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Archiv "Noch nach Jahren quält die Angst" (26.02.1982)

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Academic year: 2022

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen THEMEN DER ZEIT

Nach Angaben des Arbeitskreises Ärzte—Psychologen von amnesty international (ai) in der Bundesre- publik verschwanden in den letz- ten anderthalb Jahrzehnten in Chi- le mindestens 1500 Menschen, in Guatemala 30 000, in Argentinien bis zu 15 000 Menschen. Die von ai geschätzte Zahl der in Uganda in- nerhalb eines Jahrzehnts von 1969 bis 1979 „Verschwundenen" und Ermordeten bewegt sich zwischen 100 000 und 500 000. Eine Drei- viertelmillion „Verschwundene"

und Tote vermutet amnesty inter- national (ai) in Kampuchea. Zah- lenangaben des Arbeitskreises über den Ostblock liegen nur für Afghanistan vor: Allein in der Hauptstadt Kabul sollen bis Ende 1979 9000 Gefangene verschwun- den sein.

Die näheren Umstände des „Ver- schwindens" beschreibt ai als sehr unterschiedlich von Land zu Land, ebenso die gesellschaftliche Herkunft der Opfer, doch eines — so berichtet ai — hätten alle Fälle gemeinsam: „Die Gefangenen selbst sind nicht die einzigen Op- fer des ‚Verschwindens', ihre Fa- milien leiden in einem Maße, das seelischer Folter gleichkommt.

Nicht selten sind sie es, die man mit der gleichen Maßnahme zu treffen sucht, was soweit führen kann, daß das eigentliche Motiv für das Verschwindenlassen in der Bestrafung und Einschüchterung anderer Familienmitglieder liegen kann."

Die Motive

Warum lassen so viele Regierun- gen Menschen „verschwinden"? — Nach Ansicht von ai gibt es dafür zwei Hauptgründe: Die Regierun- gen sehen darin „eine bequeme Methode, politische Gegner .. . zum Schweigen zu bringen oder

sich ihrer zu entledigen. Bequem ist diese Methode, weil sie keiner Gesetzesänderung — zum Beispiel der Verhängung von Notstandsge- setzen — und keiner rechtlichen Formalitäten bedarf . . . Es bedarf lediglich einer Handvoll skrupel- loser Agenten, die das Opfer ent- führen . . ." Oder sie sehen darin eine wirksame Methode der Ein- schüchterung der Opfer und ihrer Familienangehörigen und Freun- de, mutmaßt ai.

Die psychischen Auswirkungen Psychiater, Psychologen und Ärz- te haben eine Reihe von Untersu- chungen über die Auswirkung des

„Verschwindens" (oder anderer Menschenrechtsverletzungen) auf Familien der Opfer vorgenommen.

Diese Materialien hat ai zusam- mengestellt. Die Reaktion der Fa- milien auf das Verschwinden eines Angehörigen sei im ersten Sta- dium gewöhnlich von Untätigkeit geprägt, die der Angst vor Repres- salien entspränge. Außerdem wür- den die Angehörigen von intensi- ven Schuldgefühlen heimgesucht, möglicherweise selbst indirekt für den Verlust einer geliebten Person verantwortlich zu sein, nach dem Motto: „Irgend etwas, das ich ge- sagt oder getan habe, könnte tat- sächlich zu ihrem ‚Verschwinden' geführt haben." Diesem Stadium der Angst- und Schuldgefühle fol- ge ein zweites Stadium, in dem wie besessen nach der ver- schwundenen Person gesucht werde. Bei verschwundenen Kin- dern seien es gewöhnlich die El- tern, die den größten Teil ihrer Zeit damit verbrächten, ein Gefängnis nach dem anderen aufzusuchen.

Dabei würden die älteren Kinder in den Familien oft zu Hütern von Heim und jüngeren Geschwistern

— eine Rolle, die ihrem Alter und ihrer Reife nicht gerecht werde.

Kleinkinder, deren Eltern vor ihren Augen entführt wurden, leiden nach Erkenntnissen von Ärzten im ai unter Traumen des Verlassen- seins, der Einsamkeit und Unsi- cherheit sowie unter ständigen Angstgefühlen. In einem von ai zi- tierten Bericht über 203 Kinder un- ter zwölf Jahren aus Familien, die von politischer Inhaftierung und vom Verschwinden eines Angehö- rigen betroffen sind, werden die Ergebnisse der Beobachtungen in einer Klinik für Geisteskrankheiten in Santiago de Chile zwischen En- de 1973 und Anfang 1977 festge- halten.

Danach litten 78 Prozent der Kin- der an Symptomen sozialer Isola- tion, 70 Prozent an Depressionen und 78 Prozent an allgemeiner und jederzeit durch spezifische Umweltreize (zum Beispiel Auto- motorengeräusche bei Nacht) mo- bilisierbarer Angst. Die Hälfte der Kinder zeigten Symptome wie Ap- petit- und Gewichtsverlust, Schlaf- störungen, regressives Verhalten und verminderte schulische Lei- stungen sowie übertriebene Ab- hängigkeit von ihren Müttern, be- richtet ai.

Ähnliche Auswirkungen hat ai bei 20 in Mexiko im Exil lebenden ar- gentinischen Familien beobach- tet. Die Kinder von mehr als der Hälfte der Familien hatten das Ein- dringen in ihre Wohnung, die Zer- störung ihrer persönlichen Habe und die körperliche Mißhandlung ihrer Eltern miterleben müssen. Zu den Symptomen gehörten Schlaf- losigkeit, gestörte Eßgewohnhei- ten, regressives Verhalten, Ent- wicklungshemmungen, Aggres- sion und andere psychische Pro- bleme. Drei Jahre später beobach- teten die Betreuer bei den Kindern immer noch eine übermäßige Ab- hängigkeit von den Eltern und dar- über hinaus allgemeine Depres- sionen. Die Informationen des am- nesty international entstammen ei- nem Vorabdruck zu dem Taschen- buch „Nicht die Erde hat sie ver- schluckt", das in diesem Frühjahr im Fischer-Taschenbuch-Verlag erscheinen wird. ck

Noch nach Jahren quält die Angst

amnesty international untersucht

psychische Schäden bei Angehörigen von „Verschwundenen"

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 8 vom 26. Februar 1982 87 Ausgabe A/B

Referenzen

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