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Archiv "Onkologische Erkrankungen: Vom Handlungsdruck zur Begleitung in die innere Ruhe" (25.12.1995)

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MEDIZIN DIE UBERSICHT

Onkologische Erkrankungen

Vom Handlungsdruck zur

Rolf Verres Begleitung in die innere Ruhe

In der onkologischen Medizin entsteht oft ein emotionaler Handlungsdruck, der den Arzt zur „Übertherapie" verleiten kann. Ein therapeutischer Aktionismus kann der Abwehr ei- gener unangenehmer Gefühle dienen, die man meist erwar- tet, wenn man dem Patienten die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten klarzumachen versucht und dabei Angst oder

Verzweiflung aushalten muß. Einengende Denkmuster kön- nen bei Patienten und Ärzten aufgedeckt werden: sie ent- wickeln sich erst in der konkreten Arzt-Patienten-Beziehung als gemeinsame Verleugnungsstrategie. Die Überwindung erfordert eine kritische Neubesinnung von Lebensthemen wie Hoffnung, Kampfgeist, Fatalismus und Transzendenz.

E

s geht um die Frage, wie wir in der Onkologie so sensibel wie möglich herausfinden können, wann und wie man aufhören darf, das Machbare immer weiterzu- machen, und statt dessen damit an- fangen sollte, sich in der Begegnung mit Patienten auf eine behutsame Sterbebegleitung einzulassen.

Dabei ist es zunächst sinnvoll, sich die ganze mögliche Bandbreite sowohl des Handelns als auch des seelischen Empfindens klarzuma- chen.

Auf der Handlungsebene steht die maximale Aktivität dem Nicht- Handeln gegenüber, beim seelischen Empfinden können wir zwischen star- ker Emotionalität und Unruhe einer- seits und Ruhe und Gelassenheit an- dererseits unterscheiden (2, 7, 8).

Sowohl auf der Handlungsebene als auch im seelischen Empfinden gibt es viele Zwischenstufen.

Maximale Aktivität auf der Handlungsebene kann bedeuten, daß mehr getan wird, als vielleicht gut tut — dann geht die Aktivität in soge- nannte Übertherapie über.

Nicht-Handeln wird demgegenü- ber oft vorschnell gleichgesetzt mit ei- nem „Aufgeben" des Patienten.

Mit „Handlungsdruck" ist hier eine bestimmte Energiequelle ärztli- cher Aktivität gemeint, die nicht aus innerer Ruhe und Gelassenheit er- folgt, sondern etwas mit innerer Un- freiheit und vielleicht auch mit Fremdbestimmung zu tun hat.

In der Onkologie ist hier zuerst an den Erwartungsdruck seitens der

Patienten und Angehörigen zu den- ken. Die spürbare Verzweiflung und die Hoffnung dieser Patienten in die Therapie können den Arzt emotional unter Druck setzen, wodurch eine ge- wisse Entfremdung zwischen den wis- senschaftlich fundierten Vorstellun- gen des Arztes und den unter diesem Druck zustandekommenden Ent- scheidungen beginnen kann.

Dies geschieht insbesondere dann, wenn der Arzt die Hoffnungen des Patienten als unrealistisch emp- findet, aber dennoch konform mit diesen Hoffnungen des Patienten handelt, da das entsprechende Pati- entenverhalten mit flehenden Blicken und sichtbarer Verzweiflung einen starken Aufforderungscharak- ter hat.

Es ist oft schwer, sich diesem Druck zu entziehen.

Eine weitere Ursache von Hand- lungsdruck liegt in der allgemeinen ärztlichen Zeitknappheit.

Zum einen müssen Therapie- entscheidungen aufgrund der vielen weiteren Aufgaben des Arztes manchmal unter großem Zeitdruck getroffen werden, bei dem die ganze Reichweite der Entscheidungen nicht immer angemessen berücksichtigt werden kann; zum anderen meint man speziell bei Tumorerkrankun- gen oft, es dürfe keine Zeit verloren werden und man, müsse alles so Abteilung Psychotherapie und Medizinische Psychologie (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr.

med. Dipl.-Psych. Rolf Verres),Klinikum der Ru- precht-Karls-Universität Heidelberg

schnell wie möglich in Gang setzen.

Hier kann Aktion in Aktionismus umschlagen.

Loslassen

Demgegenüber hat die Möglich- keit des Nicht-Handelns nicht nur den Charakter einer Negation, sondern sie kann auf der emotionalen Ebene mit Begriffen wie Ruhe, Bedachtsam- keit, Besinnung, innerer Gelassenheit und Angemessenheit, also mit durch- aus wichtigen positiven Werten, in Verbindung gebracht werden. Es geht um Loslassen. Für den Arzt kann das bedeuten, innerlich vom Heilungsan- spruch und zu gegebener Zeit auch von einem bestimmten Patienten los- zulassen, also auch einem Patienten zu helfen, von seinen bisherigen An- sprüchen an das Leben und letztend- lich vom irdischen Leben überhaupt loszulassen.

Ein Hauptproblem in der Onko- logie ist jedoch, daß eine positive Rol- le des Arztes dann, wenn „medizi- nisch" für den Patienten nichts mehr getan werden kann, bisher wenig pla- stische Konturen hat. Auch wenn Ärzte Vorstellungen darüber haben, wie sie in einer Situation, in der medi- zinisch nichts mehr getan werden kann, sinnvoll „helfen" und „beglei- ten" könnten, so besteht doch immer noch das Problem des „Umschaltens"

von der Handlungsorientierung auf diese Ebene der Befindlichkeit oder Gelassenheit als reines Begleiten.

Aktionismus kann der Abwehr unan-

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MEDIZIN

genehmer Gefühle dienen, die man meist erwartet, wenn man dem Pati- enten die Grenzen der Möglichkeiten klarzumachen versucht und dabei die Angst oder Verzweiflung des Patien- ten erleben und aushalten muß.

Das Begleiten muß jedoch dann nicht mehr emotional unangenehm für den Arzt sein, wenn er auch selbst Angst und Verzweiflung keimt, einen Zugang dazu hat, Angst und Ver- zweiflung also nicht als Störvariablen im eigentlichen organmedizinischen Behandlungsprozeß empfindet, son- dern als ein natürliches menschliches Empfinden im Zusammenhang mit der Endlichkeit des Lebens (7, 8). In der Psychotherapie sprechen wir hier von der „Haltefunktion" des Thera- peuten. Sie zeigt sich darin, daß der Therapeut zeitweise nicht handelt, sondern Fragen stellt, um das Ver- ständnis der Situation zu vertiefen, oder einfach nur die gegenwärtigen Gefühle des Patienten ohne direkte Lösungsversuche annimmt

Dies gilt besonders bei Angst.

Das Mitteilen von Angst bedeutet im- mer auch ein Teilen und kann Erleich- terung bringen, wenn der Therapeut entweder durch sinnvolle Maßnah- men realistische neue Hoffnungen machen kann oder aber durch Zuhören und sein Dabeisein dem Pa- tienten deutlich zeigt, daß dieser mit seinen existentiellen Ängsten nicht al- lein ist.

Wenn ich gleich zu Anfang von der Bedeutung der Gefühle und des Erwartungsdrucks für das ärztliche Handeln gesprochen habe, so dürfte nun deutlich geworden sein, daß viel- leicht auch manche Therapieentschei- dungen weit weniger rational ablau- fen, als man es erwartet.

Zunächst ist ja an den „Spiel- raum" zu denken, den auszuloten un- ter Druck weit schwerer fällt als in ei- ner Grundstimmung von Gelassen- heit. In den onkologischen Lehr- büchern steht viel über die verschie- densten Behandlungsmöglichkeiten, aber fast nichts über die Abbruchkri- terien.

Therapieentscheidungen können auch unbemerkt von nicht-medizini- schen Faktoren mitbeinflußt werden (2, 5). Ist gerade ein Todesfall bei ei- ner ähnlichen Erkrankung vorgekom- men? Hat bei der Konsiliarbespre-

DIE UBERSICHT

chung der Chirurg, der Radiologe oder der Internist gerade in der Minu- te der Therapieentscheidung eine Do- minanz durch persönliche Rhetorik erreicht? Spielt auch Konkurrenz zwi- schen Ärzten eine Rolle? Erwartet der Patient eine klare Entscheidung vom Arzt („Sie sind doch der Fach- mann"), oder erwartet er Wahlmög- lichkeiten? Werden Wahlmöglichkei- ten vielleicht sogar gefordert oder aber als Ausdruck von Unsicherheit und Inkompetenz des Arztes gese- hen? Erwartet der Patient eine Repa- ratur des Körpers, damit er ihn zum Weiterleben wieder benutzen kann, oder hat bereits das Ziel gewechselt:

wenigstens soll die Lebenszeit verlän- gert werden und schließlich das Lei- den gemindert werden? Wie offen wird der Unterschied zwischen kura- tiver und palliativer Therapieinten- tion thematisiert? Signalisiert der Pa- tient eine Bereitschaft, sich mit sei- nem nahenden Ende auseinanderzu- setzen? Ist der Arzt seinerseits bereit, das Gespräch hierüber zu führen statt über die Alternative: Behandlungs- plan X versus Behandlungsplan Y?

Grenzerfahrungen

Eine wichtige Orientierungshilfe für den Arzt liegt nun darin, daß die Patientenerwartungen nicht als etwas Statisches, Unabänderliches angese- hen werden sollten, an welchem sich das ärztliche Handeln zu orientieren hat. Vielmehr gehört es zu den Aufga- ben des Kranken, sich auch seiner- seits an die beginnende letzte Lebens- phase zu adaptieren.

Ein entscheidendes ärztliches Therapieziel kann also gerade die Veränderung von Patientenhaltungen und nicht nur die Umsetzung von Pa- tientenhaltungen in Handlung sein, wie zum Beispiel beim unrealistischen Festhalten des Patienten an Hoffnung in therapeutische Maßnahmen um je- den Preis. Hierzu können sowohl bei Patienten als auch bei Ärzten be- stimmte Arten einengender Denkmu- ster aufgedeckt werden. Beispielswei- se wird in der psychoonkologischen Forschung oft unterschieden zwi- schen Kampfgeist und stoischem Ak- zeptieren der Krankheit So fanden in Großbritannien Greer, Morris und

Pettingale bei Patienten mit „fighting spirit" etwas längere Überlebensra- ten als bei Patienten mit „stoic accep- tance" (3); über ähnliche Ergebnisse berichteten Spiegel et al. von der Stanford University (6). Aus derarti- gen Befunden wird oft viel zu schnell die Schlußfolgerung gezogen, Kampf- geist müsse gefördert werden und stoisches Akzeptieren sei moralisch weniger wertvoll.

Fatalismus

Nach meiner Erfahrung können bestimmte Haltungen, die man bisher abwertend als „stoisches Akzeptie- ren" bezeichnet hat, durchaus als ein gesunder Fatalismus verstanden wer- den, nämlich als ein Sich-Fügen in das unausweichliche Schicksal, im Sinne einer Hingabebereitschaft an den Fluß des Lebens bis in das Sterben hinein.

Dieser gesunde Fatalismus ist nicht einfach als ein negativer Gegen- pol von erwünschtem Kampfgeist und üblicher Aktivität zu sehen, sondern er kann im günstigen Fall eine beson- ders reife Form einer existentiellen Lebensphilosophie in eigener Sache bedeuten. Hierüber mit Patienten zu sprechen, muß nicht grundsätzlich be- lastend sein, sondern es kann im Ge- genteil auch für den Arzt zu einer sehr bereichernden Erfahrung werden, dies schon allein unter dem Aspekt, immer wieder verschiedene Men- schen in ihrer einzigartigen Weise da- bei zu erleben, wie sie ihre Lebensphi- losophie ausdrücken und vielleicht sogar gemeinsam mit dem Arzt wei- terentwickeln. Daß man dabei natür- lich immer wieder auf Grenzen stößt, soll freilich nicht verschwiegen wer- den.

Wenn ich also mit einem Patien- ten nicht mehr über die Vor- und Nachteile dieser Behandlungsstrate- gie im Unterschied zu jener Behand- lungsstrategie diskutiere, sondern mit ihm über seine ganz persönliche Art spreche, wie er sich auf das bevorste- hende Sterben vorbereiten möchte und welche Visionen er für das hat, was nach dem Sterben kommt, so muß sich nicht unbedingt eine emo- tionale Belastung für mich ergeben, sondern es können statt dessen Emp- A-3616 (38) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 51/52, 25. Dezember 1995

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EDIZIN

findungen des Staunens, der Aner- kennung und der Dankbarkeit über- wiegen, insbesondere dann, wenn ich weiß, daß mit mir auch Pflegeperso- nen, medizinisch-technische Assisten- tinnen und Arzthelferinnen synergi- stisch zusammenwirken.

Hoffnung

Eine zentrale Rolle spielen bei all diesen Überlegungen die unter- schiedlichen Bedeutungen des Begrif- fes Hoffnung. Das Wesen der Hoff- nung kann in den verschiedensten Metaphern ausgedrückt werden (9).

Hoffnung ist „oben" und nicht „un- ten". Hoffnung ist ein Ausblick: sie kann sich auf etwas richten, kann eröffnet werden, kann verbaut oder versperrt werden. Hoffnung ist wie ein Bauwerk, sie ist gegründet, unter- mauert, unterminiert, tragfähig, zu- sammengebrochen, hinweggefegt.

Hoffnung ist zugleich wie ein nebel- haftes Gebilde: Sie ist greifbar oder nicht, nimmt Gestalt an oder verliert Gestalt, löst sich in Luft auf, ver- schwindet wie ein Luftschloß.

Hoffnung wird manchmal wie ein Besitz angesehen: sie wird geschenkt, genommen, gewonnen, verloren, ge- raubt, man kann sie festhalten, sich an sie klammern, sie fahren lassen, sie aufgeben. Hoffnung ist auch eine Be- gleiterin: sie hat eine Ähnlichkeit mit Liebe; denn sie kann kommen, und sie kann gehen. Hoffnung ist eine Kraft:

sie wird gestärkt oder geschwächt, kann etwas bewirken, gibt ihrerseits weitere Kraft.

Transzendenz

Entscheidend ist nun, für einen einzelnen Menschen möglichst reali- stisch zu erspüren, inwieweit man als Arzt die Hoffnungen im Sinne eines Resonanzphänomens aufgreifen kann oder sich von ihnen distanzieren muß. Bei genauer Betrachtung der In- halte von existentiellen Hoffnungen finden wir letztendlich bei fast jedem Menschen, daß er durchaus bereit ist, das eigene Sterben und den eigenen Tod vollständig in das eigene Leben und die eigene Lebensphilosophie zu integrieren.

DIE UBERSICHT

Die meisten Menschen haben nicht Angst vor dem Tod, sondern vor der Art des Sterbens. Es geht also bei der Hoffnung nicht grundsätzlich dar- um, immer weiter und unendlich als Mensch leben zu wollen, sondern je- dem Menschen ist völlig klar, daß sein Leben irgendwann zu Ende sein wird.

Hoffnung kann sich dann allmählich transformieren im Sinne einer Eröff- nung von Transzendenz, wobei sich die Menschen natürlich je nach Reli- gion oder Spiritualität stark unter- scheiden. Der Gegenpol zur üblichen Hoffnung im Alltagssinn (nämlich auf Weiterleben) ist also nicht die Hoff- nungs- oder Aussichtslosigkeit, son- dern die bewußte Entscheidung, sich auf das Sterben vorzubereiten. Und bei der ärztlichen Begleitung geht es darum, eine freischwebende Auf- merksamkeit für die ganze Spanne zwischen den verschiedenen Arten von Hoffnung einerseits und der Be- reitschaft zu sterben wachzuhalten, ja sogar beide seelischen Erlebniswelten gleichzeitig zuzulassen.

Ein Patienten-Brief hierzu:

„Die große Ruhe war möglich, weil in liebevoller Weise und dem Ernst der Lage entsprechend auch vom möglichen Ende gesprochen wer- den konnte, ich in beiden Welten leben konnte.

Inzwischen bin ich zum zweiten Mal (diesmal 5 Tage, im August 15 Ta- ge) in G. gewesen. Die Befunde waren bzw. sind so gut, daß Prof N. mir auf den Weg (in sechs Wochen muß ich wieder hin) mitgab: ,Sie beherrschen das Geschehen, nicht umgekehrt. Und jetzt freuen Sie sich der guten Zeit und planen nicht zugleich in die andere Richtung. Jetzt ist die Zeit der Freude.

Und sollte eine traurige Phase wieder- kommen, dann haben Sie bei uns eine Bleibe, und wir werden Ihnen nichts zumuten, was Sie in eine Lage bringen würde, in der Ihr Leben zum Existie- ren wird. Und ich verspreche Ihnen, Sie kommen nicht auf die Intensivstati- on. ' Ich zittere vor Freude und Dank!

Ola"

Daß innere Ruhe und innere Le- bendigkeit einander nicht aus- schließen, versuche ich in der medi- zinpsychologischen Lehre an der Uni- versität Heidelberg meinen Medizin- studenten unter anderem in musik- therapeutischen Selbsterfahrungs-

gruppen und Meditationsübungen er- fahrbar zu machen. Wir sind dabei, solche Selbsterfahrungsgruppen auch für Ärzte zu entwickeln. Mit großzü- giger Unterstützung des Bundesmini- steriums für Forschung und Techno- logie haben wir an den Universitäts- kliniken in Hamburg und Heidelberg auch Möglichkeiten der Musikthera- pie zur Angstlinderung und Sterbebe- gleitung in der Onkologie erforscht, wobei es auch um die Gestaltung an- gemessener Rituale geht (9).

Rituale

Es ist leider eine Armut an Ri- tualen und Formen für ein gutes Ster- ben zu beklagen. Die Phase des Ster- bens ist eine wichtige Phase des Le- bens. In früheren Zeiten, wie bei- spielsweise Aries (1) gezeigt hat, konnten Patienten demgegenüber die Tatsache, daß sie sich als einen Ster- benden betrachteten, einem mehr oder weniger großen Kreis bewußt vermitteln. Das heutige Krankenhaus läßt diese Phase oft nicht zu. Es be- herrscht das Erleben durch den uner- bittlichen, fortdauernden Kampf ge- gen die Krankheit bis zum letzten Atemzug, auch wenn alle Beteiligten längst unausgesprochen wissen, daß es sich nur noch um ein sinnentleert gewordenes Ersatz-Ritual handelt.

Burnout

Ich möchte nun noch auf ein wei- teres problematisches Denkmuster in der Medizin eingehen, durch welches ärztliche Handlungsspielräume oft eher unnötig eingeengt statt erweitert werden: ich meine den Umgang mit dem Begriff des Burnout-Syndroms, also die Erfahrung des „Ausgebrannt- seins" von Ärzten und Pflegenden in schwierigen Arbeitsbereichen wie beispielsweise der Onkologie. Kenn- zeichnend ist ein Verlust an Energie, ein Empfinden von Erschöpfung, ein allmählich reduziertes Engagement als Rückzug aus der Identifikation mit der Arbeit, ein Überdruß, eine Unzu- friedenheit bis hin zu einer negativen Einstellung des Helfers zu sich selbst, zu anderen Menschen und zum Leben ganz allgemein.

Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 51/52, 25. Dezember 1995 (39) A-3617

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MEDIZIN

In der Onkologie sind die spezifi- schen Risikofaktoren für ein Burn- out-Syndrom offensichtlich: die man- gelnde Vorhersagbarkeit, der oft quälende und tödliche Ausgang von Krebserkrankungen, die Ängste der Patienten, die Nebenwirkungen der Behandlung, Teamkonflikte beim Übergang von kurativer zu palliativer Behandlungsintention, unbewußte Aggressivität bei der Therapie als Kampf, Mitleiden bei starker Identifi- kation mit Patienten, insbesondere bei Schmerzen (4).

Bei genauerer Betrachtung von Forschungsergebnissen zum Burn- out-Syndrom kommt man allerdings zur Erkenntnis, daß es sich hier oft um ein Forschungsartefakt handelt.

Während die Dimension „Arbeitszu- friedenheit — Arbeitsunzufrieden- heit" eigentlich bipolar ist, also von sehr positiven über neutral-ambiva- lente bis zu sehr negativen Stellung- nahmen führen kann, befassen sich fast alle empirischen Studien zu ärztli- chen Belastungen, dem pathologie- orientierten medizinischen Denken entsprechend, zu einseitig mit nur ei- ner Hälfte dieser Bipolarität, nämlich nur dem sogenannten Burnout-Syn- drom. Sie vernachlässigen dann die genau so wichtige kompetenzorien- tierte andere Seite dieser Bipolarität, in der Werte wie Sinnerfüllung, Dank- barkeit oder auch nur Ernsthaftigkeit eine wichtige ausgleichende, kompen- satorische Bedeutung für die Gesamt- befindlichkeit des Arztes erlangen können. Wenn danach aber bei empi- rischen Studien zum Burnout-Syn- drom gar nicht gefragt wird, entsteht der einseitige Eindruck, die Arbeit mit Krebsbetroffenen sei im wesentli- chen nur mehr oder weniger bela- stend.

Ich möchte also dafür plädieren, das Sich-Hineinwagen in die existen- tiellen Grenzbereiche beim Übergang vom Handlungsdruck zur Begleitung in die innere Ruhe mehr unter dem Aspekt des neuartigen Spürens von Lebensenergien, Lebenskunst und Transzendenz zu betrachten statt nur unter dem Aspekt von Hoffnungslo- sigkeit, Anstrengung und desolater Negation.

Eine wichtige emotionale Kraft- quelle für den Arzt kann sogar gerade darin bestehen, sich gegen ein weite-

DIE UBERSICHT

res Durchführen therapeutischer Maßnahmen, deren Sinn eigentlich unklar geworden ist, so bewußt und konsequent wie möglich zu schützen und dabei das eigene Arztsein und die damit verbundene eigene menschli- che Reife und Potenz um so bewußter zu spüren und auch anderen Men- schen zu zeigen.

Beim Übergang von kurativer zu palliativer Therapieintention ist es al- so notwendig, neue Bewertungen zur Sinnfrage vorzunehmen. Während nämlich das Fortführen einer eigent- lich inzwischen als sinnlos erkannten Therapie, die nur noch praktiziert wird, weil man sich nicht traut, dem Patienten die Wahrheit zu sagen, auch vom Arzt zunehmend als entfrem- dend empfunden wird, also ein „Zu- viel" an Therapie wird, kann statt des- sen gerade das Aufhören als das Sinn- vollere gewertet werden.

Aufgehoben-Sein

Zur Kraftquelle für den Thera- peuten kann dann das bewußte und behutsame Neinsagen werden, wel- ches — positiv ausgedrückt — bedeutet, sich von der fassadenhaften Rolle des Heilers zu distanzieren und sich viel bescheidener als Helfer und Begleiter des Kranken zu definieren und dabei dem Kranken vorsichtig entsprechen- de Beziehungsangebote zu signalisie- ren, zum Beispiel durch kompetente Beratung statt durch Agieren. Genau dies wünschen sich die meisten Pati- enten: sie möchten sich beim Arzt aufgehoben fühlen (7).

Das Wissen des Arztes darum, daß der Patient sich zu Recht bei ihm menschlich aufgehoben fühlen und Vertrauen erleben kann, dürfte die entscheidende Kraftquelle bei der Betreuung von Krebsbetroffenen und Angehörigen sein und innere Ruhe sowohl beim Patienten als auch beim Arzt selbst fördern.

Ich möchte schließen mit einem Gedicht aus dem Buch „Mut und Gnade" von Ken Wilber (10), in wel- chem die Bedeutung des einzelnen Menschenlebens und der Transzen- denz im unendlichen Fluß des Wer- dens und Vergehens besonders tröst- lich in Worte gefaßt ist. Es kann auch für uns Ärzte entlastend sein, daß das

Aufgehobensein des einzelnen nicht nur in menschlichen Bezügen möglich ist, sondern auch in der gesamten Schöpfung.

Steht nicht an meinem Grab und weint, Ich bin hier nicht, ich schlafe nicht.

Ich bin die tausend Winde,

Das Diamantglitzern auf dem Schnee.

Ich bin der Sonnenschein auf reifem Korn,

Ich bin der sanfte Herbstregen.

Wenn ihr aufwacht in der Morgenstille,

Bin ich der schnelle Flügelschlag Stiller Vögel in kreisendem Flug.

Ich bin der Stern, sein mildes Licht in der Nacht.

Steht nicht an meinem Grab und weint, Ich bin hier nicht ....

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1995; 92: A-3615-3618 [Heft 51-52

Literatur

1. Aries P: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland. München: Hanser 1975 2. Frost M: Zwischen Handlungsdruck und

Gelassenheit. In: Strittmatter G, Hrsg. Er- gebnisse, Kontroversen, Perspektiven in der psychosozialen Onkologie. Münster:

Tosch, 1994; 89-96

3. Greer S, Morris T, Pettingale KW: Psycho- logical response to breast cancer: Effect of outcome. Lancet 1979; 13: 785-787 4. Herschbach P: Psychische Belastung von

Ärzten und Krankenpflegekräften. Wein- heim: edition medizin, 1991

5. Holland JC, Rowland JH eds.: Handbook of psychooncology. New York: Oxford Univ. Press, 1989

6. Spiegel D, Bloom JR, Kraemer HC, Gott- heil E: Effect of psychosocial treatment an survival of patients with metastatic breast cancer. Lancet 1989, 23: 888-891

7. Verres R. Krebs und Angst. Subjektive Theorien von Laien über Entstehung, Vorsorge, Früherkennung, Behandlung und die psychosozialen Folgen von Krebserkrankungen. Berlin-Heidelberg:

Springer, 1986

8. Verres R: Die Kunst zu leben — Krebsrisi- ko und Psyche. München: Piper, 1991, 3.

Aufl. 1994.

9. Verres R, Klusmann D (Hrsg.): Strahlen- de Medizin Heidelberg: vfm, 1996 (in Vorbereitung)

10. Wilber K: Mut und Gnade. München:

Scherz, 1994

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych.

Rolf Verres

Abteilung Psychotherapie und Medizinische Psychologie Ruprechts-Karls-Universität Bergheimer Straße 20 69115 Heidelberg A-3618 (40) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 51/52,25. Dezember 1995

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