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Archiv "Die sozialisierte Poliklinik" (23.05.1974)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

BLICK ÜBER DIE GRENZEN

Die periphere Klinik

Anders sah es in den kleinen peri- pheren Kliniken am Stadtrand aus.

Sie waren, wie beschrieben, in den früheren Räumlichkeiten der Pri- vatpraxen eingerichtet, je eine pro Bezirk. Es waren meistens ein bis zwei Ärzte hier eingeteilt, die mit Hilfe von Personal zu einer einfa- chen primitiven medizinischen Tä- tigkeit verurteilt waren. Mit einfa- chem Mobiliar, sehr trist eingerich- tet, als Instrumenatrium nur mit ei- nem Stethoskop und einem veralte- ten Blutdruckmesser ausgerüstet, ohne Laboratorium konnte sich der Arzt hier nur der Selektierung und der wegweiserischen Arbeit wid- men. Später verlor er selbst das In- teresse zu dieser Arbeit, da er sich zurückgestellt und verlassen fühlte, und da er hier ständig mit den klei- nen Problemen zu kämpfen hatte:

Heizung, Strom, Reinigung, all dies funktionierte immer schlecht,

„staatlich". Das bemerkten auch die Patienten, und es kamen hier immer weniger, meist einfache arme Leute, Rentner, Behinderte, die schlecht ins Zentrum reisen konnten. Die Führung versuchte öf- ters, Leben in diese Filialen zu bringen, aber ohne Erfolg. Die Pa- tienten wußten, daß sie hier keine wirksame Hilfe bekommen konnten und daß sie von hier auch wegen kleiner Probleme und jeder Labor- untersuchung sowieso ins Zentrum geschickt wurden. Sie gingen also gleich ins Zentrum. So wurde dann dekretiert, daß der Patient ohne Überweisung im Zentrum nicht an- genommen wurde. Da aber der pe- riphere Arzt keine Befugnisse und keine Möglichkeiten zu qualitativer Arbeit hatte, blieb es hier weiter nur bei der Selektion, die Überwei-

sung als ärztliche Hauptaufgabe.

Und mit der Konzentrierung der Fachärzte im Zentrum blieb die Pe- ripherie endgültig ohne Fachärzte.

Spritzen als System

In der Poliklinik sitzt in jedem Zim- mer ein Arzt und seine Schwester.

Jeder Arzt hat seine Schwester, die sich um das Karteisuchen küm- mert, die Spritzen gibt und dem Patienten hilft, wo es nötig ist. Es darf nie der Arzt mit dem Patienten allein im Zimmer bleiben. Und es ist streng verboten, Patienten zu empfangen ohne Anwesenheit der Schwester. Diese aber durfte auch nicht allein mit dem Patienten blei- ben oder sprechen. Man hat näm- lich Angst davor, daß es zu gewis- sen Abmachungen, Absprachen, Verbindungen oder geheimen Ver- handlungen kommen kann, wenn man allein mit dem Patienten zwi- schen vier Augen bleibt. Wenn es dazu kam, daß der Arzt oder die Schwester austreten mußte, und der Patient noch im Zimmer war, dann mußte die Tür zu dem großen Saal unbedingt offenbleiben. Dies alles war wegen der „Kontrolle"

notwendig („in der Poliklinik muß jeder und immer kontrolliert wer- den"). Es war nämlich schwer vor- stellbar, daß zwei Personen gleich- zeitig — Arzt und Schwester — in eine „illegale" Sache hineingezo- gen werden könnten, ohne daß das dann später jemand erfährt.

Unter diesen Zuständen traute man sich auch nicht mehr, den Patien- ten nahezukommen. Der war auch meist seelisch verschlossen, und die ganze Anamnese und Untersu- chung verlief .zwangsläufig immer kühl, uninteressiert, distanziert und

stereotyp. Einer fühlte sich gestört von dem anderen. Und dies war auch das Ziel, solche Störung her- vorzurufen, damit „die Leute sich nicht so annähern sollten ..."

Der Weg in die Korruption

Und trotzdem kam es zu „illega- len" Geschehnissen. Der in diesem Chaos des morgendlichen Gedrän- ges vor dem Tor anfing zu verdie- nen — das war der Pförtner. Im all- gemeinen waren es überall die Pförtner, die sich im kurzen ein schönes Geld bemacht haben. Zu- erst ließ er seine Verwandten und Bekannten bevorzugt herein. Dann fing er an, dafür Gelder und Ge- schenke zu nehmen. Es gab immer und überall auch eine Nebentür, wobei das Geschäft noch am vori- gen Tag geregelt und abgespro- chen wurde. Es war umsonst, die- sen Pförtner nach einer Anzeige abzulösen; der neue Pförtner nahm nach kurzer Zeit auch das Beste- chungsgeld. Auch die Funktionäre in dem kleinen Fensterchen fingen an, Gelder zu nehmen — Geschen-

ke („Andenken"), um eine bessere Nummer, das heißt bei einem bes- seren oder beliebteren Arzt zu be- kommen. Und dies wurde dann später ein gutes und langes Ge- schäft. Man konnte es nämlich er- reichen, zu diesem oder jenem Arzt oder Facharzt zur Behandlung zu kommen, es mußte nur mit dem Funktionär erledigt werden, mit Geld oder mit Protektion. Die Ärz- te wußten das, und wir mußten schweigen und schweigend einver- standen sein, weil wir als Gegen- gefälligkeit es auch bei den Funk- tionären erreichen konnten, daß die uns wünschenden Patienten durch die Funktionäre zu uns ge- lassen wurden.

Und so mit der Zeit entstand ein ganzer unterirdischer Apparat, der die Patienten „kanalisierte". Wer keinen Bekannten oder Verwand- ten hatte oder nicht bezahlen woll- te oder konnte oder einfach nichts wußte über diese Verhältnisse, kam dann nur zu „schwächeren"

Ärzten oder erst nach längeren Wartezeiten überhaupt herein. Er

Die sozialisierte Poliklinik

Fünfundzwanzig Jahre

in einem „sozialistischen Gesundheitswesen"

Erste Fortsetzung

1576 Heft 21 vom 23. Mai 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Die sozialisierte Poliklinik

wurde eventuell auch unfreundli- cher abgefertigt. Der Arme, er wuß- te vielleicht gar nicht warum. Spä- ter wurde er dann langsam „aufge- klärt" von anderen Patienten, die das Spiel längst verstanden hatten.

Wenn man nicht mitspielte oder sich dagegenstellte, wurde man einfach von den Funktionären her- ausgesetzt und nie mehr oder nur nach langen Bußzeiten wieder auf- genommen. Zum Beispiel: Ein Funktionär wurde angezeigt von ei- nem Patienten, daß er von ihm Geld genommen für eine bessere Nummer. Anscheinend ein großer Skandal. Der Funktionär wurde so- fort abgelöst, aber er konnte sich bei seinen vorgesetzten Funktionä- ren leicht reinwaschen, und nach kurzer Zeit war er wieder zurück.

Der Patient aber, der ihn angezeigt hatte, samt seiner Familie und auch seinen Bekannten und Freun- den, wurde von diesem Tag an nur noch nach „Vorschrift" abgefertigt.

Und das war sehr schlimm. Um- sonst bat er dann später um Ent- schuldigung, versuchte auf allerlei Wegen, wieder in den Ring zurück- zukommen; der Funktionär und die mit ihm aus „wirtschaftlichen Grün- den" und Angst solidarischen an- deren Funktionäre und das Perso- nal der Poliklinik nahm so etwas nicht an. Solche Patienten wurden so hart bestraft, damit es sich her- umsprechen sollte in der Bevölke- rung, was passiert, wenn ein Funk- tionär mal einmal angezeigt wird.

Die Funktionäre verdienten gut; sie konnten sich noch ein halbes Ge- halt oder bei der Grippeepidemie manchmal auch ein ganzes Gehalt zu ihrem normalen Gehalt dazuver- dienen. In ihre Geschäfte zogen sie allmählich auch die Schwestern und Pfleger hinein und später auch einige Ärzte. Und das war so: Im allgemeinen kommen die Patienten in die Poliklinik, um etwas zu errei- chen, wie Gesundheit, Medikamen- te, Arbeitsunfähigkeitsbescheini- gung, Schonzeit, Diätattest, Rente usw. Und jetzt kommt das Ge- schäft. Man konnte dies vor- schriftsmäßig, langsam oder gar nicht erreichen. Oder man konnte

dies leichter und schneller errei- chen. Und das mit kleineren oder größeren Geldsummen, mit Ge- schenken, mit Protektion, durch

„gegenseitige Vorteile". Was heißt das? Zum Beispiel: Ein Patient will erreichen, daß er aus gesundheitli- chen Gründen nicht im November, sondern schon im August seinen Urlaub bekommt. Dazu braucht er ein ärztliches Attest. Er hat recht, er müßte das normalerweise be- kommen. Aber er weiß, daß er das in der Poliklinik nie „so einfach"

bekommen wird. Geld hat er aber keins. Er weiß aber, daß ein Funk- tionär zufällig etwas an derjenigen Stelle zu erledigen hat, wo der Pa- tient beschäftigt ist. Das zu erfah- ren und zu wissen, das ist alles.

Das Geschäft wird gemacht. Ich, der Patient, erledige deine Sache in meinem Büro, und du erledigst meine Sache in der Poliklinik.

Was sagte das Direktorium und die Führung dazu? Am Anfang wußten die nichts davon. Und später wuß- ten sie nicht wissend davon. An- fangs gab es durchaus eifrige Di- rektoren, die hart eingriffen, die er- tappte Schuldige bestraften, Bei- spiele statuierten usw. Irgendwann aber schlugen die Funktionäre ge- gen die Direktoren zurück. Das war sicher und ohne Ausnahme, und allmählich sprach es sich unter den Direktoren herum, daß es sich nicht lohnt, gegen die Funktionäre hart durchzugreifen, und daß es besser sei, wenn man Dinge intern erledigt und vertuscht. Wichtig war allerdings auch für diese Direkto- ren, sorgfältig über die Handlungen der Funktionäre Buch zu führen.

Und so entwickelte sich ein ge- genseitiges Abhängigkeitsverhältnis von Drohung und Erpressung, von gegenseitiger Deckung und allsei- tigem Geschäftemachen. Sorgen mußten allerdings auch die Direk- toren dafür, daß in der Ebene über ihnen Vorsorge gegen plötzliches Zuschlagen getroffen war.

Angst ...

Und wir Ärzte hatten Angst. Ein- fach Angst. Angst vor dem Hören, Angst vorm Sagen, Angst von oben

(Führung, Direktorium), Angst von unten (Provokateure, Patienten, Funktionäre, Schwester, Pfleger), Angst von nebenan (Kollegen), ein- fach Angst vor allem. Wir waren froh, wenn wir wieder einen Tag heil durchgekommen waren. Vor was muß der Arzt in der Poliklinik Angst haben?

Erstens, Angst vor der Versetzung.

Man hat sich langsam eingelebt, man hat sich mit seinem Arbeitsplatz bekannt gemacht, man lernt allmäh- lich die Patienten kennen. Man be- schafft sich mit schwerer Mühe und viel Geld eine Wohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes, die Kin- der gewöhnen sich an die Schule usw. Es ist auch im Interesse der Patienten, sich an einen Arzt zu ge- wöhnen und Vertrauen zu ihm zu gewinnen.

Und dann kommt eines Tages aus heiterem Himmel das Papier — die Versetzung: „Sie, Dr. Soundso, werden aus dienstlichen und aus organisatorischen Interessen nach dort und dort an die Poliklinik ver- setzt."

Es gibt verschiedenerlei Gründe für die Versetzung. So ist es eine allgemeine Sitte, daß man sich nir- gends „anwärmen" soll. Auch mit den Patienten soll man nicht zu vertraut werden. Oder: Irgendeiner möchte meine Stelle haben, der bessere Beziehungen zur Führung hat und der entsprechend bohren konnte. Oder: Ich habe nicht genü- gend oder gar keine Geschenke nach oben gegeben, oder ich wußte nicht genau, an wen ich diese Ge- schenke hätte geben sollen. Oder ich habe mich dummerweise in ir- gendein „Geschäft" beim Personal oder bei den Funktionären der Po- liklinik eingemischt. Oder: Ich habe einen sehr groben ärztlichen Feh- ler gemacht. Oder: Ich habe mich irgendwo dummerweise kritisch über die katastrophalen Zustände an den Polikliniken geäußert. Oder:

Es kommt ohnehin periodisch auch ohne Gründe alle zwei bis drei Jahre zur Reorganisierung oder Restrukturierung des Gesundheits- wesens.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 21 vom 23. Mai 1974 1577

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Die sozialisierte Poliklinik

Versetzung

als Terrorinstrument

Ein hauptsächlicher Grund der pe- riodischen Versetzungen war es aber wohl, die Ärzte immer in Angst zu halten. Zu größeren Reor- ganisierungen erscheint in der Po- liklinik eine Kommission, die etwa drei bis vier Tage lang tagt. Und das sind dann immer entscheiden- de und lebenswichtige Tage im Le- ben eines Arztes und seiner Fami- lie und seiner Angehörigen. Denn niemand ist sicher, niemand kann und darf sicher sein, überall muß Unsicherheit herrschen. Wir Ärzte liefen in diesen Tagen rum wie Verrückte. Wo tagt die Kommission und wann? Wer ist drin? Wer kann da helfen, wer kann für mich ein gutes Wort sagen? Wo finde ich ei- nen Anschluß, eine Möglichkeit, mich zu schützen? Wer nimmt Geld oder Geschenke an? Wie bin ich überhaupt im Augenblick angese- hen? Manche Ärzte hatten immer eine kleine Geldsumme gespart, um sie in diesem Falle zweckmäßig einsetzen zu können.

Die Versetzung bedeutete manch- mal katastrophale Zustände. Ich selbst bin öfters im Winter mit mei- nen zwei kleinen Kindern und Frau und Großmutter versetzt worden (die Reorganisation findet meist im Winter statt.) Bei einer größeren Reorganisierung laufen Hunderte und Tausende Ärzte im Land herum und suchen Wohnung, Heizung, Schule usw.

Manchmal war es auch gar nicht so schlecht. Manchmal war die Neugier auf die neue Stelle und die Hoffnung größer als das Heimweh nach der alten. Manchmal war man seinen alten Arbeitsplatz einfach satt.

Auch in diesem System gibt es „gute Stellen" und „schlechte Stellen" wie überall. Eine gute Stelle bedeutet eine angenehme Klientel, eine einigermaßen kolle- giale Atmosphäre, ein Ort mit gu- ten Wohnungsmöglichkeiten und Schulen und eine einigermaßen vernünftige Direktion.

Zweitens muß der Arzt Angst vor der Führung haben, sonst geht die Ar- beit in der Poliklinik nicht. Freund- schaft oder Kollegialität darf zwi- schen dem gewöhnlichen Poliklinik- arzt und der Führung der Polikli- nik nicht vorkommen, sonst wür- den nämlich die täglichen und häufig recht unsinnigen Befehle und Anordnungen vernünftigerweise nicht durchgeführt werden, aber die Führung muß darauf bestehen, daß sie auf jeden Fall durchgeführt wer- den.

Im allgemeinen hat die Poliklinik viel Personal, und jeder hat seine wichtige Stelle und seine Mission.

Wenn ich einen Bleistift oder Ra- diergummi außerplanmäßig brauch- te, mußte ich einen gut dokumen- tierten Antrag schriftlich stellen, der dann über drei bis vier Funktio- näre lief bis zum Hauptbuchhalter, und wenn der das genehmigte, dauerte es noch zwei bis drei Wo- chen, bis ich meinen gewünschten Radiergummi bekam. Wenn ich aber ein neues Stethoskop oder — noch schlimmer — einen Blut- druckmeßapparat haben wollte, dann war das fast eine Unmöglich- keit. Eine ganze Menge Fragebo- gen mußten in diesem Fall ausge- füllt werden zur Erläuterung: War- um ist der vorhandene Apparat nicht mehr gut, wer hat daran Schuld, wozu ist der neue notwen- dig? Geräte und Materialien wer- den einmal im Jahr von der Zentra- le aus verteilt. Und man bekommt von dem Gerät keineswegs immer das, was man braucht. Beziehun- gen spielen dabei natürlich auch eine große Rolle, und die nachge- ordneten Ärzte konnten nur aus- nahmsweise einmal ein Gerät be- kommen, meistens ein gebrauch- tes, das jemand anders bereits zu- rückgegeben hatte. Wenn man et- was bekommt, dann ist es nicht eine Selbstverständlichkeit, son- dern ein Zeichen des „guten Wil- lens", eine „Gabe", ein „Ge- schenk", und man muß immer sehr dankbar sein dafür.

Die größte Schwierigkeit war es, einen Arztkittel zu bekommen. Ein Arzt hat in der Poliklinik zwei Kit-

tel. Die müssen präktisch vier Jah- re halten. Sie werden zwei- bis dreimal wöchentlich zentral gewa- schen, aber durch das viele Wa- schen und die Abnutzung kommen sie langsam zur Zerfetzung und ha- ben keine Knöpfe mehr, und dann sahen wir aus wie lumpige Waisen- kinder im Waisenhaus.

Macht und Geld

Der Funktionär hat Macht über den Arzt und über das Personal. Er hält sich für das Zentrum, für den ver- längerten Arm der Zentrale. Für ihn sind Ärzte und Personal durchfüh- rende Kräfte, die man kurz und in Zucht halten muß, damit es ihnen nicht zu gut geht. Der Arzt ist für ihn ohnehin verdächtiger Feind, unverläßlich, dumm, nachlässig, bürgerlich dekadent und unmora- lisch. Er ist allerdings der Arzt, den

„wir" leider brauchen. Der Funktio- när kann dem Arzt mancherlei Schaden zufügen: Er kann sich über ihn bei der Führung beklagen, und er wird immer recht bekom- men. Oder er kann dem Arzt schlechtes Personal beigeben.

Oder er kann ihm das Personal wegnehmen und es versetzen. Er kann einen schlechten Dienstplan einteilen. Die Führung kann auch allerlei Strafen verhängen. Die mil- deste Strafe ist die offene Blama- ge; das gibt es in drei Stufen — leichte, mittlere, starke Blamage.

Dann kommt die Gehaltskürzung.

Das ist aber nicht so schmerzhaft, weil das Gehalt ohnehin nicht hoch ist. Dann kommen schwere Strafen, insbesondere die sofortige Verset- zung.

Wir Ärzte mußten uns irgendeine Deckung verschaffen, das heißt Be- ziehungen zur Führung oder zu we- nigstens einigen Personen in der Führung. Am besten ging das mit Geschenken oder mit Geld, wenn man nicht eine persönliche Bezie- hung entdeckte. Viele Personen in der Führung nahmen Geld und Ge- schenke an, erstens weil sie wuß- ten, daß sie ohnehin nicht lange in ihren Stellen aushalten würden, zweitens weil sie auch nach oben abgeben mußten. Die Schwierigkeit

1578 Heft 21 vom 23. Mai 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Die sozialisierte Poliklinik

bestand immer darin, die richtigen Personen, die das Geld nahmen, zu finden. Je höher diese Person ge- stellt war, so sicherer war auch der Schutz.

Selbstverständlich mußte das alles sehr diskret ablaufen. Man konnte so auch mit kleineren Funktionären und den Angestellten in der Ver- waltung gut auskommen. Die nah- men leichter Geschenke an und waren auch mit weniger zufrieden als die Leute oben. So konnte man sehr vieles erreichen: Ruhe, eine bessere Stelle, leichtere Arbeits- verhältnisse, Weiterbildungsmög- lichkeiten, besseres Personal, Ur- laubszeit auf Wunsch, Schutz vor allerlei Gefahren im poliklinischen Betrieb wie Gerüchte, Verleum- dungen, Denunziationen, willkür- liche Versetzungen — und bei der großen periodischen Reorganisa- tion hatte man auch einen gewis- sen Schutz, weil die jeweils neue Führung im eigenen Interesse die guten Freunde der alten Führung gern übernahm.

Die Gehälter der Ärzte sind kei- neswegs so hoch, daß man sich solchen Schutz aus dem Gehalt kaufen kann. Woher also das Geld für die Geschenke, die Einladun- gen und die Partyausgaben für Funktionäre und Führung? Es kam

— von den Patienten. Obwohl es streng verboten war, hat sich das so entwickelt:

Der Patient hat auch Angst. Nicht nur die normale Angst vor seiner Krankheit, sondern auch beispiels- weise vor dem unbekannten Arzt, dem er in der Poliklinik zugeteilt wird. Er kennt ihn nicht, er muß in der knappen Zeit, die bis zur näch- sten Versetzung bleibt, mit ihm warm werden und sehen, wie er möglichst lange mit demselben Arzt verbunden sein kann. Der Patient muß auch vor der Schwester Angst haben; sie kann ihm viel Ärger ver- ursachen oder ersparen. Haupt- sächlich aber muß sich der Patient vor den Funktionären der Poliklinik fürchten. Der Arzt und das ärztli- che Personal sind auch in diesen poliklinischen Zuständen irgendwie

moralisch und ethisch noch irgend- wie gebunden — der Funktionär nicht. Der Funktionär kann den Pa- tienten schikanieren — beim Ein- tritt, bei der Nummernausgabe, beim Zum-Fensterchen-Rennen usw. Er kann dem Patienten aber auch an seinem Arbeitsplatz scha- den, indem er beispielsweise den Arbeitgeber diskret verständigt über die „häufige Inanspruchnah- me der Poliklinik" oder „wiederhol- te Versuche, Arbeitsunfähigkeit zu erhalten" oder „unnötige Vorstel- lungen während der Arbeitszeit in der Poliklinik" usw. Er muß ja dem' Funktionär das Arbeitsverhältnis- zeugnis vorlegen, aus welchem der sofort weiß, wo der Patient be- schäftigt ist. Und wer weiß, welche Aufzeichnungen der Funktionär hinter dem kleinen Fensterchen im Halbdunkel sonst noch macht?

In die Tasche schieben

Der Patient fühlt sich also irgend- wie verpflichtet, „etwas" in seinem Interesse zu tun. Das geht weniger mit Protektionen oder Geschenken, es geht hauptsächlich nur mit Geld. Geld nimmt, wie gesagt, der Pförtner am Eingang, dann der Funktionär hinter dem Fenster, auch einige Schwestern und schließlich auch einige Ärzte. Nie- mand darf allerdings sehen, wenn der Patient jemandem Geld gibt.

Am besten steckt er das Geld un- auffällig in eine Tasche. Diese Gel- der haben übrigens im Gesund- heitswesen der verschiedenen so- zialistischen Länder auch verschie- dene Namen: Begrüßungsgeld, Dankgeld, Andenkengeld, Tarif, Taxe, Verehrungsgeld, Nebengeld, Trinkgeld usw.

Für die Ärzte bedeutete dies einen erheblichen Gewissenskampf. Man fühlte sich beschämt und be- schmutzt, wenn man kleine Geld- summen von Patienten in den Ta- schen fühlte. Wenn man allerdings das Geld zurückwies, machte man sich lächerlich und wurde zum Au- ßenseiter. Andererseits braucht der Arzt dieses Geld, um sich einen ei- genen Schutz zu verschaffen. So

hat der allgemeine Korruptions- geist in den Polikliniken (auch in den Krankenhäusern) zwangsläufig auch auf den Ärztestand überge- griffen. Allmählich wurde diese Korruption sozusagen „halbamt- lich" und ist keine Sünde mehr.

Wenn der Patient von sich selbst aus Geld anbietet, darf der Arzt es nehmen; man darf es allerdings nicht verlangen oder als Bedin- gung stellen. Natürlich gab es auch einige geldgierige Ärzte, die diese

„Halbarntlichkeit" ausnutzten und nur noch Leistung gegen Trink- geld erbrachten. Wenn diese Zu- stände zu kraß wurden, griff die Führung zu polizeilichen Maßnah- men, es kam zu Verhaftungen eini- ger Ärzte und zu Schauprozessen:

Ein Arzt wurde bestraft, um alle an- deren zu mahnen. Übrigens: Der Arzt mußte auch wissen, von wem er das Geld annimmt, denn es gab bisweilen auch Provokateure, die den Ärzten gekennzeichnete Geld- scheine mit notierten Nummern einsteckten. Und dann erschien ein Polizeioffizier, der die Taschen des Arztes durchsuchte und ihn dann in Handschellen abführte. Am si- chersten war es deshalb, daß man dem Arzt das Geld in der Wohnung des Patienten gab. Viele Hausbe- suche sind lediglich aus diesem Grunde bestellt worden.

Gemeinsame Freude ...

Im ganzen entwickelte sich so ein Circulus vitiosus, denn jeder brauchte das Geld und die Gegen- leistung, die damit verbunden war.

Dabei zeigte sich, daß das gestörte und ängstliche Verhältnis zwischen Arzt und Patienf nach solchen Ge- schäften plötzlich aufgelöst und ir- gendwie fröhlicher und vertrauter wurde, als es die manchmal fast unbedeutende, nur symbolische Summe, die vom Patienten in die Tasche des Arztes wanderte, er- warten ließ. Die gemeinsame Freu- de war viel größer als die finanziel- le Bedeutung dieser kleinen Sum- men. Gerade die Ärzte aber gerie- ten so in einen Teufelskreis von täglicher Angst.

• Wird fortgesetzt

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 21 vom 23. Mai 1974 1579

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