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Archiv "Noch zwei Milligramm" (05.11.1981)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Picasso und Ionesco

Immer wieder versinke ich erneut in meiner Angst.

Die Wörter, die ich ausspreche, sind einfach und banal und vermögen diese tiefe und authentische Angst nicht wiederzugeben. Nur die argli- stigen und sublimen Kunstgriffe der Literatur können sie ausdrücken. Ich bin im Unausdrückbaren.

Und doch hänge ich sehr von dem ab, was man den nichtigen literari- schen Erfolg nennt. Wenn ich ihn habe, schätze ich ihn gering, wenn ich ihn nicht habe, leide ich dar- unter.

Es gelingt mir nicht, meine Gedan- ken zu sammeln, meine Gefühle zu ordnen.

Der Morgen ist mühsam. Ein drän- gendes Verlangen, nicht aufzuste- hen, muß ich jeden Morgen überwin- den. Nichts mehr vom Leben unter Menschen zu erwarten. Auch nichts mehr zu erhoffen?

Ich bin gleichgültig gegenüber den Dingen, gegenüber allem, was man sagt, und diese Gleichgültigkeit ist düster und vehement. Das ist nicht Stumpfheit, sondern eine Art eisigen und quälenden Überdrusses.

Ich mache gewiß Augenblicke von Depressionen durch, wie man sagt, Augenblicke von Neurasthenie, wie man einst sagte. In diesem Sommer stand ich zum Beispiel auf der Brük- ke eines Schiffes, ich schaute auf das blaue Meer, das mich so oft in Erstaunen versetzt hat, und es er- schien mir wie aus Schlamm und schwarzer Tinte.

Oder ein Traum:

Die Straßen waren nur Sackgassen.

Wenn ich die Tür öffnete, befand ich mich vor einer Mauer. Andere Türen führten in Zimmer ohne Ausgänge oder wiederum auf eine Mauer.

Man sagte mir: Es lohnt sich nicht, aufzuwachen, es ist nutzlos, weil es das gleiche sein wird. Jetzt müssen Sie den Ausweg finden, sonst müs- sen Sie, da hilft nichts, wieder von

vorn beginnen. Und wirklich gelang- te ich über Leitern an eine offene Stelle.

Ich höre Schreie, Siegesrufe: „Io- nesco ist auf dem großen, offenen Weg, er ist auf dem großen, offenen Weg!"

Aber ich versinke im Dunkeln, schwache Schimmer in der Finster- nis. Wenn ich durch Straßen gehe oder Leute gehen sehe, meine ich, daß sie nur Schatten sind. Um mich nichts als unstete Gespenster. Un- wirklichkeit. Das Dasein erscheint mir nicht wirklich.

Ja, ich gehe umher und lasse mei- nen Blick über diese Landschaften gleiten und sage mir, daß das alles nicht wirklich ist, nur Halluzinatio- nen, Irrlichter, Formen, die sich so- gleich auflösen werden.

Allein auf einem über die Maßen gro- ßen Friedhof, wandele ich zwischen Gräbern.

Man kann oder wird diese Friedhofs- stimmung der Depression zuschrei- ben. Aber die Depression hat recht.

Aber doch oftmals. Jedenfalls Leere ist der eigentliche Hintergrund mei- nes Bewußtseins oder meines Unbe- wußten.

Alles, was ich tue, all mein Treiben ist auf nichts gegründet.

Und trotz allem, jenseits meiner Angst, solange ich da bin, mache ich weiter, beginne ich jeden Morgen von neuem und tue, was ich für mei- ne Pflicht halte."

Unsere Beispiele zeigen, wie wir die depressiven Züge nachempfinden können, denn sie sind am Ende nicht von Krankheitswert, sondern psychopathologisch Ausdruck eines individuellen Biorhythmus, wie er nur hochsensiblen Begabten eigen ist.

Dr. med. Dr. phil. M. in der Beeck Medizinaldirektor

Landeskrankenhaus 2380 Schleswig

Noch zwei Milligramm

Blut, da ist Blut auf dem Stuhl, altes Blut, aber noch frisch, das hätten sie wegwischen sollen, ehe ich ge- bracht wurde, das Blut, ich will kein Blut sehen, warum haben sie mich nicht vorher fertiggemacht in einem Nebenraum, ich will nicht, gleich ist mein Blut da auf dem Stuhl, wann wischen sie das endlich weg, gerade haben sie mich geholt, es greift nach mir, mein Herz ... jetzt ist das Blut weg, es schlägt im Hals, ich will schreien, ich will nicht ... alle die blauen Kittel, die da herumstehen, was haben die vor, ... ich will nicht, die blauen Kittel . .. jetzt schnallen sie mich an, ich muß allein auf den Stuhl klettern, warum haben sie mich nicht vorher fertiggemacht ...

mein Mann, wo ist er, ich will nicht, Angst . .. sie binden mich, ich kann nicht mehr, keine Bewegung, die Kinder . . . ich will nicht, er soll keine andere ... immer fester, sie binden immer fester, jetzt kommen die Fla- schen, schreien, schreien, schreien, sie schießen mich, immer mehr blaue Kittel stehen da, was tun die alle, noch mehr Flaschen, ich drehe mich, helft mir doch, warum haben sie nicht ... jetzt der dritte Schuß, ich sehe alles, die ist ja noch nicht weg, sagt der Kittel, ich will nicht, meine Kinder, meine Kinder, ich will zurück, der vierte Schuß, Sauer- stoff ... die Beine werden schwer, ich hätte doch Valium ... die blauen Kittel . . . noch zwei Milligramm .. . der Stuhl kippt um, ich will nicht, nein, nein, nein, weg mit den blauen Kitteln ... will nicht ... sie schießen, warum kippt denn der Stuhl, mein Mann ... ich muß brechen, die kom- men von hinten, Sauerstoff ... der Stuhl kippt, haltet mich fest, haltet mich doch fest, ich hätte doch . . jetzt schießen sie wieder, noch schwerer die Beine, ich falle, ich hö-

re, noch höre ich alles, ich höre:

Doktor, Sie können anfangen.

Anschrift des Verfassers:

Winfried Hönes Hermannstraße 7 4190 Kleve 1 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

2162 Heft 45 vom 5. November 1981

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