- dano, wenn er über die feh- lende Aufarbeitung – die zweite Schuld – spricht. „Die- ses Versäumnis, diese zweite Schuld, ist Gegenstand künf- tiger Aufarbeitungen, dem auch diese Veranstaltung dient.“ Er kritisierte Ver- lage, die Schicksale von Ärzten in un- vollständiger Biografie dargestellt ha- ben. Sie seien verpflichtet gewesen, ge- schichtlich sauber zu sein. Dazu gehör- ten die Erwähnung des Selbstmordes oder die Emigration, die in einigen Fäl- len nie mehr zur Wiederaufnahme des Berufs geführt habe. „Zu den Kollegen, derer wir heute gedenken wollen, gehört Ismar Boas, geboren 1858 in Berlin, gestorben 1938 in Wien.“ Er gilt als Begründer der modernen Gastroen- terologie und editierte die erste Fach- zeitschrift. Susanne Lenze P O L I T I K
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A3070 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 4615. November 2002
Gedenkveranstaltung im Centrum Judaicum. Auf einer Pressekonfe- renz hatte die KV Berlin zuvor über ein Forschungsprojekt berichtet.
Foto:Burkhard Lange