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Archiv "Tod im Kinder- und Jugendbuch: Können Tote unter der Erde atmen?" (10.11.2000)

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uf die Frage „Was pas- siert eigentlich, wenn ich tot bin?“ suchen heutzutage unzählige Auto- ren und Autorinnen Antwor- ten in der Hoffnung, Kindern und Jugendlichen den Um- gang mit der Grenze des Le- bens „spielend“ zu erleich- tern. Diese Bücher können auch den immer wieder in Er- klärungsnot geratenden Ärz- ten und Ärztinnen behilflich sein.

„Worte wechseln ist menschlich“ – schrieb Octa- vio Paz 1976. Wie notwendig das Gespräch tatsächlich ist, illustriert eindrucksvoll Ted van Lieshouts Jugendroman

„Bruder“, der im vergange- nen Jahr mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausge- zeichnet wurde (Middelhau- ve Verlag, 1999). „Kannst du noch jemandes Bruder sein, wenn dieser Jemand nicht mehr lebt?“ Diese Frage quält Luuk, dessen Bruder Marius mit 14 Jahren gestor- ben ist. Luuk will diese Frage unbedingt mit Ja beantwor- ten. Um dieses Ja vor sich ver- teidigen zu können, nimmt er Marius’ Tagebuch an sich.

Luuk beginnt, die leeren Sei- ten des Tagebuchs mit Brie- fen an den Toten zu füllen.

Schon bald vermengen sich dessen Aufzeichnungen mit Luuks Kommentaren, ein zu Lebzeiten nie geführtes Zwiegespräch entwickelt sich daraus. Fern jeglicher Kli- schees über die allseits gepre- digte Geschwisterliebe legt der Roman ernsthaft Zeugnis ab über eine nicht wahrge- nommene Chance der Nähe.

Damit thematisiert Lieshout die wahrscheinlich schwer- wiegendste Konsequenz des Todes für Hinterbliebene; die Unumkehrbarkeit einstigen Tuns.

Für einen Roman ver- gleichbarer Couleur erhielt

der Schwede

Peter Pohl 1995 den Ju- gendbuchpreis (dtv, 1999). In

„Du fehlst mir, du fehlst mir!“

erzählt er unter Verwendung von Tagebuchaufzeichnun- gen und Briefen eine authen- tische Geschichte. Die 14-

jährige Kinna Gieth – im Ro- man Tina genannt – hat durch einen Unfall ihre Zwillings- schwester verloren. Wie auch bei Lieshout steht nicht das Ereignis des Todes im Mittel- punkt, sondern Trauer und Fassungslosigkeit der Zu- rückgebliebenen, ihre Reue über jedes unwiderrufliche Wort. Pohl reflektiert einfühl- sam die seelische Verstörung, die sich in Hektik und Apa- thie, Realitätsverlust und Albträumen ausdrückt. Sprach- lich noch um vieles ausgereif- ter als sein niederländisches Pendant, ist dieser Roman ein psychologisches Meister- werk.

Die Todesliteratur kann den Betroffenen eine Hilfe zur Überwältigung der Isola-

tion sein. Und das ist vor al- lem bei „ver- waisten Ge- schwistern“ nö- tig, weist die Ärz- tin Elisabeth Küb- ler-Ross in „Kinder und Tod“ nach (Droemer-KnaurVer- lag, 2000). Ein be- merkenswertes Ju- gendbuch, das genau diesen Aspekt lebens- echt ausmalt, ist „Mein Bruder, mein Bruder“ von der Israelin Raya Harnik (Verlag Beltz & Gelberg, 1998). Sie schildert darin ergreifend aus der Sicht des 12-jährigen Ro-

nen das undurchdringliche Schweigen in einer Familie, in der der älteste Bruder/Sohn bei einem Militäreinsatz ums Leben gekommen ist. Nie- mand erklärt Ronen, was in der Familie vor sich geht:

Warum liegt die Mutter nur noch im Bett? Warum tut der Vater plötzlich so fromm?

Ronen begreift langsam, was es für jeden einzelnen heißt, ein/e „Hinterbliebene/r“ zu sein. Die Autorin, die selbst ihren Sohn 1982 im Libanon- krieg verloren hat, vermag die unterschiedlichen Reakti- onsweisen wertfrei und ver- ständnisvoll abzutasten.

Da Teenager ebenso pro- funde Vorstellungen über den Tod und das Jenseits wie Er- wachsene entfalten können,

müssen Autoren und Auto- rinnen sich nicht auf eine frühere Entwicklungsstufe begeben. Ein solcher Schritt ist aber vonnöten, will man mit den Kleinsten sprechen.

Vorschulkinder können das Ausmaß des Lebensendes noch nicht erfassen. Sie fra- gen sich, ob die Toten unter der Erde atmen können oder ob sie es im Sarg bequem ha- ben. Für sie sind Friedhöfe voll von lebendig Begrabe- nen.

Wie der Schwede Måns Gahrton in seinem Kinder- bucherstling „Hat Oma Flü- gel?“ beweist (Oetinger Ver- lag, 1999), kann dieses kindli- che Verständnis zu urkomi- schen Situationen führen.

Malva und Max wollen eines Nachts auf den Friedhof, um ihre Oma wieder auszubud- deln. Sie nehmen Lebensmit- tel nach Oma-Geschmack mit. Damit lässt sie sich si- cherlich reanimieren, denn die heißen ja Lebens-Mittel.

Kaum haben sie angefangen zu graben, kommt die Polizei.

Diese nimmt sich der beiden an und verhilft ihnen zu ei- nem eindrucksvollen Ab- schied von ihrer Großmutter.

„Hat Oma Flügel?“ ist ein unverkrampft humorvolles Buch für Vier- bis Achtjäh- rige.

Inger Hermanns „Du wirst immer bei mir sein“ hingegen ist ein Bilderbuch, das direkt nach dem Versterben der Liebsten (vor)gelesen wer- den kann (Patmos Verlag, 1999). Carme Solé-Vendrells Illustrationen machen die zerreißenden Gefühle des kleinen Peter, der seinen Va- ter bei einem Unfall verloren hat, transparent: Sie sind re- duziert auf das Wesentliche, auf den Menschen.

Das Gespräch mit Kindern über den Tod wird immer schwierig sein, wissen doch auch die Erwachsenen keine Antworten auf das Warum.

Mithilfe offener und ehrlicher Bücher über das Sterben kön- nen Erfahrungen mit dem Unbeschreiblichen vermittelt werden. Früher oder später bedürfen Kinder dieser Ein- Sichten. Marion Kohler

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 45½½½½10. November 2000 AA3031

Können Tote unter der Erde atmen?

Mithilfe ehrlicher Bü- cher über das Sterben können Erfahrungen mit dem Unbeschreibli- chen vermittelt werden.

Tod im Kinder- und Jugendbuch

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