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Archiv "Klares Bekenntnis zu Freiheit und Selbstbestimmung im Gesundheitswesen der DDR" (31.05.1990)

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Klares Bekenntnis zu Freiheit und Selbstbestimmung im

Gesundheitswesen der DDR

Punkt I der Tagesordnung:

„Strukturreform im Gesundheitswesen"

Die von Dr. Karsten Vilmar in seinem Eröffnungsreferat, das vorstehend wiedergegeben ist, und vom Vorstand der Bundes- ärztekammer in einem Beschlußantrag formulierten Thesen zur Gestaltung des Gesundheitswesens in einem vereinigten.

Deutschland standen im Mittelpunkt der Beiatungen zum Auf- takt des 93. Deutschen Ärztetages am 15. und 16. Mai in Würz- burg. Der zweite zentrale Beratungsgegenstand des Ärzteta- ges galt der zum allgemeinpolitischen Grundsatzthema aufge- rückten „Strukturreform im Gesundheitswesen".

Sie legten den Delegierten aus der Bundesrepublik Deutschland ihre Auffassung über den Weg zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens dar, Gäste aus der DDR (v.l.n.r.): Prof.

Dr. sc. med. Walter Brandstädter (Magdeburg), Vorsitzender der Ärztekammer Sachsen-An- halt; Dr. sc. med. Ingrid Reisinger (Berlin-Ost), 2. Vorsitzende des Virchowbundes; Dr. med.

Peter Leonhardt, Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen des Hartmannbundes

D

er mit großer Mehrheit vom Ärztetag angenommene Ent- schließungsantrag des Vor- standes der Bundesärztekammer postuliert unter dem Motto „Freiheit und Selbstbestimmung auch im Ge- sundheitswesen der DDR" eine Rei- he von Essentials, die auf dem Be- schlußgut und den Grundsatzpro- grammen der demokratisch gewähl- ten (verfaßten) Ärzteschaft der Bun- desrepublik beruhen. Andererseits sind sie unter dem Eindruck der „tie- fen existentieller Krise" in allen Be- reichen des „real existierenden So- zialismus" der DDR detailliert und im Hinblick auf den bevorstehenden Einigungsprozeß aktualisiert wor- den. Dabei haben auch Repräsen- tanten der Ärzteschaft der DDR, so- weit sie bereits in Verbänden aktiv sind, mitgewirkt.

Die Entschließung zum deutsch- deutschen Einigungsprozeß und zur Gestaltung eines einheitlichen Ge- sundheitswesens in beiden Teilen Deutschlands verdeutlicht, daß der Prozeß der Konvergenz und Annä- herung nicht im „Hau-ruck-Verfah- ren" vonstatten gehen kann. Ein blo- ßes Überstülpen des bundesdeut- schen Systems auf das DDR-Ge- sundheitswesen wäre der falsche Weg. Andererseits: Bei aller Not- wendigkeit, befristete Übergangsre-

lisierten" Krankenversicherung (mit einer Rätedemokratie in sog. Ge- sundheitskonferenzen) aus. Eine Einheitskrankenkasse wäre — auch wenn sie nur als Übergangslösung dienen sollte — eine „direkte Fortset- zung der gerade gescheiterten zen- tral-diktatorischen Einheitsstruktur"

(Vilmar).

Solidarische

Kompromißbereitschaft Die Beschlüsse zur deutsch- deutschen Gesundheitspolitik postu- lieren ein Vorgehen mit Augenmaß und ein Handeln in solidarischer, kollegialer Kompromißbereitschaft und Verantwortung. Die System- und Kompatibilitätsfrage dürfe nicht irgendwelchen Ideologien als „Spiel- wiese" überlassen werden. Diese Ge- fahr sieht der Ärztetag vor allem des- halb, weil die Gesundheitsversor- gung in der Politik sonst kaum oder nur eine marginale Rolle spielt.

Wenn auch die Sozialunion und der Aufbau einer funktionierenden Gesundheitsversorgung auf dem Ge- biet der heutigen DDR nur in Etap- pen und unter großen Anstrengun- gen verwirklicht werden könnten, so sei jetzt aber bereits hüben wie drü- ben unumstritten: Langfristig kann man keine unterschiedlichen Rechts- und Versorgungssysteme nebenein- ander tolerieren.

gelungen zu installieren, dürfe das Entstehen eines Systems freiberufli- cher ambulanter Versorgung nicht behindert oder durch antiquierte, längst gescheiterte sozialistische „Er- rungenschaften" „befruchtet" wer- den, so der Tenor des Beschlusses zur DDR-Thematik.

Entschieden sprach sich der Deutsche Ärztetag gegen die Errich- tung einer wie auch immer gearteten Einheitskasse und einer nach West- SPD-Plänen aufgezogenen „regiona-

Dt. Ärztebl. 87, Heft 22, 31. Mai 1990 (39) A-1775

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Für eine Übergangszeit soll es, so lautet ein von Delegierten aus Kreisen des Marburger Bundes initi- ierter Beschluß, allerdings eine Be- standsgarantie für Krankenhäuser, Polikliniken und betriebsmedizini- sche Einrichtungen (Polikliniken, Betriebsambulatorien) in der DDR geben. Langjährig beschäftigte Ärzte sollten vor allem für den Fall einer Privatisierung medizinischer Ein- richtungen in ihren vertraglichen Rechten abgesichert werden.

Eine oppositionelle und alterna- tive Minorität der Delegierten übte bei der Beratung Kritik an den mit großer Mehrheit beschlossenen Leit- anträgen sowohl zur Strukturreform als auch zur DDR-Problematik.

Durch „Kolonisation", „Bevormun- dung", „Angliederung" und bloße

„Annexion" solle der DDR das Sy- stem der Bundesrepublik vor allem aus ökonomischen und interessen- partikularistischen Überlegungen übergestülpt werden. Einzelne Dele- gierte sprachen auch davon, die Strukturen im Gesundheitswesen der DDR, die in 40 Jahren „gewach- sen und erhaltenswert" seien, nicht zu zerstören (so der Antrag von Dr.

Hannelore Hauß-Albert, Duisburg, Prof. Dr. Gine Elsner, Bremen, Prof.

Dr. Winfried Kahlke, Hamburg, und anderen). Frau Dr. Hauß-Albert meinte, die im internationalen Ver- gleich relativ geringe Säuglings- und Kindersterblichkeit in der DDR (de- ren statistische Relevanz im Westen allerdings angezweifelt wird) seien Beweis für eine intakte Prävention und eine sorgsame Betreuung in Kinderkrippen. Auch das Betriebs- gesundheitswesen und die Betriebs- polikliniken (mit dem Recht zur Kuration nicht nur von Werktätigen, sondern auch Familienangehörigen und Dritten) seien in der DDR vor- bildlich.

Sozialistische

Einrichtungen - aus Selbsterhaltungstrieb

Diesem Argument wurde entge- gengehalten, daß der sozialistische Staat aus purem Selbsterhaltungs- trieb und unter ökonomischen Zwängen ein flächendeckendes

staatsfinanziertes System von Kin- derbetreuungseinrichtungen, von Mütter- und Fürsorgeeinrichtungen gerade deswegen installiert habe, um vor allem eine hohe Frauenerwerbs- quote sicherzustellen (49 Prozent der Frauen in der DDR sind berufs- tätig; in der stationären Gesund- heitsversorgung und in Polikliniken sogar zwei Drittel). Die Dominanz der Betriebspolikliniken und -ambu- latorien ist sicher auch eine Folge des kollektivistischen und unpersön- lichen allgemeinen Gesundheitsver- sorgungssystems und der Insuffizienz

Dr. sc. med. Heinz Diettrich, Vorsitzender der neugegründeten Ärztekammer Sachsen, empfahl Dresden als Tagungsort eines kommenden gemeinsamen Deutschen Ärz- tetages

und langen Wartezeiten in Poliklini- ken und Ambulatorien.

Dr. Vilmar äußerte sich verwun- dert darüber, daß sich bei uns viele

„ökologisch-aufgeklärte" Gesund- heitsreformer mehr um Legebatte- rien und Tierversuche kümmerten, aber nichts gegen die Indoktrination von unmündigen Kindern ebenso wie von deren Eltern und Familien etwas unternähmen. Ausgerechnet diejeni- gen hätten „Tränen vergossen", die das sozialistische System erhalten und es über den Umweg der Anglei- chung re-importieren wollten.

• Beifall erhielten drei Ärzte aus der DDR, die eine Wende zu- rück in längst gescheiterte „Reform- bewegungen" verurteilten.

• Der neugewählte Vorsitzen- de der Ärztekammer Sachsen-An- halt, Professor Dr. sc. med. Walter Brandstädter, Magdeburg, bedankte sich bei der westdeutschen Ärzte-

schaft für die tatkräftige Hilfe und die ideelle, kollegiale Unterstützung beim Aufbau eines selbstverwalteten Gesundheitssicherungssystems und bei der Gründung von eigenen Inter- essenvertretungen. Die Ärzteschaft der DDR hätte besonders darunter gelitten, daß ihr Beruf zum billigsten Dienstleistungsbereich im „Arbeiter- und Bauernstaat" herabgewürdigt worden sei. Das AiP-Gehalt in der Bundesrepublik beispielsweise ent- spräche dem Gehalt eines gestande- nen Facharztes in der DDR. In der DDR gebe es noch nicht die Ärzte- schaft; eine korporative, demokra- tisch gewählte Interessenvertretung sei erst noch zu bilden.

• Dr. med. Peter Leonhardt, Hartmannbund-Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen, wies im Namen der Mehrheit der in Würz- burg vertretenen DDR-Ärzte die Be- hauptung zurück, den DDR-Ärzten werde ein Westsystem übergestülpt.

Im Gegenteil: Dr. Leonhardt zeigte sich enttäuscht von einer Kritik an den Bemühungen von Kollegen aus der Bundesrepublik, dem Gesund- heitswesen der DDR zu helfen. Dar- in stecke soviel „Dämlichkeit", wie er sie vierzig Jahre lang in der DDR gehört habe. Die Ärzte in der DDR hätten nicht ihr Selbstvertrauen und ihre Kritikfähigkeit verloren. Wer vierzig Jahre lang unter einem ok- troyierten System gelitten habe, müs- se endlich das Recht erhalten, einen freien Beruf auszuüben.

Dr. sc. med. Ingrid Reisinger, 2.

Vorsitzende des Virchow-Bundes, Berlin (Ost), sprach sich dafür aus,

„Bewährtes in der DDR" zu erhalten und eine demokratisch legitimierte Selbstverwaltung rasch aufzubauen.

„Mischsysteme" seien in der Umstel- lungsphase durchaus denkbar. Lang- fristig könne das westdeutsche Sy- stem attraktiv für ganz Deutschland sein. Man müsse aber „behutsam, ge- meinsam vorangehen".

Prof. Dr. sc. med. Walter Brand- städter berichtete, daß sich am 10.

April die erste Kassenärztliche Ver- einigung in der DDR (die KV Sach- sen-Anhalt) konstituiert habe, die bereits am 5. Mai zu einer ersten De- legiertenversammlung zusammen- trat. Und am 7. Juli dieses Jahres wird der erste Ärztetag der Kammer A-1776 (40) Dt. Ärztebl. 87, Heft 22, 31. Mai 1990

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16 Anträge lagen zum Zeitpunkt dieser Aufnahme zum Ta- gesordnungspunkt I ,,Strukturreform im Gesundheitswesen"

vor, einschließlich der Beschlußvorla- gen zur Angleichung des Gesundheitssy- stems der heutigen DDR

Sachsen-Anhalt in Halle veranstaltet werden.

• Schon zum nächsten Deut- schen Ärztetag in Hamburg, so der Wunsch der DDR-Gäste, sollen aus allen fünf DDR-Ländern Delegierte entsandt werden. Dr. sc. med. Heinz Diettrich, Vorsitzender der Ärzte- kammer Sachsen, Dresden, empfahl Dresden als Tagungsort für einen künftigen Deutschen Ärztetag, ein Wunsch, der auch von DDR-Ge- sundheitsminister Prof. Dr. sc. med.

Jürgen Kleditzsch lebhaft gehegt wird, wie er vor dem Deutschen Ärz- tetag als Gastredner am 19. Mai un- ter dem Beifall des Plenums kundtat.

Deutliche Kritik an Fehlern

des Reformgesetzes Die Debatten zur Strukturre- form im Gesundheitswesen traten

vor dem Hintergrund der beherr- schenden deutschlandpolitischen Diskussion und der Überlegungen über die Zukunft des Arztberufes in einem vereinten Deutschland weit zurück. Dennoch ließ der Ärztetag auch hier nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Die Kritik an der Zielrichtung und am „strukturpoliti- schen Tiefgang" des Blümschen Re- formgesetzes hat auch fast einein- halb Jahre nach Inkrafttreten des SGB V nicht nachgelassen. Bei allen Mängeln und Lücken und Fehlern ging aber der Ärztetag nicht so weit, eine Revision des GRG zu beantra- gen (ein Antrag auf Rücknahme des ganzen Gesetzes wurde mit großer Mehrheit abgelehnt).

Dr. Klaus-Dieter Kossow, Achim-Uesen, Delegierter der Ärz- tekammer Niedersachsen, warf den Architekten des Blümschen Reform- gesetzes vor, sie hätten die Ursachen der Strukturverwerfungen und der

Kostenexpansion nicht an der Wur- zel abgestellt. Überhaupt vermisse er im GRG einen wirksamen Lösungs- ansatz, der auch den Paradigmen- wechsel berücksichtigt und insbeson- dere auch eine demographische Komponente beinhalte (wie sie bei- spielsweise in der 1989 verabschiede- ten Rentenreform '92 implantiert wurde). Kossow sprach sich für eine Pflichtweiterbildung auch in der All- gemeinmedizin aus. Gerade im Hin- blick auf die europäische und deutsch-deutsche Einigung müsse die Aus- und Weiterbildungsqualität an die erste Stelle der Strukturquali- tät gestellt werden. Schließlich sei der weitergebildete Hausarzt die

„Eingangsfigur" im gesamten Grundheitswesen.

In Anbetracht der nicht abseh- baren Auswirkungen der geplanten Sozialunion mit der DDR sollte die von der Bundesregierung angekün- digte Organisationsreform in der GKV derzeit keine Priorität erhalten, postulierte der Ärztetag. Vorrangig müsse die Erhaltung und Stärkung der gegliederten Krankenversiche- rung bleiben. Für gleiche Start- und Wettbewerbschancen der Kassenar- ten untereinander und mehr Wahl- freiheiten sowie die Aufhebung un- terschiedlicher Rechte von Arbei- tern und Angestellten bei der Kran- kenversicherung plädierten denn auch oppositionelle Delegierte (de- ren Forderungen allerdings zu einem Konvolut von zumeist dissonanten Elementen, entlehnt aus sozialisti- schen Gesundheitssicherungssyste- men und durchaus marktwirtschaft- lich-sozialen Elementen, zusammen- gemixt waren; die Anträge wurden allesamt vom Deutschen Ärztetag abgelehnt).

• Alle vom Deutschen Ärztetag angenommenen Entschließungen zur deutschen Einheit und zur Struk- turreform im Gesundheitswesen sind auf diesen Seiten dokumentiert. Be- sonders verwiesen sei hier auch auf die Resolutionen zur Pflegeversiche- rung, zur Verbesserung der medizi- nischen Ausbildung, zur Sicherung der geriatrischen Versorgung und zur Steigerung der Inanspruchnah- me der „Gesundheitsuntersuchun- gen" nach Maßgabe des neuen § 25 des Sozialgesetzbuches V. HC A-1778 (42) Dt. Ärztebl. 87, Heft 22, 31. Mai 1990

Referenzen

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