DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Sorgen der Bürger FEUILLETON
sozialen Schichten Beunruhi- gung hervorruft, und daß sie — als Folge der Dezentralisierung
der Drogenszene seit Mitte der 70er Jahre — die Bevölkerung im ländlichen Bereich ebenso be- schäftigt wie die in den Städten.
Von speziellen
Problemen betroffen
Bei meinen Bemerkungen über den „statistischen Durch- schnittsbürger" habe ich darauf hingewiesen, daß Aussagen über Einstellungen oder Verhal- tensweisen „der Gesamtbevöl- kerung" zu Fehleinschätzungen führen können, wenn eine de- taillierte Betrachtung von wichti- gen Teilgruppen der Bevölke- rung unterbleibt.
Beispielsweise könnte die Tat- sache, daß heute nur noch rund die Hälfte der Bürger (1980 noch rund zwei Drittel) das „Anstei- gen der Preise" als Problem sieht, zu der Annahme führen, dieses Thema sei für „die Bür- ger" inzwischen zweitrangig.
Dies gilt aber nur für die besser Verdienenden, die Inhaber ge- hobener Berufspositionen. Ar- beiter, Rentner oder Arbeitslose äußern sich nach wie vor sehr besorgt über ansteigende Prei- se (Tabelle 6).
Weitere Beispiele:
Die Möglichkeit, daß irgend- wann „die Renten gekürzt wer- den" könnten, beunruhigt nur rund die Hälfte der Gesamtbe- völkerung, aber 73 v. H. der Be- troffenen selbst (Rentner und Pensionäre);
über die wachsende Zahl der ausländischen Arbeitnehmer äußern sich nur 29 v. H. der Bür- ger besorgt; bei den Gruppen, die die Ausländer am ehesten als Konkurrenten um den Ar- beitsplatz erleben, ist dieser An- teil deutlich höher: bei den Ar- beitslosen beträgt er 48 v. H.;
bei den Arbeitern 41 v. H.
• Wird fortgesetzt
Proteste gegen die drohende Computerwelt 'können nicht laut genug sein. In Orwells Buch geht es aber nur sekundär um dieses Problem. Die Überwa- chung ist nur ein Mittel der völli- gen Unterdrückung. In dem Ro- man geht es um deutlich mehr—
wenn es auch recht oberfläch- lich und ungeordnet vorgetra- gen wird. In der heutigen schick- salsschweren Welt wäre es ein tragisches Versäumnis, die Grundlagen der Orwellschen Gedanken nicht aufzunehmen und rationell weiter zu denken.
Am Ende des Romans stellt man die Frage: „Wie kommt es doch zu solch einer Welt?" Wenn wir eine Antwort darauf wissen, hat das Buch sein Ziel erreicht. Die Unwissenheit der Masse wird durch einfache Beeinflussungs- methoden in mobilisierende Energie umgesetzt, damit dann frühere Herrscherschichten ab- gesetzt und eine neue Herr- scherschicht aufgehoben. Ein einfacher, in der Geschichte häufiger reproduzierter Prozeß, welcher mit dem Namen „Revo- lution und Fortschritt" schmack- haft gemacht wird. Es geht hier um Schichten und nicht um Ein- zelpersonen, also werden die ei- genen Reihen genauso erbar- mungslos überwacht und gege- benenfalls die besten Leute „va- porisiert", wie in der feindlichen Umgebung, wenn nicht sogar unmenschlicher, nicht raffinier- te r.
Man soll mit den Wölfen heulen
— wird in dem Roman gemeint, man soll es aber doch nicht, denn so setzt man sich beson- derer Lebensgefahr aus. Man soll überhaupt nie mit Wölfen des böswilligen Herrscherin- stinktes gehen, mit ihnen Ge-
schäfte machen, sich verkaufen, denn wenn man die Wahrheit er- kennt, ist es schon zu spät!
„1984" war eine Mahnung, als die Welt schon den zweiten An- fall einer Erkrankung hinter sich hatte. Kaum trat die Besserung ein, zeichnete sich ein neuer An- fall — vielleicht der tödliche — ab.
Die Warnung wurde nicht wahr- genommen. Im Jahre 1984 wird ein Buch, durch seinen ge- schickt gewählten Titel, wieder Bestseller. Die Warnung wird aber auch diesmal verkannt oder nur teilweise klar darge- stellt. Man verirrt sich in Einzel- heiten und merkt nicht, daß das wahre Jahr 1984 in vielen Teilen der Erde deutlich düsterer ist, als es damals vorstellbar war.
Der große Bruder heißt nicht Computer, er ist ein Mensch, und er wird es auch bleiben, schließlich bleibt hinter jeder Maschine der Mensch stehen.
Die grausam dargestellten Fol- terungen sind milde Spielereien im Vergleich zu den heutigen, auf exakten wissenschaftlichen Methoden basierende Psycho- foltermethoden. Zur Ausliefe- rung des einzelnen Menschen braucht man keine Technik, es reicht die einfache existentielle Drohung, die Angst ist besser als der beste Televisor.
Sämtliche Beiträge im Namen eines sich für unsere Gegenwart quälenden Mannes sollen also dahin wirken, daß unsere Zu- kunft nicht Opfer einer Tuberku- lose der Bösartigkeit, in typi- scher „Neusprache" kein „Tub- futur" wird.
Anschrift des Verfassers:
Dr. H. Peter Szutrely Grünewalder Straße 55 5650 Solingen 1
Der große Bruder heißt nicht Computer
H. Peter Szutrely
Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 13 vom 30. März 1984 (87) 1011