Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 1326. März 2004 AA817
S E I T E E I N S
Festbeträge für Arzneimittel
Europatauglich Die derzeit eher geplagten Kran-
kenkassen hatten am 16. März Grund zu feiern. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied an diesem Tag, dass die Festsetzung von Erstattungsobergrenzen für Arznei- mittel durch die Spitzenverbände der Kassen nicht gegen europäisches Wettbewerbsrecht verstößt. Begrün- dung: Bei der Bestimmung der Fest- beträge handelten die Krankenkas- sen nicht als Unternehmen. Sie erfüll- ten vielmehr „eine ihnen durch das Gesetz auferlegte Pflicht im Rahmen der Verwaltung des deutschen Sy- stems der sozialen Sicherheit“.
Das haben die Krankenkassen immer behauptet, allein der Phar- maindustrie fehlte der Glaube. Im- merhin sparen die Kassen mit den Festbeträgen gut zwei Milliarden Euro jährlich – auf Kosten der Arz-
neimittelhersteller. Einige von ihnen klagten deshalb gegen die 1989 ein- geführten Obergrenzen für be- stimmte Arzneiwirkstoffe – mit wechselhaftem Erfolg. Ende 2002 erklärte das Bundesverfassungsge- richt das Verfahren, wonach der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen Arzneimittelgrup- pen bildet und die Kassen für diese Erstattungsobergrenzen festlegen, für verfassungsgemäß. Dagegen hat- te das Oberlandesgericht Düssel- dorf in der Festbetragsregelung ei- nen möglichen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht gesehen und dem eher wettbewerbsfreundlich geson- nenen EuGH die Klagen der Arz- neimittelhersteller vorgelegt.
Doch die Luxemburger Richter scheinen inzwischen neben der wirt- schaftlichen auch die Gemeinwohl-
Dimension des Gesundheitswesens entdeckt zu haben. Die Kassen „neh- men eine rein soziale Aufgabe wahr, die auf dem Grundsatz der Solida- rität beruht und ohne Gewinner- zielungsabsicht ausgeübt wird“, heißt es in der offiziellen Mitteilung des EuGH. Mithin sind sie keine Kartel- le, die Preisabsprachen zulasten Drit- ter treffen. Eine bittere Pille für die Pharmafirmen:Von einem schwarzen Tag für den Wettbewerb, ordnungs- widrigen Markteingriffen und will- kürlichen Preisfestsetzungen sprach folglich der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. Dage- gen können sich die Kassen gleich doppelt freuen: Der EuGH hat nicht nur „Ja“ zu den Festbeträgen gesagt.
Das Urteil schließt ein zaghaftes „Ja“
zum deutschen System der Selbstver- waltung ein. Heike Korzilius
M
ehr als 80 Prozent der Hausärz- te befürchten, dass sich die me- dizinische Versorgung in Zukunft verschlechtern wird, schreibt eine Fachzeitung. Demnächst würden 65 000 bis 100 000 Arzthelferinnen entlassen, meldet „facharzt.de“. 85 Prozent der Bundesbürger sind nach einer Studie bereit, an Präventions- und gesundheitsfördernden Maß- nahmen teilzunehmen, freut sich die Bundesgesundheitsministerin.Täglich werden uns solche Um- frageergebnisse präsentiert. Was die Bürger tatsächlich vom Gesund- heitswesen halten, bleibt trotzdem unklar und häufig widersprüchlich.
Wege und Abwege der Meinungs- forschung im Gesundheitswesen wa- ren Mitte März Thema einer Tagung des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen. Dabei kamen
auch Fachleute aus Nachbarländern zu Wort, beispielsweise aus der Schweiz, deren Gesundheitswesen in der Reformdebatte hierzulande eine wichtige Rolle spielt.
Claude Longchamp leitet das For- schungsinstitut gfs.bern, das seit 1999 jährlich für den Gesundheits- monitor Schweiz Bürger nach ihren Einstellungen zum Gesundheitswe- sen befragt. Er wies darauf hin, dass es in Sachen Umfrageergebnisse min- destens zwei große Unterschiede zwischen Deutschland und seiner Heimat gebe: Die Bundesbürger sei- en offenbar zunehmend unzufriede- ner mit der Versorgung, die Schwei- zer mit der Finanzierung ihres Ge- sundheitswesens. 2003 klagten die Eidgenossen zum zweiten Mal stär- ker über die Prämien zur Kranken- versicherung als über die Steuerbe-
lastung. Noch sind ihre Qualitätsan- forderungen hoch. Doch Long- champ berichtete, dass eine kleine Minderheit mittlerweile einen Lei- stungsabbau befürwortet, um das System bezahlbar zu halten. Noch lehnten es die Schweizer mit großer Mehrheit ab, sich für geringere Kas- senprämien in der freien Wahl von Ärzten, Spitälern oder Therapien zu beschränken, doch: „Es wächst die Bereitschaft, diese Maßnahmen je nach Ausgestaltung zu akzeptieren.“
Ein echter Meinungsumschwung hätte vermutlich andere und schnel- lere Folgen als hierzulande. Denn in der Schweiz finden – zweiter Unter- schied in Sachen Umfragen – Volks- abstimmungen statt. Auch das Bun- desgesetz über die Krankenversi- cherung wurde 1994 direkt vom Volk abgesegnet. Sabine Rieser